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Selig, die gelebt bevor sie starben. Predigt zum Fest Allerheiligen
(Gehalten in der Jesuitenkirche am 1. November 2015 um 11.00 und 18.00 Uhr)

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2015-11-09

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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“Merke dir, dass es sich immer zu leben lohnt, wenn man einen Wunsch vor Augen hat wie ein Esel eine Karotte.” Mit diesen Worten wiegte die Mutter ihren 10-jährigen Sohn in den Schlaf. Ununterbrochen liebkoste sie ihn, suchte in seinem Herz das Vertrauen zu wecken, dass letztlich diese sprichwörtliche Karotte vor Augen auch oder gerade dem menschlichen Esel die Kraft gibt, morgens aufzustehen, ja dass nur der Wunsch, den man vor Augen hat, das Leben lebenswert macht. Er hilft ja, die Sackgassen doch zu sprengen und die Brüche zu heilen. In der Früh war die Mutter nicht mehr da. Der 10-jährige Enaiat war nun auf sich allein gestellt, auf sich und auf die Karotte vor seinen Augen angewiesen, auf seinen Wunsch, der ja auch der Wunsch seiner Mutter war. Sie hat ihren Sohn aus Afghanistan herausgeschmuggelt. Über die grüne Grenze brachte sie ihn nach Pakistan und kehrte nach Afghanistan zu ihren anderen Kindern zurück. Am Morgen aufgewacht sucht der Kleine nach dem vertrauten Körper der Mutter, doch seine Hand greift ins Leere. “Mama!” - schreit er, doch niemand antwortet. Der Herbergsbesitzer klärt den Jungen auf. Er solle ihm von seiner Mutter nur den Wunsch: “Lebe wohl!” ausrichten und ihm auch noch einmal einschärfen, dass er niemals vergessen darf, was sie ihm am Abend erzählt hat, was er ihr auch versprochen hat. Die sprichwörtliche Karotte vor Augen schlägt sich der Junge von Pakistan, über Iran, Türkei und Griechenland nach Italien durch. Acht Jahre dauert seine Flucht. Mit Gelegenheitsjobs hält er sich übers Wasser, abgeschoben, versucht er noch einmal. Hunger, Durst und lebensbedrohende Situationen, Zäune und Barrieren vermögen nämlich die Karotte vor seinen Augen nicht zu beseitigen: den Wunsch in ein Land zu kommen, das genauso schön ist wie seine Heimat, wo aber sein Leben nicht gefährdet ist. Dabei ist er bei seiner Reise paradoxerweise tagtäglich und dies jahrelang der realen Möglichkeit des Lebensverlustes ausgesetzt. Und doch übersteht er verhältnismäßig unbeschadet seine lebensgefährliche Odyssee, weil ihm der Wunsch, den er vor Augen hat, weil die Sehnsucht nach dem gelobten Land, weil ihm diese Karotte sein karges Leben tagtäglich lebenswert erscheinen lässt und ihn, den minderjährigen Flüchtling realitätstauglich macht. Acht Jare dauert seine Flucht; nach acht Jahren kann er endlich von Turin aus seine Mutter anrufen. Nach acht Jahren sprechen die beiden das erste Mal wieder miteinander. “Mama!”, sagte Enaiat und er hörte nur einen Seufzer; die tränennassen Seufzer waren alles, was sich Mutter und Sohn nach so langer Zeit sagen konnten.

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Liebe Schwestern und Brüder! Der Roman: “Im Meer schwimmen die Krokodile” erzählt authentische Geschichte der Flucht eines Kindes, das eigentlich nur eines in seinem Gepäck hat: diese sprichwörtliche Karotte, den Wunsch vor Augen, einen Wunsch, der erst mit der Zeit deutlichere Konturen annimmt: zum Wunsch der Begegnung wird. Der Begegnung mit einem anderen, mit einem älteren Jungen, der aus seinem Heimatort stammt, der schon vor Jahren flüchtete und nun irgendwo in Italien lebt. Nach acht Jahren findet er ihn, ruft ihn von Rom aus: “Was hast du jetzt vor?”, fragte ihn Payan. “Keine Ahnung”, antwortete Enaiat. “Na, dann komm doch nach Turin”, lautete die Frohbotschaft, man möchte fast sagen, lautete das Evangelium desjenigen, der zum Inkarnation der Wünsche des minderjährigen Flüchtlings wurde. Warum diese Geschichte am Allerheiligentag, an jenem Fest, das gleichsam im Doppelpack mit dem Allerseelentag gefeiert wird?

