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Der erste nach Dylan

Über die Reaktionen auf den diesjährigen Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro. Von Veronika Schuchter

 

Wir schreiben das Jahr 1 n. Bob Dylan. – Die literarische Gemeinde bangt ob der anstehenden Nobelpreisverleihung. Einen blasphemischen Eklat wie letztes Jahr hofft man tunlichst zu vermeiden. Endlich betritt Hohepriesterin Sara Danius die Szenerie und siehe da, es ward geboren ein neuer Gott am literarischen Firmament. Der war zwar schon vorher da, aber jetzt strahlt er umso mehr und ketzerische Ignoranz ist von ihm auch nicht zu erwarten. „Freudige Erleichterung“[1] ortet folglich Manfred Papst in der Neuen Zürcher Zeitung. Es wirkt tatsächlich wie ein Aufatmen der KulturjournalistInnen, für die der Nobelpreis ein Stück weit als Wappenschild fungiert, das helfen soll, den Stellenwert der Literatur in der Gesellschaft zu verteidigen, in Erinnerung zu rufen und zu legitimieren. Die Auszeichnung Bob Dylans hat zwar erfreulicherweise eine lebhafte Diskussion über die Ausweitung eines als zu starr empfundenen Literaturbegriffs geführt, sich selbst hat das Komitee aber einen Bärendienst erwiesen.[2] In Erinnerung bleiben wird das Jahr 2016 als jenes, in dem Dylan das Nobelpreiskomitee düpierte und damit alle, für die dieser in der gesellschaftlichen Wahrnehmung wichtigste Literaturpreis noch immer den heiligen Gral des Literaturbetriebs darstellt. „Die untadelige Entscheidung ist das Resultat jener Sorte von Urteilsbegründungen der Floskelfreunde aus Schweden, mit denen vermutlich nicht einmal die Nobel-Champions selbst viel anzufangen wissen“ schreibt Wolfgang Paterno im Profil. Die Reaktionen dieses Jahres bleiben verhalten, jedoch durchwegs positiv. Dass man der Schwedischen Akademie, vor allem im heimatlichen Schweden, vorwerfe, „die Literatur einem Pakt mit dem Populären zu opfern“[3], wie Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung behauptet, lässt sich für das deutschsprachige Feuilleton nicht bestätigen. Ishiguro erscheint vielmehr als ein Konsenskandidat, auf den sich alle einigen können.

