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Der Zeitungskellner macht Siesta

Ferdinand Hardekopfs "Briefe aus Berlin". Von Marc Reichwein

 

Ferdinand Hardekopf: Briefe aus Berlin. Feuilletons 1899–1902. Hrsg. von Bernhard Echte. Nimbus, Wädenswil, 2015. 224 S. ISBN 9783038500155. Preis [A]: 20,40 €

 

Allein schon für den Zeitungskellner lohnt sich dieses Buch. Sonntags, im Sommer, wenn „’tout Berlin’ sein Gebiet verlassen und es dem Provinzpublikum abgetreten [hat]“, passiert auch in den Berliner Kaffeehäusern nichts: „der Zeitungskellner mag ruhig Siesta halten; niemand verlangt von ihm das ‚Journal amusant’ oder die ‚Vie parisienne’, diese unheilige Gartenlaube der Lebewelt, die Feinschmecker des Journalismus bleiben zu Hause hinter herabgelassenen Stores […].“ (S. 20)

Eine hübsche Szene, die nicht nur Aufschluss über Mediengebrauch, sondern Kunde von der Großstadt gibt. Autor der Briefe aus Berlin, die zwischen 1899 und 1902 in der Eisenacher Tagespost zu lesen waren und nun eine mustergültig besorgte Auswahl-Edition im Nimbus-Verlag bestücken, ist der Feuilletonist und Übersetzer Ferdinand Hardekopf (1876-1954).

Hardekopf, gebürtig aus dem Oldenburgischen, wuchs in Leipzig auf. Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg machte er sich einen Namen als Literatur- und Theaterkritiker für Die Schaubühne, die Münchner Neuesten Nachrichten und das Expressionisten-Organ Die Aktion. Nach 1916 agierte er als Teil der Zürcher Dadaisten. Ab 1922 lebte er in Paris und übertrug Werke von Balzac und Gide, Malraux und Zola ins Deutsche.

Obwohl zu seiner Zeit hochgelobt („Hardekopf ist, glaube ich, unser bester Übersetzer aus dem Französischen“, überliefert Wikipedia als Ausspruch von Thomas Mann), geriet Hardekopf nach seinem Tod in Vergessenheit, zumal als Kritiker. 1997 erschien ein Band mit seinen Theaterkritiken aus der Schaubühne; die jetzt vom Robert-Walser-Detektiv Bernhard Echte herausgegebenen (und zuvor natürlich wieder mal aufgespürten!) Hardekopf-Briefe aus Berlin sind ein feuilletonphilologischer Leckerbissen. Das hat zuallererst mit dem entlegenen Publikationsort zu tun. Die Eisenacher Tagespost dürfte kein überregional austrahlendes Qualitätsmedium für Kulturjournalismus gewesen sein. Die hauptstädtische Autorschaft Hardekopfs in dieser Kreisklasse beruhte auf Feldbeziehungen: Hardekopfs Vater (seinerseits Textil-Einzelhändler und politisch freisinnig eingestellt) kannte den liberalen Politiker und eben auch Herausgeber und Eigentümer der Eisenacher Tagespost: Philipp Kühner.

Pures Vitamin B bilden Ferdinand Hardekopfs Eisenacher Texte aber gleichwohl nicht ab. Vielmehr lenken sie den Blick auf zweierlei. Erstens geben sie Anschauung im Feuilletongenre des Briefs, das Heine, Börne und Kerr etabliert haben. „Der Brief ist für den Auslandskorrespondenten feuilletonistischer Prägung nach wie vor die beste und beliebteste Form für zwanglos geplauderte Berichte“, definiert Wilmont Haacke in seinem Handbuch des Feuilletons und umschreibt die Gattung noch 1952 als ein idealtypisch „frisches Gebräu aus Tatsachen und Einfällen“.[1]

Das Genre des anlasslosen, geplauderten Korrespondentenberichts entfaltet Charme – erst recht vor unserer heutigen Gegenwart, in der selbst die FAZ ihre klassischen Kulturkorrespondenten-Posten weitgehend abgeschafft hat und es insgesamt weniger auf die journalistische Kontinuität eines permanent Abgesandten als auf Event-Bloggerei zu bestimmten Anlässen (Filmfestspiele, Buchmessen, Literaturfestivals) anzukommen scheint.

