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Wenn du mehr brauchst… Predigt zum Semester-Eröffnungsgottesdienst
(am 3. Oktober 2016)

Autor:Niederbacher Bruno
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2016-10-13

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Viele von Ihnen kennen mich schon und wissen, dass ich Ethik unterrichte – und die anderen werden mich bald kennenlernen. In der Ethik unterscheidet man gewöhnlich zwischen Handlungen, die zu tun unsere Pflicht ist, und Handlungen, die über das, was die Pflicht gebietet, hinausgehen. So ist es unsere Pflicht, jemandem bei einem Unfall erste Hilfe zu leisten: die Rettung anzurufen, den Anweisungen zu folgen, die einem über das Handy übermittelt werden. Es ist aber nicht unsere Pflicht, den Verunfallten zu besuchen oder sogar Geld aufzubringen, damit er eine bessere Behandlung bekommt. Das wäre viel mehr als die Pflicht gebietet.

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Solche Handlungen, die über das hinausgehen, was die Pflicht verlangt, nennt man in der Ethik „supererogatorisch“ – ein etwas umständliches Wort, und Studierende haben manchmal Mühe, es sich zu merken oder auszusprechen. Aber interessant: Dieses Wort führt uns direkt zum heutigen Evangelium. Der Samariter sagt zum Wirt: „Wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme“. „Wenn du mehr brauchst“ wird in der Lateinischen Übersetzung (Vulgata) mit „[quodcumque] supererogaveris“ übersetzt – daher das Wort „supererogatorisch“. Und tatsächlich hat der Samariter viel mehr getan, als die Pflicht verlangt.

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Eine alte Deutung des Gleichnisses geht so: Der Mann, der unter die Räuber fällt, ist der Mensch selbst, die Menschheit. Sie ist unter das Böse gefallen. Der Samariter ist Jesus Christus. Er bückt sich, um der gefallenen Menschheit erste Hilfe zu leisten, die Wunden zu heilen und sie nach Hause zu tragen, ins göttliche Wirtshaus, in die Gemeinschaft mit Gott. Er tut mehr als die Pflicht gebietet. Wo wir mehr brauchen, als die Pflicht gebietet, wo wir mehr brauchen, als wir verdienen, da springt Christus ein. „Wenn du mehr brauchst…“ – in dieser Formel steckt das ganze Christentum. Die Botschaft des Christentums ist die Botschaft dieses Mehr, dieses Magis.

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Es kann unter Umständen lange dauern, dieses Mehr zu entdecken und auch zuzulassen. Ich zumindest musste es lernen und lerne es immer noch. Ich erinnere mich an Exerzitien, die ich vor vielen Jahren gemacht habe: jeden Tag vier Stunden Meditation, eine ganze Woche lang. Ich wollte gute Exerzitien machen. Aber ich kam nicht so recht hinein. Ich dachte, mit Fleiß und Anstrengung würde ich erreichen, dass ich inneren Frieden erfahre, Trost, Licht. Aber je mehr ich mich anstrengte, desto dunkler wurde es. Die Tage vergingen: erster Tag, zweiter Tag, dritter Tag … und meine Stimmung wurde zunehmend schlechter. Ich wurde wütend auf Gott und auch auf mich selbst. „Na super“, dachte ich, „anstatt Gott und mich selbst mehr zu lieben, habe ich jetzt auch noch einen Zorn auf die beiden. Ich investiere so viel Zeit, ich strenge mich an – und was ist der Lohn?“ Mit der Zeit wusste ich nicht mehr, was Glaube ist und ob ich überhaupt noch etwas glaube. Da neigte sich die Exerzitienwoche bereits ihrem Ende zu, und ich dachte: „Jetzt ist es vorbei, und nichts Gescheites ist herausgekommen. Ich hab’s vertan.“ Aber das war die Wende. Als ich aufgab und mich nicht mehr anstrengte, ging es bergauf. Ich lernte etwas Wichtiges: Es geht hier um etwas, das man nicht machen, nicht verdienen, nicht er-leisten kann; etwas, das man sich nur schenken lassen kann. Es geht um Liebe. Davon brauchen wir mehr, als wir verdienen, weil man sie überhaupt nicht verdienen kann. Sie ist dieses Plus an Zuwendung, das man „Gnade“ nennt.

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Je länger ich auf dem geistlichen Weg bin, desto mehr habe ich den Eindruck: Es kommt in der Beziehung zu Gott nicht zuerst auf meine Aktivität an, mein Machen, meine Leistung. Es kommt zuerst auf das Zulassen an. Der Herr sagt: „Lass geschehen! Lass dich versöhnen! Lass dich erlösen! Empfange das Reich Gottes wie ein Kind! Lass dich beschenken! Lass dich verwandeln! Lass dich lieben! Nimm hin und empfange!“ Lassen wir uns von Jesus, dem Samariter heilen, dann werden auch wir fähig werden, barmherzige Samariter zu sein.

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Liebe Studierende, ich bin sicher, auch Sie wurden in der einen oder anderen Weise von diesem Mehr, diesem Magis, diesem Plus der Zuwendung Gottes berührt, sonst wären Sie heute nicht hier. Ich freue mich sehr, dass Sie da sind; dass sie gekommen sind, es besser kennenzulernen und zu verstehen: das Evangelium von der Gnade des Herrn.

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