Nicht nur eine „gute“, eine „korrekte“ Entscheidung nennt Gerrit Bartels die Wahl Ishiguros,[4] als handle es sich dabei nicht um eine Geschmacksentscheidung, sondern um eine Rechenaufgabe. Das Lob bezieht sich nicht nur auf die Preiswürdigkeit des Autors, sondern immer auch auf die Urteilsfähigkeit der Akademie. Nichts weniger als ihre Reputation stand diesmal zur Disposition, um die letztjährige Demütigung zu überwinden. Susanne Mayer, ausgewiesene Ishiguro-Kennerin, nahm Sara Danius und die Akademie in der Zeit in Schutz: „Sie ist nach 200 Jahren die erste Frau an der Spitze dieses Gremiums aus Literaturmenschen, die sich jedes Jahr kollektiv ohrfeigen lassen müssen von Menschen, die sich auch für Literaturexperten halten, also die besseren, für ihre Entscheidung für einen der abertausenden wundervollen Autoren dieser Welt.“[5] Immerhin, das große Ohrfeigen bleibt dieses Mal aus, was fast ein wenig enttäuschend ist, nicht wegen der Ohrfeigen, sondern wegen der ausbleibenden Diskussion. Der 62-jhrige Brite bietet keine Angriffsfläche, wie auch Martin Ebel im Tages-Anzeiger analysiert: „Kazuo Ishiguro ist weltweit präsent, international anschlussfähig und selbst ein bewusster Vertreter einer Literatur, die ein globales Publikum anvisiert.“ Das Diktum, die Popularität bei einer breiten Leserschaft wäre ein Ausschlusskriterium für den Nobelpreis, erweist sich damit als Fiktion. Die Hochkultur gegen das Populäre ausspielen zu wollen, wie es Johanna Roth in der taz macht, die vermutet, dass „hoch oben in den Elfenbeintürmen der literarischen Hochkultur jetzt mal wieder die Nase gerümpft werden wird“[6], bleibt damit ein Manöver der Selbststilisierung. Keine einzige gerümpfte Nase weit und breit, außer ausgerechnet in den Zeitungen, die der linken Politsphäre zugerechnet werden, im Falter und in der taz, in der Arno Frank Ishiguros Roman Der begrabene Riese auf eine Stufe mit dem Trivialwälzer Die Nebel von Avalon stellt, sich über Ishiguros Ausflug in die phantastische Literatur inklusive Kobolde mokiert und ihn mit einem „klassische[n] Komponist[en]“ vergleicht, der sich „aus purer Spielfreude am Schlager versucht.“[7] Snobistisch gibt sich auch Christoph Bartmann im Falter, der einen „Nobelpreis für ‚Downton Abbey‘“[8] reklamiert und Ishiguro vor allem wegen seiner Höflichkeit ausgezeichnet sieht. Doch ansonsten weit und breit einträgliche Freunde, von Denis Scheck, für den die „schwedische Akademie […] mit dieser Entscheidung ihr Brett vor dem Kopf in ein Fenster zur Welt verwandelt“[9], über Volker Weidermann und Elke Heidenreich. Nicht mal auf Twitter wurde großartig getrollt. Hatten sich letztes Jahr die sozialen Medien noch überschlagen (PolitikerInnen, SportlerInnen, SchauspielerInnen, alle hatten sie was zu sagen, was indes wenig mit Literatur und viel mit nostalgischem Musikgeschmack zu tun hatte) blieben diesmal interessanterweise sogar die sonst üblichen Gratulationen von SchriftstellerkollegInnen größtenteils aus, zumindest im deutschsprachigen Feuilleton. Das mag daran liegen, dass schreibende Kollegen und Kolleginnen sich meistens äußern, wenn sie sich in geistige Nähe wähnen und eine gemeinsame literarische Traditionslinie bekunden möchten. Dazu eignet sich Ishiguro zumindest im deutschsprachigen Raum offenbar nicht. Sein Werk erscheint auch zu divergent und fluktuierend, um große Gemeinsamkeiten zelebrieren zu können. Die Absenz politischer oder gattungstheoretischer Störfaktoren erweist sich gleichzeitig als Chance, da diesmal tatsächlich das Werk in den Mittelpunkt rückt, und eine ganze Reihe Artikel erschienen sind, die das relative schmale Werk Ishiguros vorstellen und tatsächlich Lust aufs Lesen machen, zum Beispiel Angela Schaders Beitrag in der Neuen Zürcher Zeitung,[10] in dem sie einen Überblick über alle Texte gibt und gleichzeitig den Werkcharakter herausarbeitet, ohne dass man wie so oft das Gefühl hat, der Autor oder die Autorin hat sich in aller Eile über ein literarisch weniger einschlägiges Online-Lexikon informiert.


