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Vom „Die da…“ zum „Wir hier“. Kritische Einwürfe zur gegenwärtigen politischen Kultur

Autor:Neulinger Michaela
Veröffentlichung:
Kategoriekommentar
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2016-11-27

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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„Die da oben, ja die scheffeln sich die Taschen voll. Nichts tun sie, auf unsere Kosten leben und alles kontrollieren. Keine Ahnung haben die vom Leben, hackeln nichts und wollen uns sagen, wo´s lang geht. Na wartet nur, denen zeigen wir´s!“ Es den Eliten einmal zeigen, dem Establishment eins drauf geben. Wer in den letzten Wochen und Monaten – um nicht zu sagen Jahren – mit offenen Ohren und Augen durch das Land gegangen ist, kennt sie. Die starken Sprücheklopfer (und -klopferinnen), die sich mittlerweile nicht mehr nur zu später Stunde am Stammtisch treffen – so der Klassiker, sondern an allerlei bislang unvermuteten Ecken und Orten losschimpfen. Doch genauso geht es in die andere Richtung: „Die da draußen, die haben ja keine Ahnung, ungebildet wie sie sind. Kulturbanausen sind sie, schimpfen nur auf die Intellektuellen und die Leistungsträger. Sollen mal schauen, wo sie ohne uns wären.“

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Zugegeben, ein wenig überspitzt formuliert sind diese Aussagen, doch nicht allzu sehr. Es ließe sich auch noch weiterführen. Die Alten, die schmarotzen und die Jungen, die nichts leisten – ein Schlager, der auch in der umgekehrten Variante zuhauf vernommen werden kann. Das „Sudern“ wird manchenorts zum österreichischen Kulturgut gezählt. Doch wenn das Sudern, das kurzfristig auch einmal die Seele erleichtern kann, zur bloßen Beschimpfung und Abwertung anderer wird, dann sind Grenzen überschritten. Dies gilt nochmals mehr, wenn daraus politisches Kleingeld gemacht wird und gezielt Feindschaften aufgebaut werden. Der Totalitarismus beginnt im Kleinen. Mit der Verachtung des Nächsten, der radikalen Abgrenzung vom Anderen, der Vernaderung und Beschimpfung dessen, der sich von mir – auf welche Art und Weise auch immer – unterscheidet. Sei es ein anderer Wohnort, eine andere Sozialisierung, ein anderer Beruf, eine andere Art von Bildung bis hin zu Unterschieden nach Rasse, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung usw. „Denen zeigen wir´s! Die werden sich noch anschauen!“, heißt es dann. Doch wer heute „der da“ schreit, ist vielleicht morgen selbst jener „der da“, der zum Feind erklärt wird, der weg muss.

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Bereits vor Jahrzehnten schrieb Ernst-Wolfgang Böckenförde davon, dass der säkular-liberale Rechtsstaat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Doch dieses Böckenförde-Dictum hat mindestens in Österreich keine Breitenwirkung erfahren. Demokratie in Form des säkular-liberalen Rechtsstaats ist kein bequemer Dauerzustand, der einmal erreicht auf ewig festgehalten werden kann. Sie ist ein Prozess, der immer wieder neu ausverhandelt werden muss – und darf. Darin liegt ihre große Stärke, aber auch ihr wunder Punkt. Sie kann auf neue Herausforderungen reagieren, seien es veränderte demographische Verhältnisse, wirtschaftliche Veränderungen usw. Doch diese Flexibilität wird zur Achillesferse, wenn die von Böckenförde geforderten vorstaatlichen Bedingungen nicht gegeben sind. Um eine Demokratie als Demokratie lebendig zu halten, braucht es Bürgerinnen und Bürger, die einander als Menschen wertschätzen und in ihrem Reden und Handeln über den eigenen Tellerrand hinausdenken. Neid und Überheblichkeit sind dabei äußerst schlechte Ratgeber.