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“Ich sah eine große Schar aus allen Nationen, Völkern und Sprache, niemand konnte sie zählen. Und wer sind diese?”, lautete die Frage. “Es sind jene, die aus der großen Bedrängnis kommen”, war die Antwort (vgl. Offb 7,9.13-14). Die liturgische Lesung des Allerheiligentages präsentiert uns und dies in aller Deutlichkeit so etwas wie unsere himmlische Karotte, das Ziel der Christenmenschen, ein Ziel in dem sich all unsere Wünsche bündeln müssten, die vielen kleinen Vorhaben etwa, die uns allen, die wir ja letztlich solch menschliche Esel sind, die Kraft geben morgens aufzustehen. Das Bild der Gemeinschaft der Heiligen im Himmel steht ja für den Wunsch nach einer Gemeinschaft, die wir alle ersehnen und zu der wir alle unterwegs sind: wir alle, die wir auch aus der großen Bedrängnis kommen, weil auch wir des Öfteren nicht mehr ein und aus wissen, weil uns oft die Luft ausgeht, weil uns das Alter oder Krankheiten zusetzen, weil wir gerade den Arbeitsplatz verloren haben und nun abzustürzen drohen in die Depression, weil wir sitzengelassen wurden vom Lebenspartner oder auch verlassen von Kindern. Wir alle sind ja unterwegs zu der großen Schar der Heiligen: wir, die wir trauern, hungern und dürsten nach Gerechtigkeit (vgl. Mt 5,1-12a). Das Bild der Gemeinschaft der Heiligen im Himmel bündelt all jene kleinen Wünsche, die wir alle vor Augen haben und die unser Leben erst recht lebenswert machen.

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Studierte Theologen haben diese himmlische Karotte auf einen schönen Namen getauft: Fruitio - Genuss. Es ist ein Genuss, der unsere profundior et universalior appetitio, unseren tiefen und  scheinbar keine Grenzen kennenden Appetit nicht nur befriedigt, ein Genuss, der unser menschliches Verlangen nicht nur stillt, sondern auch unser aller Leben erst zur vollen Entfaltung bringt. Das pralle Leben steht uns allen ja noch bevor: als Leben in der Liebe des dreifaltigen Gottes und auch als Leben der himmlischen Gemeinschaft der Heiligen. Wie der kleine Anaiat während seiner lebensbedrohenden Flucht die Kraft zum Leben aus der Erwartung des Lebens in der kommenden Welt, in der Welt zu der er unterwegs war, wie er seine Kraft daraus schöpfte, so müssten die Christen ihre Kraft und dies ihr Leben lang aus der Erwartung des ewigen Lebens schöpfen. Denn die Botschaft des Allerheiligentages lautet: Selig sind jene, die aus einer solchen Logik leben können. Von ihnen wird man einstmals sagen: Selig, die gelebt, bevor sie starben.

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Liebe Schwestern und Brüder! Feuerbach, Marx und Lenin haben sich gründlich geirrt, wenn sie die Hoffnung des Himmels zur bloßen Projektion, oder zum betäubenden Opium der Armen, oder Opium für die Arme degradiert haben und deswegen das Jenseits dem Generalverdacht ausgesetzt haben und so die himmlische Karotte kulturell beseitigt haben. Die Mutter des kleinen Anaiat verstand von der Eigenart der menschlichen Seele und ihrer Dynamik mehr als all die religionskritischen Philosophen zusammen, wenn sie ihrem Sohn, den sie ja liebte, den sie aber verlassen musste, wenn sie diesem Sohn nicht die Lebensqualität des Augenblicks, nicht das gerade erfahrene Sich Wohlfühlen und Wohlbefinden als Garanten der Lebensbejahung und der Realitätstauglichkeit präsentierte, sondern den Wunsch, den man sein Leben lang so vor Augen haben muss, wie der Esel seine Karotte. Unsere Konsumkultur, so atemberaubend sie auch sein mag, entpuppt sich letztendes als atemraubend, als lebenszerstörend, weil sie die augenblickliche fruitio, weil sie den Genuss des Augenblicks zum alleinigen Ausweis der Lebensqualität erklärt. Sie stürzt uns alle deswegen in den Genussstress, diejenigen aber, die nicht mehr genussfähig, weil nicht mehr jung, nicht mehr potent, nicht mehr up-to-date sind bloß dem Ressentiment auf die Jungen und Lebensfrohen ausliefert. Den Alten aber, den Gebrechlichen, den unheilbar Schwerstkranken zunehmend gar - der fehlenden Lebensqualität wegen - das Lebensrecht bestreitet.

