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"Freiheit ist doch mehr als eine Phrase!"

Bemerkungen zu den Tagebüchern von Gerhard Fritsch. Von Irene Zanol

 

Gerhard Fritsch: Man darf nicht leben, wie man will. Tagebücher. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Klaus Kastberger. Transkription und Kommentar: Stefan Alker-Windbichler. Salzburg, Wien: Residenz, 2009. 261 S. ISBN: 978-3-7017-1405-7. Preis [A]: 24,00

 

Anfang dieses Jahres erschienen im Residenz-Verlag die Tagebücher des österreichischen Autors und Literaturvermittlers Gerhard Fritsch (1924-1969), herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Klaus Kastberger sowie mit einem sorgsam verfassten und ausführlichen Kommentar von Stefan Alker-Windbichler. Gerhard Fritsch, dem es mit seinen Romanen gelang, die „spezifische österreichische Situation der Stunde“[1] einzufangen, fängt mit seinen Tagebuchaufzeichnungen auch die spezifische Situation des österreichischen Literaturbetriebs in den 1950er und 1960er Jahren ein. Die Aufzeichnungen werfen Schlaglichter auf die Grausligkeiten des Betriebs („Er [Hakel] ist widerlich großmäulig, auch wenn er die Wahrheit sagt. Er hat die Wied gegen mich aufgehetzt und wird noch viele andere anstacheln, wenn ich ihm nicht in den Arsch krieche. Das werde ich aber nicht“, S. 60) ebenso wie auf die Funktionsweisen seiner Netzwerke und die Situation der „freien“ SchriftstellerInnen und ihre häufige Bindung an den Journalismus und andere Instanzen des literarischen Feldes. Über den individuellen Lebensbericht hinaus bieten die Tagebücher ein Bild der Zeit und – auf den Literaturbetrieb bezogen – ein Panorama der Institutionen, Publikationen und Netzwerke der österreichischen Nachkriegsliteratur. Neben den heute noch kanonisierten Namen wie Thomas Bernhard, Christine Busta und Mira Lobe werden den LeserInnen beinahe vergessene wie Ernst Jirgal, Karl Wawra, Kurt Benesch oder Otto Horn in Erinnerung gerufen oder – in kritischen, aber meist von Respekt und Wohlwollen geprägten, oft anekdotischen Bemerkungen – erstmals nahe gebracht. Die Tagebücher Gerhard Fritschs sind damit auch Notizen zur Literatur, aber selten in der Form eines „mokante[n] Gespräch[s] über andere“ (S. 31).

 

„Tagebücher mit Hinblick auf die Nachwelt?“ (S. 35)
Zur Rechtfertigung des voyeuristischen Blicks auf das Private

