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Licht und Schatten

Über Urs Bitterlis „etwas andere Kulturgeschichte“ in Rezensionen. Von Lothar Struck

 

Urs Bitterli: Licht und Schatten über Europa 1900–1945. Eine etwas andere Kulturgeschichte. Zürich: NZZ, 2016. 350 S. ISBN: 978-3-03810-151-2. Preis [A]: 49,40 €

 

Zwischen 2010 und 2016 veröffentlichte Urs Bitterli in der Kolumne Alte Bücher – neu besprochen der schweizerischen Webseite journal21.ch Texte zu insgesamt 62 Büchern. Damit war er einer der ersten Kolumnisten des im Sommer 2010 gegründeten, unentgeltlich arbeitenden, sich hohen journalistischen Standards verpflichteten Online-Magazins. Inzwischen liest sich die Autorenliste wie ein Who-is-Who vor allem des schweizerischen Qualitätsjournalismus. Urs Bitterli, 1935 geboren, war bis 2001 ordentlicher Professor für Allgemeine Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. 50 Aufsätze der Kolumne wurden nun für das im „Verlag Neue Zürcher Zeitung“ erschienene Buch Licht und Schatten über Europa 1900–1945 „in einen historischen Zusammenhang gebracht“.

Ergänzt werden sie mit insgesamt acht, bisher nicht publizierten, historischen Abhandlungen. Hierfür wird der im Titel skizzierte Zeitraum in entsprechende Abschnitte unterteilt. Mit „Die Jahrhundertwende“ und „Der Grosse Krieg“ (hier wird die französisch-britische Diktion des Ersten Weltkriegs übernommen) erfolgt dies zunächst chronologisch. Die Zwischenkriegszeit (1918–1939) wird thematisch unterteilt. Es beginnt mit dem „Kulturpessimismus“ der frühen 1920er Jahre. Dann erfolgt ein Ausflug in die Kolonialgeschichte der europäischen Imperien („Ferne Länder“); ein Kapitel, das entbehrlich erscheint. Mit „Die zerrissenen Jahre“ und „Aufziehendes Gewitter“ werden die sozialen und politischen Verwerfungen in den europäischen Gesellschaften bis Ende der 1930er Jahre beschrieben. „Nochmals Krieg“ und „Völkermord“ thematisiert dann die Ereignisse bis in die 1950er Jahre. Interessant ist am Rande, dass im Abschnitt „Völkermord“ die furchtbaren Verbrechen des Nationalsozialismus zwar nicht mit den stalinistischen Säuberungsaktionen und Gulags verglichen, aber nebeneinander gestellt werden.

Jedem dieser acht Abschnitte werden nun zwischen drei und acht Buchbesprechungen zugeordnet, die einst für das Webjournal verfasst wurden und als besonders „geschichtshaltig“ bezeichnet werden, weil sie „ein Zeitphänomen oder eine Zeittendenz unmissverständlich und repräsentativ zu widerspiegeln scheinen.“ Bedeutsam ist das zweite Kriterium: „Der Erfolg einer Publikation zum Zeitpunkt ihres Erscheinens war für mich ein wichtigeres Selektionskriterium als ihre künstlerische Qualität.“ Der Leser wird später feststellen, dass diese Maxime glücklicherweise mindestens zwei Mal großzügig außer Kraft gesetzt wird:  bei Primo Levi und Wassili Grossman (Leben und Schicksal erschien erst 1984).

Leicht überliest man in der Einführung Bitterlis Reminiszenz an seine Studienzeit, als er im Nebenfach Deutsche Literatur bei Emil Staiger belegte. Staiger galt als energischer Verfechter der Trennung zwischen politischem Engagement des Schriftstellers und dessen literarischem Schaffen. Aber er kam irgendwann nicht mehr gegen den Zeitgeist an. Bitterli zitiert aus den Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre von 1972, in denen dem Deutschunterricht eine „zentrale Rolle bei der Schaffung einer neuen, emanzipierten Gesellschaft“ zugewiesen wurde. Plötzlich wurde das politische Engagement eines Schriftstellers eingefordert und stand über dessen literarischer Könnerschaft. Im Laufe der Lektüre wird deutlich, dass diese Doktrin stilbildend für das vorgelegte Buch ist, zumal sich der Autor ein wenig kokett ausdrücklich als literaturwissenschaftlicher Laie definiert.

