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Ein Klassiker mit dilettantischer Rahmung

Über die neue Auswahlausgabe von Theodor Fontantes Theaterkritiken im Aufbau-Verlag. Von Stefan Neuhaus

 

Theodor Fontane: Da sitzt das Scheusal wieder. Die besten Theaterkritiken. Hrsg. und mit einer Einführung von Debora Helmer. Mit einem Nachwort von Simon Strauß. Berlin: Aufbau 2018. ISBN 9783351037420. 240 S. Preis [A]: 24,70 €

 

Theodor Fontanes Geburtstag jährt sich Ende des Jahres zum 200. Mal, schon vor diesem Datum sprießen allerlei Publikationen über Fontane und mit seinen Texten aus dem Boden. Nicht überraschend ist der Berliner Aufbau-Verlag auch dabei, schließlich erscheint dort die Große Brandenburger Ausgabe der Werke Fontanes, schon seit den 1990er Jahren bemühen sich mittlerweile mehrere Generationen von Editor/innen um die Neuherausgabe. Fontane gilt als bedeutendster Theaterkritiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, über mehr als ein Vierteljahrhundert hat er als Kritiker der seinerzeit bedeutenden Vossischen Zeitung über Aufführungen des Königlichen Schauspielhauses in Berlin geschrieben.

Es ist mir allerdings schleierhaft, wie ein Verlag ein Buch mit einer Auswahl von Texten seines berühmtesten Autors herausbringen kann – eines Autors, der einer der deutschsprachigen Klassiker ist und sogar zur Champions League der Literatur, nicht nur zur Bundesliga gehört –, das diesem Autor und seinen Texten in einem Vor- und einem Nachwort bescheinigt, zwar unterhaltsam, aber an der Sache vorbei geschrieben zu haben‚ gar ‚dilettantisch’ gewesen zu sein. Wozu dann ein solches Buch, noch dazu im Hardcover mit einem schön gestalteten Schutzumschlag? Das ist so, wie wenn Mercedes seine neue S-Klasse mit einem Werbeprospekt oder einer Gebrauchsanweisung versieht, worin zu lesen ist, dass es durchaus geeignetere Autos in dieser Preisklasse gibt. Es könnte aber vielleicht auch sein, dass nicht der Autor und seine Texte, sondern das Vor- und das Nachwort das Problem sind.

Für mich, um persönlich Stellung zu beziehen, ist es sogar ein Symptom. Es ist in meiner Wahrnehmung immer häufiger ein Problem etablierter Forschung, oder besser: ein Problem derjenigen, die sich innerhalb des Literatursystems über einen bedeutenden Autor und seine Texte äußern, dass sie diesem ‚ihrem’ Autor offenbar wenig abzugewinnen vermögen. Sollten sie sich nicht dann mit lohnenderen Objekten beschäftigen? Und anderen, die dies lieber tun würden, das Feld überlassen? Aber wer das System Literatur und noch eher das System Literaturwissenschaft kennt, der weiß, dass es oft mit Stellen und Netzwerken zu tun hat, wer sich womit beschäftigen soll und muss. In der heutigen Zeit ist, wie wir an diesem Band beispielhaft sehen werden, auch kein historisches, geschweige denn literarhistorisches Gedächtnis mehr vorhanden, das es notwendig machen würde, sich in der Literatur und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts auszukennen, bevor man sich zu einem solchen Gegenstand wie Fontanes Literaturkritiken äußert.

Zunächst also das Vorwort. Es ist ein Euphemismus ersten Ranges, festzustellen: „Nun war die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht unbedingt eine Blütezeit des deutschen Dramas; von den zeitgenössischen Autoren, die heute noch zum Kanon gehören, wie Friedrich Hebbel und Franz Grillparzer, besprach Fontane lediglich Grillparzers ‚Des Meeres und der Liebe Wellen’ und Hebbels ‚Herodes und Mariamne’“ (S. 10). Hebbel starb 1863, Grillparzer 1872, das sind keine zeitgenössischen Autoren des Theaterkritikers Fontane. Der poetische oder bürgerliche Realismus, der 1855 mit Gustav Freytags Roman Soll und Haben begann und erst mehr als drei Jahrzehnte später vom jungen Naturalismus abgelöst wurde, hat überhaupt keine bedeutenden, kanonischen Dramen hervorgebracht. So produktiv die Epoche in der Prosa auch war, in der Lyrik hatte sie eher weniger zu bieten und im Drama gar nichts. Das musste es einem Kritiker, der in der Zeit die Produktionen und Aufführungen zu sichten und zu beurteilen hatte, schwer machen und dass Fontane mehr verrissen als gelobt hat, dürfte sich daraus erklären; ebenso, dass er manchmal auch Triviales lobte, wenn es denn schon – vor den naturalistischen Dramen, die er bekanntlich enthusiastisch begrüßte – gar nichts Neues gab, das sich zu loben lohnte.