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Merke dir, dass es sich immer zu leben lohnt, wenn man den Wunsch vor Augen hat, sagte die Mutter zu ihrem Sohn und sagt uns heute auch die Mutter Kirche. Wenn sie uns das Bild der Gemeinschaft der Heiligen als unser Ziel vor Augen führt und uns damit auch unsere Wünsche stückweise plastischer werden lässt. Wenn sie uns unsere Verwandte und Freunde drüben in Erinnerung ruft, jene also, die so wie wir lebten, die aber das pralle Leben schon jetzt genießen und auch auf uns warten. Mit dem Wunsch dorthin einmal zu gelangen, sind wir Christen unterwegs, halten uns mit besseren oder schlechteren “Gelegenheitsjobs” übers Wasser, bewohnen bessere oder schlechtere Herbergen, sind Krankheiten ausgesetzt, erleben atemberaubende Freuden. Mit der himmlischen Karotte vor Augen werden wir ja erst recht realitätstauglich und dies in guten und in schlechten Tagen, in Gesundheit und Krankheit, und auch in der Stunde des Sterbens: gerade dann, wenn wir selber und alle anderen uns sagen, dass unsere Flucht zu Ende ist, unsere Karotte aber doch anders programmiert zu sein scheint. Mit dem Wunsch, das pralle Leben erst empfangen zu dürfen vor Augen wird gerade der Sterbende realitätstauglich in der Stunde seines Todes.

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“Was willst du jetzt tun?”, fragte Payan unseren Enaiat am Telefon als seine Flucht zu Ende war. “Keine Ahnung!”, antwortete Enaiat. “Na, dann komm doch nach Turin”, lautete die Frohbotschaft. Liebe Schwestern und Brüder, bei unserem Enaiat bekam seine Karotte vor Augen, sein Wunsch erst im letzten Abschnitt seiner Reise deutliche Konturen und wurde zum Wunsch der Begegnung mit dem Jungen aus seinem Heimatdorf, der schon einige Jahre im “gelobten Land” Italien lebte. Ist es bei uns anders? Je älter wir werden, je näher wir dem letzten Abschnitt unserer Lebensreise kommen, umso konkreter wird auch unsere persönliche himmlische Karotte. Der Wunsch des Wiedersehens mit dem Menschen, mit dem wir gelebt haben, der aber schon früher von hier weggegangen ist, dieser Wunsch wird immer mehr zum Garant der Lebensqualität vor allem von alten, gebrechlichen und im Grunde doch einsamen Menschen. Wie der Enaiat “rufen” wir drüben an, wenn wir beten, wenn wir das Grab aufsuchen, wenn wir Eucharistie feiern. Wie Enaiat “rufen” wir unsere Freunde im Himmel an, wie Enaiat werden wir gefragt: “Was hast du vor?” Die Heiligen, jene die weggegangen sind, hören geduldig zu, unterstützen uns durch ihr Gebet. Damit wir gerade in schwersten Stunden unseres Alltag realitätstauglich bleiben. In der Stunde des Todes aber, wo wir auf die Frage, was wir nun tun werden, nur antworten können: “Keine Ahnung”, bekommen wir die Aufforderung zu hören: “Na, dann komm doch zu uns, zu unserer Gemeinschaft der Heiligen!” Mit dem Wunsch dorthin zu gelangen werden auch wir, die wir ja bloß menschliche Esel sind, die Grenze des Todes überschreiten und das pralle Leben zu leben beginnen.

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Liebe Schwestern und Brüder, selig sind wir, wenn wir aus dieser Logik leben können. Leben, bevor wir sterben.

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