Als die Stadt Wien 2004 den Nachlass des 1969 verstorbenen Schriftstellers Gerhard Fritsch übernahm, machte die Ankaufssumme von über 650.000 Euro mehr Schlagzeilen, als ein Werk des Autors es je vermochte. Seither wird der Bestand in der Wienbibliothek im Rathaus in über 65 Boxen archiviert und die Forschung ist bemüht, den Beweis anzutreten, dass er jeden investierten Cent wert ist. Dass die Öffentlichkeit Anstoß an der Kaufsumme nahm,  lag auch daran, dass die Debatte um den Ankauf von Vor- und Nachlässen durch die öffentliche Hand durch diesen Fall erst so richtig Fahrt aufnahm – und übrigens noch längst nicht ausdiskutiert ist. Die Erregung verwundert aber auch aus einem weiteren Grund kaum: Gerhard Fritsch war zu diesem Zeitpunkt aus dem kollektiven literarischen Gedächtnis doch nahezu verschwunden und Initiativen wie jene von Robert Menasse, dem die Wiederentdeckung dieses Autors maßgeblich zu verdanken ist, begannen erst allmählich, erste Früchte zu tragen. Die posthume Rezeption Fritschs war stets überschattet von den Mutmaßungen über seinen Tod und von Gerüchten über den Transvestitismus, der sich auch im Roman Fasching niederschlägt. Es ist ärgerlich, dass das Interesse an diesem Autor bis heute über nach wie vor (wenn gleich nicht mehr so stark wie zu seinen Lebzeiten) tabuisierte Themen zu wecken versucht wird. Auch die Edition der Tagebücher Fritschs erweckt durch das gewählte Titelzitat – „Man darf nicht leben, wie man will“ – zunächst den Eindruck, diese Publikation wolle vor allem den Vorhang zur Seite schieben, den Fritsch durch die Literarisierung seiner heimlichen Begehren jedenfalls zur Hälfte zugezogen ließ, um den LeserInnen Zugang zur privaten Welt des Autors zu verschaffen. Das tut sie auch, in dem sie kaum kürzt und nur dort Passagen streicht, wo noch lebende Personen geschützt werden müssen (vgl. die editorische Notiz, S. 163). Zugleich beweist die beinahe vollständige Edition der überlieferten Aufzeichnungen aber auch, dass das Wissen über das Innerste des Autors in diesem Fall nicht nur Wesentliches zum Verständnis seines Werks beiträgt, sondern darüber hinaus aktuelle Debatten um Männlichkeit/Weiblichkeit und Autorschaft bereichern kann. Die vier überlieferten Tagebücher stammen – mit mehreren Unterbrechungen – aus den Jahren 1956 bis 1964 und decken damit den Zeitraum nach dem Erscheinen des Romanerstlings Moos auf den Steinen (1956) und der Arbeit am folgenden Roman, Fasching (1967), ab. Im Bezug auf den Erstling scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass es sich dabei um erzähltechnisch konventionelle Prosa handelt, die zum Prestigeerfolg wurde, weil sie in die von konservativ-restaurativen Strömungen geprägte gesellschaftliche Situation der Zeit passte. Fritsch bezieht sich in einem Tagebucheintrag von 1964 selbstkritisch auf Adalbert Schmidts Studie Dichtung und Dichter aus Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, in der es heißt, sein Roman habe „nichts mit jener ‚Moderne‘ zu tun, die sich im Absurden gefällt, in syntaxsprengenden Wortkombinationen und gequälten Metaphern, die in der verkrampften Gewolltheit eines um jeden Preis Originellen auch schon wieder Konvention und Schablone geworden sind.“[2] Durch dieses Lob fühlt sich der Autor getadelt vom „fatal braven Adalbert Schmidt, wo ich als das Biederste vom Biederen verzeichnet bin. Auch das mit Recht, denn ich wollte ja ursprünglich ein Müller-Volksbücherei-Autor werden“ (S. 154). Seine literarischen Referenzfiguren änderten sich in dem Jahrzehnt, das zwischen dem Erscheinen der beiden Romane liegt. Vorbild war nicht länger der genannte Rudolf Müller, vielmehr hoffte Fritsch: „Ich müßte – und werde hoffentlich einmal – so schreiben wie Thomas Bernhard“ (S. 152). Die veränderte Poetik und Romankonzeption geht damit einher, dass sich Fritsch seine Neigungen zum Transvestitismus nicht nur eingesteht, sondern zunehmend und gerade beim Schreiben (in Frauenkleidern) auch auslebt, wenngleich das Verhältnis zur eigenen Sexualität von den vorherrschenden Vorurteilen geprägt ist („Einige Tische weiter ein laut und geziert plaudernder Warmer“, S. 74) und er nach außen hin selbst in traditionellen Familienmustern haften bleibt. Doch in den Tagebüchern bricht Gerhard Fritsch zunehmend Tabus und mit Fasching gelingt es ihm schließlich, dieses geheime Schreiben auch in das „offizielle“ zu überführen; es gelingt ihm ein literarisches Coming Out, indem er das von ihm als „konstruktiv“ bezeichnete strukturell männliche Denken zu überwinden sucht, da es zu „dürren Skeletten“ führe und das „‚andere‘ Geschlecht, von seinen Konventionen befreit, schöpferisch viel stärker als im Lauf der bisherigen Literaturen hervortreten“ werde (S. 134). Fritsch trat mit Fasching schöpferisch weitaus stärker hervor, er desavouierte – so Kastberger – „seine eigene Identität zwischen Mann und Frau.“ Nach den Gesetzen des Literaturbetriebs fast folgerichtig, wurde er mit seinem weiblicheren Schreiben von der zeitgenössischen Literaturkritik weitgehend ignoriert und wo beachtet, da beinahe nur skandalisiert.

Der radikale Bruch zwischen den Romanen ist keiner. Vielmehr ist es ein Schritt in die schriftstellerische Freiheit – das ist eine Erkenntnis, die man aus der Lektüre der privaten Aufzeichnungen ziehen kann. Und die Tagebücher werden in diesem Sinn tatsächlich zu solchen „im Hinblick auf die [und mit Relevanz für die] Nachwelt“ (S. 35), auch wenn Fritsch die Frage, die er sich selbst auf einer Metaebene stellt, nicht eindeutig beantwortet.  