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Die viel beschworene Pluralität beginnt nicht erst bei unterschiedlichen kulturellen, ethnischen oder religiösen Herkünften. Sie beginnt im Kleinen mit unseren je unterschiedlichen Familien, Berufen, Ausbildungen, Lebenswegen, dem Menschsein, das jede und jeder auf eigene Art und Weise verwirklicht. „A jeda Stand hat seine guadn und schlechtn Seitn“, heißt es im Mühlviertel. Dahinter steht eine tiefe Wertschätzung für jeden Menschen und sein Leben. Wo ist diese Wertschätzung in den gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Debatten geblieben? Wenn in US-amerikanischen Diskursen vom „White Trash“ als Bezeichnung für bestimmte Bevölkerungsgruppen die Rede ist, dann ist dies lediglich eine Ausdrucksform tiefster Verachtung. Auch in europäischen Debatten – quer durch alle Ebenen bis hinein in die Programme von politischen Parteien– ist die Verachtung heimisch geworden. Aus Gedanken werden Worte, aus Worten werden Taten…

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Die Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind zahlreich: ein radikal-kapitalistisches Wirtschaftssystem, das tötet, wie Papst Franziskus scharf kritisiert; globale Migrationsströme, die für viele unbewältigbar erscheinen; Eskalationen von Gewalt an allen Ecken und Enden; eine weiter und weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich; der Aufstieg rechtspopulistischer bis rechtsextremer Gruppierungen... Wie leicht ist es an dieser Stelle, in die apokalyptischen Warnungen einzusteigen, die Wut nicht nur herauszulassen, sondern mit ihr gegen andere Politik zu betreiben. „Denen geben wir‘s!“, heißt die scheinbare Lösung. Ein hochgefährliches Unterfangen. Rabbi Jonathan Sacks warnt nach dem Brexit-Votum, den US-Präsidentschaftswahlen und dem globalen Aufstieg extremistischer Kräfte: „…anger is a mood, not a strategy, and it can make things worse not better. Anger never solves problems, it merely inflames them“.1

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Wenn Demokratie lebendig bleiben soll, dann braucht es engagierte Bürgerinnen und Bürger, die sich den Herausforderungen ehrlich stellen ohne den Versuchungen einfacher Lösungen zu erliegen. Nicht die Beschwörung der Apokalypse und das Anstacheln der Wut führen zum Ziel, sondern ehrliche Bestandsaufnahme, aufrichtige Analyse inklusive des Eingestehens gescheiterter Politik und mutiges Handeln im Interesse eines guten Lebens für alle – heute und morgen.

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„Die da“ ist keine Lösung, sondern Teil des Problems. Sollen unsere Demokratien Zukunft haben, dann braucht es die Vision eines gemeinsamen „Wir hier“. Die Nahrung des Extremismus ist die radikalisierte Gegnerschaft zur vermeintlichen Stärkung der eigenen Macht. Das Brot der Demokratie ist die Anerkennung eines jeden Menschen in all seiner Bedrängtheit, Verletzlichkeit, Fragilität. Jonathan Sacks fordert in dem erwähnten Beitrag eine neue „Politik der Hoffnung“ als Ausweg aus der „Politik der Wut“. Vielleicht braucht es etwas noch Gewagteres – eine „Politik der Liebe“. Der wichtigste und vielleicht herausforderndste Schritt dafür liegt in der der gegenseitigen Achtung als Menschen – von Angesicht zu Angesicht, jenseits von Neid, Egoismus, Überheblichkeit. Und dann gilt es die Vision gemeinsam inhaltlich aufzufüllen, aus den verschiedensten Perspektiven an der Entfaltung des Lebens für alle zu arbeiten – heute und morgen, lokal und global...

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Gerade eine Zeit der Krise ist eine Zeit der Vision. Es möge eine inklusive Vision im Dienst am Leben aller sein.

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Anmerkungen

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    1 Sacks, Jonathan, Beyond the Politics of Anger. Abgerufen unter: http://www.rabbisacks.org/beyond-politics-anger-daily-telegraph/ (zuletzt: 22.11.2016). 

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