Zur Rezeption Ishiguros

Die Anschlussfähigkeit des Nobelpreislaureaten zeichnet sich schon in der Rezeption seines ersten Romans A Pale View of Hills (Damals in Nagasaki) von 1982 ab, der etwa in der FAZ schon großes Lob erfährt,[11] aber noch ein Geheimtipp bleibt. Schon mehr Aufsehen erregte An Artist oft he Floating World, der große Durchbruch im deutschsprachigen Raum, sowohl in der Kritik als auch bei den Verkaufszahlen, gelang mit The Remains oft he Day, der 1990 in der deutschen Übersetzung erschien und den Booker-Preis gewann. Für Susanne Mayer gehörte Ishiguro damit schon 1990 „zum Eindrucksvollsten der neuen englischen Literatur“[12]. Verrisse bleiben absolute Ausnahme, immerhin, nach langer Suche, findet zumindest Renate Schostack in der FAZ den „Butler-Popanz“ Was vom Tage übrig blieb „schon auf den ersten Seiten unerträglich“[13]. Der durchgängig positive Tenor der Kritik ist einigermaßen verwunderlich, geht Ishiguro doch durchaus Experimente ein, versucht sich an unterschiedlichsten Genres wie Krimi, Science-Fiction und Fantasy und scheut nicht vor kontroversiellen und unangenehmen Themen zurück. Wenn ein Autor über Jahrzehnte hinweg so gar keine negative Kritik hervorruft, liegt es nahe, ein gefälliges Werk zu vermuten. Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Es stimmt, dass Ishiguro weder ein bewusst provokanter noch ein ästhetisch herausfordernder Autor ist. Dass er gegenwärtig das schönste Englisch schreibe, woran man das auch immer festmachen möchte, bleibt in kaum einem Artikel zum Nobelpreisgewinn unerwähnt. Dass Ishiguro allerdings ein unpolitischer Autor sei, das kann wirklich nur jemand behaupten, dessen Politikbegriff hinter den Pforten des Westminsterpalastes beginnt. Die Konstante in seinem Werk ist die intensive Auseinandersetzung mit Erinnerungspolitiken, umgelegt etwa auf die gerne unter den Teppich gekehrten britischen Verquickungen mit dem deutschen Faschismus oder den Traumata nach der nuklearen Katastrophe in Japan. Gefällig ist diese Literatur nur, wenn man das Grauen zwischen den Zeilen überliest und sich von den Ich-ErzählerInnen einlullen lässt, mit denen Ishiguro mit Vorliebe operiert. Das Kafkaeske an Ishiguros Werk hob 1996 schon Erhard Schütz hervor, auch wenn er anders als die Akademie eine „Kreuzung“ mit Buñuel sieht und nicht mit Jane Austen.[14] Zwei Spannungsfelder zeichnen sich in der Rezeption von Ishiguros Werk ab: Das eine ist geprägt von kulturellen und nationalen Zuordnungsschwierigkeiten, die einen breiten, zum Teil unverhältnismäßigen Raum einnehmen, als müsse man mit Prozentzahlen abstecken können, wieviel Anteil Japan zugerechnet werden kann und wieviel Großbritannien. Das zweite Spannungsfeld ist ein spezifisch deutschsprachiges, nämlich jenes von Hochkultur und Unterhaltungsliteratur.[15] So sehr sich Ishiguro auch selbst als britischen Schriftsteller sieht, bis heute dauern die Versuche an, das spezifisch Japanische in seiner Literatur zu verorten, worauf der Autor selbst amüsiert bis genervt reagiert: „I feel that I’m very much of the Western tradition. And I’m quite amused when reviewers make a lot of my being Japanese and try to mention the two or three authors they’ve vaguely heard of.“[16] Wahrscheinlich hätte ihn die Interpretation der Butler-Figur in The Remains of the day von Peter Münder 1990 in der Neuen Zürcher Zeitung ebenfalls amüsiert. Einen „typisch japanische[n]“ Roman sieht er darin: „Schliesslich ist dieser sich bis zur Selbstaufgabe für seinen Herrn aufopfernde Butler Stevens ein Samurai des Herrensalons, der vielleicht nichts vom Kampf mit dem Schwert oder von der hohen Kunst des seppuro oder Harakiri wissen mag; der dafür aber um so [sic] geschickter den Portwein serviert und das Silber seiner verehrten Lordschaft auf Hochglanz poliert, um so zu den hehren historischen Ereignissen, die sein Herr und Meister ins Rollen brachte, seinen Teil – möglichst würdevoll, versteht sich – beisteuern zu können.“[17] Der Butler ist ein Samurai, der ruhige Erzählstil sei typisch japanisch, „die Romansprache Ishiguros“ ist „von einer spannungsvollen Verhaltenheit, die unwillkürlich an die klassischen Kunstwerke Japans und die traditionelle Künstlerdisziplin in diesem Lande denken lässt“[18]. Übliche literarische Techniken werden plötzlich unausweichlich ethnisch und kulturell verortet: „Ishiguro schildert das auf sehr japanische Art. Nichts wird direkt angesprochen, man wahrt Diskretion. So verlieren die Protagonisten nicht ihr ‚Gesicht‘, während sich für den Leser aus den Mosaiksteinen dieser Andeutungen langsam ein Bild zusammenfügt.“[19] Natürlich ist es unbestritten, dass die Herkunft, in diesem Fall mehr der Eltern als seine eigene, die Sozialisation prägt und sich im Schreiben niederschlagen kann. Doch Leerstellen sind Leerstellen sind Leerstellen. Die eingeschränkten und von Stereotypen geprägten Kenntnisse der japanischen Kultur werden über Ishiguro und sein Werk gegossen, Samurai und Harakiri in Endlosschleife.