 

„Gefahr des ‚kleinen‘ Geschäfts. Ja, sicher!“ (S. 97)
Gerhard Fritsch im Literaturbetrieb der 1950er und -60er Jahre

So sicher, wie die pikanten Details seines Privatlebens in Rezensionen und Abhandlungen zum Werk Gerhard Fritschs thematisiert werden, wird auch auf seine Tätigkeiten als Funktionär der österreichischen Literatur Bezug genommen, die auch in den Tagebüchern eine wesentliche Rolle einnehmen. Noch während seines Studiums arbeitete Fritsch als Redakteur an Hermann Hakels Literaturzeitschrift Lynkeus mit, er war im Lauf der Zeit (Mit-)Herausgeber u. a. von Wort in der Zeit, Literatur und Kritik und Protokolle. In seiner Position als Mitarbeiter und wissenschaftlicher Referent der Wiener Städtischen Büchereien (1951 bis 1959) war er maßgeblich an den Wiener Bücherbriefen beteiligt und leitete die Bibliothekarsausbildung. Er arbeitete als Juror, Verlagslektor und Rezensent – u. a. für Die Presse, Die Furche und Das österreichische Tagebuch. Zu seiner „disparaten Positionierung im politischen Spektrum der österreichischen Medienlandschaft (S. 195) bemerkt er selbst im Tagebuch: „Meine Spannweite ist eigentlich respektabel, sie reicht von Horn [dem Herausgeber der kommunistischen Volksstimme] bis Schulmeister [Chefredakteur der konservativen Presse] und Skalnik [Chefredakteur der katholischen Furche]. Und das nur im Politischen!“ Diese Disparatheit mag mit ein Grund sein, weshalb die Bewertung von Fritschs Stellung im Literaturbetrieb je nach Perspektive völlig anders ausfällt. Stefan Alker fasst die unterschiedlichen Wertungen in einem aufschlussreichen Aufsatz über Fritsch und die Schaltstellen der österreichischen Literatur so zusammen: „Während er den einen sogar als ‚Literatur-Papst Österreichs (Thuswaldner) galt, […] als ‚einer der einflußreichsten Literaturmanager der zweiten Republik (Wolfschütz), […], galt er anderen als Opfer des Betriebes.“[3] Die Tagebücher geben auch Hinweise darauf, wie Fritsch „offiziell das zu werden“ vermochte, was er, Susanne Zobl zufolge „in der Tat nie war, nämlich jene schon fast mythisch anmutende Gestalt des österreichischen Literaturbetriebs der Nachkriegszeit“.[4]

Die Spannung zwischen den täglich anfallenden Aufgaben des Funktionärs, die Fritsch auch dann als Nebenarbeit ansieht, wenn sie einen Hauptteil seiner Zeit fressen, und der Arbeit des Schriftstellers überrascht in den Tagebüchern kaum, ist sie doch längst zum Topos geworden. Bemerkenswert sind aber die Kollegialität gegenüber anderen SchriftstellerInnen und sein besonnener, aber wirkungsvoller Einsatz für sie. Einen ständigen Kompromiss zwischen den Lebens- und Arbeitsbereichen zu finden kostet Kraft, und so ist die Kündigung bei den Städtischen Büchereien für Fritsch nicht nur die Aufgabe von „Regelmäßigkeit, Sicherheit und oberflächliche[r] Kameradschaft“ (S. 97), sondern ein Schritt – noch einer – in Richtung Freiheit: „Ich werde von nun an ‚deutlich leben‘ […]. Bewußt und bestimmt“ (S. 92), notiert er im Jänner 1959, kurz nachdem er seine Fächer im Büro geräumt hatte.

 

Die Tagebücher Gerhard Fritschs verdeutlichen Entwicklungen (intellektuelle, ästhetische und politische) sowohl im Leben als auch im Werk des Autors. In vielerlei Hinsicht war es eine Bewegung in Richtung Freiheit, die ihn antrieb, egal, ob es sich um die Neigung zum Cross-Dressing oder um politische Überzeugungen handelte, um die veränderte berufliche Situation oder das Verhältnis zu Österreich. Gerhard Fritsch überwand, nicht nur im Privaten, den Traditionalismus und führt uns Nachgeborenen vor Augen: „Freiheit ist doch mehr als eine Phrase!“ (S. 29).


Irene Zanol, 09.08.2019


Anmerkungen:

[1] Klappentext von Moos auf den Steinen in der Ausgabe des Otto Müller Verlags von 1956.

[2] Adalbert Schmidt: Dichtung und Dichter aus Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2. Salzburg, Stuttgart: Bergland-Buch, 1964, S. 291 (zit. nach: Fritsch: Man darf nicht leben, wie man will, S. 255).

[3] Stefan Alker: Knapp daneben ist auch dabei – Gerhard Fritsch und die Schaltstellen der österreichischen Literatur. In: Modern Austrian Literature, Jg. 42 (2009) Nr. 4, S. 1-21, hier S. 1.

[4] Suanne Zobl: Gründer – Dichter – Förderer. Gerhard Fritsch – ‚Schlüsselspieler‘ oder ‚Nebenarbeiter’ im Österreichischen Literaturbetrieb? In: Stefan Alker / Andreas Brandtner (Hrsg.): Gerhard Fritsch. Schriftsteller in Österreich. Wien: Sonderzahl, 2005, S. 163-178, hier S. 165.