Damit wären wir beim zweiten Punkt: Hardekopfs Briefe für die Eisenacher Tagespost ermöglichen wertvolle Einblicke in eine weitgehende terra incognita der Feuilletonforschung: die Praxis der Provinzpresse. Schon die Tatsache, dass die Eisenacher Tagespost sich eine Rubrik namens Briefe aus Berlin hielt, ist vielleicht gar nicht so singulär, wie es auf den ersten Blick scheint. Willkürliche Beispiele aus anderen Provinzen des deutschsprachigen Raums zeigen, dass kleine Blätter durchaus etablierte Genres und Konzepte aus der Hauptstadtpresse kopierten und adaptierten. So leistete sich die Leipziger Allgemeine Zeitung 1921 mit Erdmann Graeser einen eigens aus Berlin angeworbenen Flaneur (Hintergrund: Der Ullstein-Konzern hatte das Blatt frisch in seinem Portfolio und wollte den etablierten Leipziger Neuesten Nachrichten ein bisschen feuilletonistische Konkurrenz machen). Vergleichbar, wenn auch geografisch ganz woanders gelagert, versorgte Anfang des 20. Jahrhunderts die Grazer Montagszeitung ihr heimisches Publikum mit Korrespondentenberichten von der Spree.[2]

Wichtigster Grund für die von der Gründerzeit bis zum Ende der Weimarer Republik anhaltende Berlin-Konjunktur in den deutschsprachigen Feuilletons ist natürlich der rasante Bevölkerungszuwachs. Die ehemals belächelte preußische Hauptstadt war zur allseits bestaunten Weltmetropole geworden. Der damit verbundene Imagewandel spielt auch eine Rolle in Hardekopfs Briefen aus Berlin. Etwa im Hinweis, wie lange man Berlin „mit dem Schlagwort von der ‚Streusandbüchse des Heiligen Römisches Reiches’ […] diskreditiren konnte“ (S. 22).

Was – sowohl in den Korrespondentenberichten von Hermann Kienzl für die Grazer Montagszeitung als auch in Hardekopfs Briefen für die Eisenacher Tagespost – auffällt, ist die Offenheit für lebensweltliche Themen. So stellt sich zur sommerlichen Jahreszeit die Frage, ob „dieses Groß-Berlin, das Monstrum mit fast vier Millionen Seelen“, überhaupt „genug frische Wald- und Wiesenluft für seine Riesenanlage“ habe.[3]

Hat es, befinden sowohl Kienzl wie Hardekopf, die das Phänomen der Naturschwärmerei als Ereignis der Massenkultur szenisch auswaiden: „Da wird dann im Walde unter den hohen märkischen Föhren Rast gemacht, und da der Berliner aus dem Volke von Natur nicht übermäßig feinfühlig ist, so ist bald der ganze Grunewald mit dem Papier der zum Picknick mitgebrachten ‚Butterstullen’ überschwemmt.“ (Hardekopf, S. 21). Vom riesigen „Freilager“ im „dichten Föhrenschatten des Grunewaldes“ berichtet latent spöttisch auch der Grazer Feuilletonkollege: „Die Poesie des lauschigen Versteckes und der Heimlichkeit des Waldes hat sich in der Nähe von Berlin, wie manche andere Lyrik, längst verflüchtigt. Der schreitende Fuß hat bei jedem Schritt zu achten, dass er nicht ein Baby oder ein Liebespaar zertrete.“[4]

Das Themenreservoir von Hardekopfs Briefen ist groß: Kommentare zur Theatersaison, Berichte zu den Kunstsalons und Varietés finden ebenso statt wie Bemerkungen zur literarischen Produktion: „Auf dem Gebiete des Berliner Romans ist überhaupt seit Fontane’s [sic] Tode wenig geleistet worden. Das Gute, was uns die letzte Zeit bot, kam vielmehr von München.“ (S. 99)