Die Einordnung zwischen Hoch- und Unterhaltungsliteratur zieht sich ebenfalls als roter Faden durch die Rezeption. Ishiguro wird als ernstzunehmender Schriftsteller behandelt, gleichzeitig findet man ihn in der Rubrik „Unterhaltungsliteratur“, in Krimikolumnen und Sammelbesprechungen für leichte Urlaubslektüre. In diese Kategorie fallen laut Kritik vor allem seine Romane The Unconsoled (1995) und When We Were Orphans (2000), was bei ersterem eher unverständlich ist, da die surreale, kafkaeske Anlage den Roman zu einem der unzugänglicheren in Ishiguros Werk macht. In eine neue Schaffensphase aus Sicht der Kritik tritt Ishiguro mit Never let me go ein. Mit dem dystopischen Roman über ein Internat, in dem Klone als Organspender aufgezogen werden, trifft er 2005 gesellschaftspolitisch einen Nerv und kann sich über ungeteilte Begeisterung der Kritikerzunft freuen. Ein Meisterwerk, ist man sich einig. Auch der aktuellste Roman The Buried Giant (2015) bekommt viel Lob und vor allem zeigt sich eines: Ishiguros Texte werden als Werk wahrgenommen, ein literarischer Ritterschlag (in Ermangelung eines selbigen für Samurai). „weniger Fantasy-Roman als das: ein echter Ishiguro“[20] findet etwa Regina Stölzl im Neuen Deutschland und auch sonst wird herausgearbeitet, was diesen Text zu einem „Ishiguro“ macht.

 

Einordnung

Als Überraschungssieger wurde Kazuo Ishiguro in den meisten Reaktionen bezeichnet, überraschend war aber einzig die Person, die es dann schlussendlich traf, nicht jedoch die Art von Literatur, die damit ausgezeichnet wurde. Dass nach Alexijewitsch und Dylan ein einem traditionelleren Literaturbegriff verpflichteter Erzähler nachfolgen würde, war vorauszusehen. Auffällig ist, dass die Entscheidungen der Akademie im Feuilleton als politischer Diskurs diskutiert werden, stärker noch als die ästhetische Komponente, die deutlich weniger bedeutsam erscheint. War Bob Dylan ein Statement gegen Trump? Swetlana Alexijewitsch eines gegen Putin? Davor bleibt auch Ishiguro nicht gefeit: ein japanisches Migrantenkind in Großbritannien? Na klar, Anti-Brexit! So fragt etwa Barbara Möller in der Welt, ob „die Auszeichnung auch ein Brexit-Kommentar” sei, während Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung einen „Sieg gegen die alte Britishness“[21], verkündet und den in voller Blüte stehenden britischen Nationalismus geißelt, nach dem Motto: Wer für den Brexit gestimmt hat, der darf sich jetzt auch nicht über den Nobelpreis für einen Migrantensohn freuen. „Nach langen Jahren des Proporzhandelns scheint das „Diversity“-Denken noch keinen Vorrang vor der Qualität gewonnen zu haben“ freut sich Sabine Kinner in der Frankfurter Neuen Presse über Ishiguro, gerade so, als ließe sich Diversity und Qualität nicht vereinen und als wäre eine Entscheidung zum Beispiel für den hochgehandelten kenianischen Schriftsteller Ngũgĩ wa Thiong’o eine weniger literarische. Die Spekulationen vor der Verkündigung sind zwar amüsant, allerdings zeigen sie auf Dauer wenig Kreativität. Man würde ja schon gerne Mäuschen spielen bei dem Prozess, wie der Laureat tatsächlich zustande kommt. Den gängigen Spekulationen und Wettquoten zufolge müsste das ungefähr so aussehen:

„Die USA sind jetzt erst mal zufriedengestellt.“

„Egal welches Land, nur bitte nur nicht wieder einen Liedermacher!“

„Also Afrika wäre nun wirklich auch mal wieder an der Reihe. Was denken sich sonst die Leute!“

„Geschlechterparität nicht vergessen! Die Frauen liegen 93 Siege hinten!“

„Wir können ja kaum die nächsten 93 Preise nur an Frauen verleihen.“

„Alles egal, nur keine Skandale dieses Jahr, einen schönen klassischen Erzähler, wie wäre das.“

„Aber auch nicht zu langweilig. Überraschend sollte es schon sein!“

„Atwood wäre ein hübsches politisches Statement. Anti-Trump, Feminismus und Umweltschutz. Und eine Fernsehserie gibt’s da auch gerade.“

„Nein, das geht nicht, eine kanadische Schriftstellerin hatten wir doch vor vier Jahren.“

„Japan hatten wir aber schon lange nicht mehr.“

„Murakami!“

„Das erwarten doch alle, wo bleibt da die Überraschung.“

„Na dann halt Ishiguro!“

„Der ist Brite.“

„Ein Migrant, umso besser.“

Abgesehen davon, dass das offensichtlich weitgehend unbekannte Prozedere einen solchen Kuhhandel gar nicht zulässt, mutet man dem Nobelpreis dabei nichts weniger zu, als politisches Symbol der literarischen Elite Europas oder gar des Westens zu sein, ähnlich wie der Friedensnobelpreis. Das ist nicht nur recht paternalistisch gedacht, es traut der Literatur auch wenig zu und reduziert ihr Selbstverständnis auf eine gesellschaftspolitisch engagierte Kommentarfunktion. Dabei sollte die oft für genervtes Kopfschütteln sorgende „Diversity“ dazu dienen, patriarchal und eurozentrisch geprägte Werturteile sichtbar zu machen und zu überwinden, nicht aber dazu, schlaglichtartig politische Krisengebiete zu kommentieren und dabei einer Bewertung zuzuführen. Ästhetische und formale Kriterien rückten in den letzten Jahren immer nur dann in den Mittelpunkt, wenn kein Romanwerk ausgezeichnet wurde. Dylan wurde zum Anstoß einer Grundsatzdiskussion über den Literaturbegriff genauso wie im Jahr zuvor Swetlana Alexijewitsch. Der Preis für Alice Munro 2013 wurde als Aufwertung der Kurzgeschichte interpretiert, Tranströmer 2011 als Statement für die Lyrik. Bei den Romanciers und wenigen Romancières hingegen dominieren inhaltliche und politische Diskussionen. Jennifer Quist hat in der New Left Review eine interessante Analyse der letzten 25 Nobelpreisträger und ihrer biographischen Beschreibung durch die Akademie unternommen und kommt zum Schluss, dass bestimmte biographische Kriterien sich durch fast alle Entscheidungen ziehen. Ihre Parameter enthalten Werte wie eine bescheidene Herkunft, Migrations- bzw. Exilerfahrung und Mehrsprachigkeit. In den letzten Jahren waren es nur Alexijewitsch, Modiano und Munro, die einen sehr niedrigen Wert auf der biographischen Ebene erhalten haben. Die KandidatInnen, die alle wiederkehrenden biographischen Eckpunkte erfüllen, sind Gao Xingjian, Imre Kertész und Herta Müller. 20 der letzten 25 (noch ohne Ishiguro) von der Akademie verfassten Kurzbiographien weisen auf das kritische politische Engagement der Autorinnen hin, ganze 22 Mal wurden Referenzen zu westlichen Schriftstellern (nein, hier wurde nicht zu gendern vergessen) bemüht. Nicht Werke, sondern Biographien werden ausgezeichnet, ist Quists Schlussfolgerung, was freilich auch durch den Vergabemodus bedingt ist. Legt man die von Quist verwendete Skala an Ishiguro an, so treffen anhand der von der Akademie erstellten Kurzbiographie auf ihn lediglich zwei Punkte zu, nämlich der Aspekt der Migration und die Einordnung in westliche Traditionen. Damit erscheint Ishiguro insgesamt als ungewöhnliche Wahl, allerdings führt er den Trend der letzten Jahre fort, der biographische Faktoren zu vernachlässigend scheint. Die Wahrnehmung des Feuilletons und die Begründungen der Akademie klaffen damit auseinander.