Dabei beschränkt sich Bitterli nicht auf literarische Werke, die (bei großzügiger Auslegung) nur etwas mehr als die Hälfte der besprochenen Bücher ausmachen. Die Abschnitte „Kulturpessimismus“ und „Aufziehendes Gewitter“ bestehen aus kulturphilosophisch-politischen Erörterungen (Spenglers Untergang des Abendlandes etwa oder Huizingas Im Schatten von morgen) beziehungsweise reportageähnlichen Berichten (z. B. Orwells Mein Katalonien, Christopher Isherwoods Leb wohl, Berlin). Natürlich darf auch die Inauguration des modernen Intellektuellen, Émile Zolas Aufsatz J’accuse zur Dreyfus-Affäre, nicht fehlen (Kapitel „Jahrhundertwende“).

Die Spannbreite der politischen Meinungen wird repräsentativ für die Zeit abgebildet. Es finden sich so divergierende Texte wie Thomas Manns peinliche Betrachtungen eines Unpolitischen (dem sofort Romain Rollands Über dem Getümmel entgegengesetzt wird), Curzio Malapartes Die Technik des Staatsstreichs oder auch Hannah Arendts Bericht über Eichmann in Jerusalem. Mit Ernst Jüngers Strahlungen und den Aufzeichnungen von Max Frisch zwischen 1946 und 1950 finden auch Tagebücher Berücksichtigung. Und sogar ein Theaterstück hat es in den Bitterli’schen ‚Kanon‘ geschafft: Wolfang Borcherts Draußen vor der Tür.

Oftmals konzediert der Autor, dass es sich bei den vorgestellten literarischen Werken nur um mäßige Kunstwerke handelt, die alleine aus „geistesgeschichtlicher Hinsicht“ vorgestellt werden. So bei Heinrichs Manns Professor Unrat („kein großer Roman“), Maxim Gorkis Die Mutter (hier überlässt er Rosa Luxemburg den Verriss), Pierre Loti (Die Entzauberten: „sentimental“ und „melodramatisch“) oder Hermann Hesses Steppenwolf („nicht Hesses bestes Buch“). Dies ist zunächst dahingehend erstaunlich als es gemäß der Einführung durchaus in der Absicht des Autors liegt, Neugier auf die entsprechenden Bücher zu erzeugen.

Natürlich reizt eine solche Auswahl zu Widerspruch und Gegenentwürfen. Zunächst auch dahingehend, welche der 12 für das Internet besprochenen Bücher es nicht ins Buch geschafft haben, wie etwa Aldous Huxleys Brave New World, Churchills Erinnerungen über den Zweiten Weltkrieg oder Eric Hobsbawms Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert (immerhin übernimmt er Hobsbawms Jahrhundert-Theorie und erklärt sie für allgemein anerkannt).

Und die ausgewählten Bücher? Da mag man noch das Genre des Großstadtromans der 1920er Jahre mit Falladas Kleiner Mann - was nun? anstatt Berlin Alexanderplatz von Döblin adäquat abgedeckt finden. Und das Thema „Luftkrieg“ wird von Hans Erich Nossacks eher reportagehaftem Werk Der Untergang repräsentiert statt mit dem literarisch ungleich anspruchsvolleren Roman Vergeltung von Gert Ledig. Aber wenn im Kapitel über die „zerrissenen Jahre“ auf eine genaue Betrachtung von Stefan Zweigs Die Welt von Gestern verzichtet (zumal Bitterli darüber einen klugen Text verfasst hatte) und stattdessen Lady Chatterley als Exponat einer neuen Sexualmoral besprochen wird, wundert man sich schon. Und als es um die Verstrickung von Wehrmacht und Holocaust geht, wird Hans Scholz’ 1955 bahnbrechender Roman Am grünen Strand der Spree nicht einmal erwähnt. Unverständlich auch Peter Bamms Die unsichtbare Flagge als eine „wichtige Quelle“ herauszustellen und dann im gleichen Satz diese als „fragwürdig“ einzustufen. Noch absurder ist die Erörterung des mit nazistischem Gedankengut vollgestopften Volk ohne Raum von Hans Grimm, das zu Recht als ein „Machwerk“ bezeichnet wird.   

Bitterli nennt seine Texte „Rezensionen“. Eine etwas ungenaue Beschreibung, denn es dominieren mit den biografischen Angaben zum Autor nebst je einer Inhaltsangabe des jeweiligen Buches literaturgeschichtliche Elemente. Ein Urteil erfolgt nur kurz und apodiktisch (leider zu oft mit der Vokabel „umstritten“) und wird kaum näher ausgeführt. Das führt zu ärgerlichen Verkürzungen. Nach der Lektüre von Radetzkymarsch macht er aus Joseph Roth einen „Verherrlicher der entschwundenen Donaumonarchie“. Bei Hannah Arendt mokiert er sich über ihre „an Arroganz grenzende Saloppheit“. Und er scheut nicht davor zurück, das Privatleben der Autoren moralisch zu bewerten. Nachdem er über die Trunksucht Arthur Koestlers berichtet hat, folgt die Feststellung, dass sein Leben „freilich“ (sic!) „unstet und haltlos“ gewesen sein muss. Bertrand Russell hingegen war „vielfach verliebt und mehrfach verheiratet“.