Fontane dann auch noch zu bescheinigen, er habe „lediglich nach den eigenen Vorstellungen von gut und schlecht“ (S. 15) gelobt oder getadelt, verkennt die Situation völlig. Fontane ist durch die relevanten Schulen seiner Zeit gegangen. Sein Urteil war den Idealen der Klassik, in der die Paradigmen der Aufklärung aufgenommen und weiterentwickelt wurden, ebenso verpflichtet wie den neueren Konzepten, die durch die Vormärzliteratur und eben den bürgerlichen Realismus hinzugekommen waren und das Set ästhetischer Wertmaßstäbe modifizierten. Formale (vor allem sprachliche) Originalität und gesellschaftliche Relevanz gehörten ganz selbstverständlich dazu. Zur literarischen Wertung und Kanonbildung gibt es eine ganze Forschungsrichtung, eine der wichtigsten Vertreterinnen, Simone Winko, ist Professorin in Göttingen, dort sitzt auch die Fontane-Forschungsstelle, die den vorliegenden Band mit verantwortet. Vielleicht wäre eine Zusammenarbeit angeraten. Es stimmt nachgerade bedenklich, dass die Herausgeberin des vorliegenden Bandes auch Mitherausgeberin der neuen vierbändigen kritischen Ausgabe der Theaterkritiken Fontanes ist.

Zu vermerken, dass Fontane „keine akademische Vorbildung“ hatte (S. 10), ist auch so ein Anachronismus und zeigt eher, wie wenig akademische Ausbildung heute noch wert ist, wenn sie zu solchen Feststellungen führt. Es gab im 19. Jahrhundert noch keine professionalisierte Literatur- und Theaterkritik, Fontane gehört zu den ersten, die so etwas zumindest nebenberuflich mit einer gewissen Professionalität ausüben durften. Die bekannten Theaterkritiken bis Fontane stammen von Schriftstellern, die auch bei weitem nicht alle studiert hatten, und wenn, dann in der Regel Fächer wie Jura, Theologie und Medizin – die neueren Philologien entwickelten sich überhaupt erst im 19. Jahrhundert.

Wie kann man, wenn man Fontane jeden Wertmaßstab (außer einen diffusen individuellen) abspricht, unter solchen falschen Voraussetzungen behaupten, einen „repräsentativen Querschnitt“ der Kritiken ausgewählt zu haben (S. 9)? Was bedeutet hier ‚repräsentativ’, welche Relevanz soll die Auswahl denn haben? Und wäre es dann nicht besser gewesen, zumindest alle wegbereitenden, bahnbrechenden Kritiken, also vor allem die der „neun Aufführungen des Vereins ‚Freie Bühne’“ (S. 14), vollständig abzudrucken? Weshalb fehlt beispielsweise Fontanes letzte Theaterkritik, die zu Gerhart Hauptmanns „Die Weber“?

Das Vorwort wird noch überboten durch das Nachwort, in dem Simon Strauß Fontane schlichtweg bescheinigt, keine Ahnung vom Theater gehabt zu haben: „Fontane blieb als Kritiker des Theaters im wörtlichen Sinne Dilettant“ (S. 223). Dabei geht Strauß von dem heutigen, freilich auch schon in Auflösung befindlichen Konzept eines Regietheaters aus, statt sich und seinen Leser/innen bewusst zu machen, dass das Theater damals ein anderes Publikum und eine andere Funktion hatte als heute.

Die „offensichtlichste Trennungslinie“ (S. 221), die hier überschritten wird, ist die zwischen erfahrungsgesättigter Qualität und Professionalität eines kanonischen Autors einerseits und dem Unvermögen, dies zu erkennen, das damit beginnt, dass man ‚offensichtlich’ nicht steigern sollte, wenn man als Experte mit Sprache arbeitet.

Dass die Dilettanten in diesem Band tatsächlich auf der anderen Seite sitzen, kann den Texten, die sie mit ihren unfundierten Werturteilen umgeben, gleichgültig sein. Das Bild kann trotzdem gut sein, auch wenn der Rahmen nicht viel taugt. Dennoch wäre es für interessierte Leser wohl besser, sie würden nach einer anderen, am besten nach der vierbändigen, antiquarisch günstig erhältlichen (auf die Edition bei Hanser zurückgehenden) Ullstein-Ausgabe der Theaterkritiken Fontanes greifen, die nicht eine zweifelhafte Auswahl mit anzweifelbaren, ahistorischen Werturteilen verbindet.

 

Stefan Neuhaus, 15.04.2019