Veronika Schuchter, 30.11.2017

Veronika. Schuchter@uibk.ac.at


Über die Rezeption Kazuo Ishiguros in der deutschsprachigen Presse zwischen 2000 und 2017 informiert auch die aktuelle Nr. 03/2017 der Reihe Innsbrucker Bibliographien zur Literaturkritik des Innsbrucker Zeitungsarchivs: Kazuo Ishiguro in der deutschsprachigen Presse (2000-2017). Eine bibliographische Dokumentation, bearbeitet von Veronika Schuchter. (Redaktionsschluss: 12.10.2017).

 

Anmerkungen:

[1] Manfred Papst: Wir können unseren Augen nicht trauen. In: NZZ am Sonntag v. 8.10.2017, S. 64.

[2] Zur Rezeption des Nobelpreises 2016 an Bob Dylan vgl. Veronika Schuchter in: Literaturkritik.at, Winter 2016/17.

[3] Thomas Steinfeld: Ein Pakt mit dem Populären – warum nicht? In: Süddeutsche Zeitung v. 6.10.2017, S. 4.

[4] Gerrit Bartels: Die Welt weiten. In: Der Tagesspiegel v. 6.10.2017, S. 1.

[5] Susanne Mayer: Ruhm der Stille. In: Die Zeit v. 12.10.2017, S. 49.

[6] Johanna Roth: Die leise Magie des präzisen Erzählens. In: taz v. 6.10.2017, S. 3.

[7] Arno Frank: Kobolde, wo keine hingehören. In: taz v. 6.10.2017, S. 3.

[8] Christoph Bartmann: Ein Nobelpreis für „Downton Abbey“. In: Falter 41/17, S. 34.

[9] Denis Scheck zitiert nach taz v. 6.10.2017, S. 3.

[10] Angela Schader: Wir sind so klein, wie wir uns machen. In: Neue Zürcher Zeitung v. 7.10.2017, S. 21.

[11] Vgl.: Alice Villon-Lechner: Schutzschicht scheinbarer Sicherheit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 11.2.1985, o. S.

[12] Susanne Mayer: Trauer am Ende des Tages. In: Die Zeit v. 5.10.1990, o. S.

[13] Renate Schostack: Tragisch endet der Lord. In: FAZ v. 27.12.1990, S. 18.

[14] Erhard Schütz: Gebannt von Untröstlichkeit. In: Freitag v. 4.10.1996.

[15] Zur englischsprachigen Rezeption vgl: Matthew Beedham (Hg.): The Novels of Kazuo Ishiguro. A reader’s guide to essential criticism. New York: Palgrave Macmillan 2010.

[16] Ebd., S. 2.

[17] Peter Münder: Immer im Dienst. In: Neue Zürcher Zeitung v. 7.11.1990, o. S.

[18] Jürgen Manthey: Alte Männer mit bedenklicher Vergangenheit. In: Süddeutsche Zeitung v. 5.1.1991, o. S.

[19] mai: Als Japanerin in England. In: Die Welt v. 24.12.1994, o. S.

[20] Regina Stölzl: Im Nebel des Vergessens. In: Neues Deutschland v. 18.11.2015, S. 14.

[21] Alexander Menden: Ein Sieg gegen die alte Britishness. In: Süddeutsche Zeitung v. 7./8.10.2017, S. 15.

Abbildung: Logo der Nobel-Stiftung. Quelle: Wikimedia Commons.