Gelegentlich wird holzschnittartig argumentiert. Etwa wenn Sartres Goutierung der stalinistischen Säuberungen dahingehend kommentiert werden, er habe sich manchmal „vergaloppiert“. Bei der Besprechung von Hamsuns Das letzte Kapitel kann Bitterli selbstverständlich nicht über die offene Unterstützung des Autors für die Nazis hinwegsehen, obwohl dies mit dem Buch selber wenig zu tun hat. Daher greift er zu Segen der Erde (das sechs Jahre zuvor, 1917 erschienen war) und erkennt in der Begeisterung der Nazis für dieses Buch den Grund, den Roman in die Nähe der „Blut-und-Boden“-Literatur zu subsummieren. Das ist ein geradezu absurder Vorwurf. Zum einen spricht eine Zustimmung von der falschen Seite nicht immer automatisch gegen das Kunstwerk. Zum anderen ist in der Literaturwissenschaft längst die Vielschichtigkeit und Modernität des Romans herausgearbeitet worden.

Das schlimmste Urteil bei Bitterli ist das, Antimodernist zu sein. Dabei unterlässt er eine präzise Definition dieses Vorwurfs. Im Zweifel genügt hierfür bereits die Furcht über die technischen Entwicklungen wie sie sich zum Beispiel im Ersten Weltkrieg zeigten. Antimodern wird mindestens mit restaurativ gleichgesetzt, meist jedoch sogar mit faschistoid. Dass es durchaus komplexer ist, sagt er selber, wenn er darauf hinweist, dass die Nazis (wie auch die sowjetischen Kommunisten) keine Technikfeinde waren. Und dass die technikbegeisterten Futuristen intellektuelle Wegbereiter des italienischen Faschismus waren, hätte man mindestens erwähnen können.   

Aber es gibt durchaus Entdeckungen. So Norman Angells Die falsche Rechnung und Julien Benda mit Der Verrat der Intellektuellen. Eine literarische Entdeckung scheint Ignazio Silones Abruzzen-Erzählung Fonatamara  zu sein. Und den Schweizerspiegel von Meinrad Inglin nennt er ein „kleines Meisterwerk“ und stellt das Buch in eine Reihe mit Tolstois Krieg und Frieden.

So ausgewogen die politischen Extreme und Nationalitäten der Autoren dargestellt werden, so extrem scheitert Bitterli am Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Autoren. Es beträgt 49:1, was selbst für einen Kritiker der grassierenden Quotierungen irritierend ist. Warum nicht Anna Seghers Das siebte Kreuz, Bertha von Suttners politische Schriften oder Virginia Woolf?

Das vorliegende Buch hat zweifellos einen hohen lexikalischen Wert; die Verweise auf nicht ausführlich behandelte Texte und Autoren sind anregend und hilfreich. Somit dürfte sich das Buch vorzüglich als didaktische Hilfe in der Erwachsenenbildung eignen. Dennoch gibt es einen grundlegenden Einwand. So wäre es für das Unternehmen, Zeitgeschichte in Rezensionen zu spiegeln, vielleicht sinnvoller gewesen wenn man sich entweder ausschließlich literarischen Werken gewidmet oder vollends auf gesellschaftspolitische Schriften konzentriert hätte. Der zunächst interessant erscheinende interdisziplinäre Ansatz wird von Bitterli jedoch dahingehend konterkariert, dass er fiktionale Werke und Sachbücher gleichermaßen auf ihren (gesellschafts-)politischen Gebrauchswert für eine Epoche oder Zeitströmung ausweidet. Damit reduziert er Literatur auf ihren originären politischen Gehalt und nährt (unfreiwillig?) die These, dass Schriftsteller, die Literatur mit politischen Botschaften versetzen, ästhetisch scheitern. Und schließlich wendet sich dann die Konsequenz Bitterlis, Proust, Kafka, Joyce, Hofmannsthal oder Schnitzler nicht aufzunehmen, gegen die Relevanz der Texte dieser Autoren.

Dennoch plädiere ich für eine Fortsetzung und würde sehr gerne Bitterlis „etwas andere Kulturgeschichte“ für die Zeit von 1945 bis 1989 lesen.

 

Lothar Struck, 17.01.2017

Lothar Struck, geb. 1959 in Mönchengladbach, lebt in Düsseldorf. Er ist Autor für das Online-Magazin Glanz und Elend und betreibt den literarischen Weblog Begleitschreiben.