Hardekopf stellt Betrachtungen zur Berliner Kaffeehauskultur an, und er macht Einlassungen zur literarischen Topografie Berlins: „Nehmen  Sie, bitte, Kürschners Litteratur-Kalender zur Hand: da werden Sie finden, daß ‚man’ (d.h. der Litterat) nicht in Berlin wohnt, sondern in Friedenau, Steglitz, Wilmersdorf, Charlottenburg oder gar in Friedrichshagen, am schönen Müggelsee.“ (S. 78)

Anerkennung zollen die Briefe aus Berlin einem berühmten Kollegen: „Niemand in Deutschland schreibt einen so persönlichen Stil, wie Herr Dr. Kerr alias Kempner aus Breslau. […] Seine Einfälle sind oft Ausfälle und Überfälle, nie Abfälle. Sein Stil ist lächerlich kokett und immer geziert. Aber nie langweilig.“ (S. 87).

Indem Hardekopf seine Eisenacher Leser über Kerr und seine Berliner Briefe unterrichtet und indem er gleichzeitig ein- bis zweimal monatlich selbst Briefe aus Berlin schickt, schreibt er sich feldstrategisch in die Position eines Kerrs für Eisenach ein. Überhaupt beherrscht Hardekopf es ganz hervorragend, seinen Lesern auf Augenhöhe zu begegnen. So übt er harsche Kritik am Berliner Lesevolk, das „mit […] Inbrunst […] diese breiten Bettelsuppen der Litteratur und des Journalismus verspeist […]: Jedes Provinzpublikum würde das entrüstet zurückweisen, was der Berliner sich jeden Morgen und Abend von seinem Leib- und Magenblatt mit Behagen auftischen läßt.“ (S. 25)

Der Schreibstil von Hardekopf beweist Könnerschaft bis in die Komposition der einzelnen Briefe. Er führt immer originell zum Thema hin, kommt schnell auf den Punkt und schreibt stets auf der Diskurshöhe der Zeit. Spielerisch knüpft er beispielsweise an Richard M. Meyer und dessen „vielgelesene“ Studie „Die deutsche Literatur im XIX. Jahrhundert“ an: Meyers Masche, jedes Jahrzehnt mit besonderen Signaturen (Etikettierungen für den literarischen Zeitgeist) zu versehen, nimmt Hardekopf zum Anlass, „der noch jungen Berliner Saison 1900/1901 ihre Signatur [zu] prophezeien“ (S. 71). Ein sehr feuilletontypische, weil einerseits ironische, andererseits aber doch auch performative Geste, mit der genau das, von dem man sich distanziert, als eigener Sprechakt vollzogen wird.

Kurzum: Wer einen Reigen an plastischen Berlin-Themen um 1900 genießen will, wird in Ferdinand Hardekopf einen stilistisch ansprechenden und unterhaltsamen Botschafter seiner Zeit kennenlernen. Der kluge Anmerkungsapparat am Ende des Buches assistiert bei fast allen zeithistorischen Bezügen von der preußischen Duzentenarfeier bis zu den Burengenerälen, die trotz ihrer Niederlage gegen die Briten im 2. Burenkrieg 1902 jubelnd in Berlin empfangen wurden. Hier bleiben keine Wünsche offen.

Einziges Manko dieses mustergültig edierten und gefällig gestalteten Büchleins: Man hätte, wo man schon Abbildungen integriert hat, einmal – exemplarisch – auch den Publikationskontext der Eisenacher Tagespost reproduzieren können. Wie sahen Hardekopfs Briefe aus Berlin am Originalort aus? Standen sie in einer Spalte oder unter dem Strich? Der Länge nach handelt es sich bei Hardekopfs Beiträgen jedenfalls nicht um die klassische ‚Kleine Form’. Zukünftige Forschungen zur Genrekunde im Zeitungsfeuilleton können und sollten durchaus noch stärker die Medienumgebung mitbedenken.

Marc Reichwein, 27.07.2016

 

Anmerkungen:

[1] Wilmont Haacke: Handbuch des Feuilletons. Band 2. Emsdetten: Lechte 1952, S. 150.

[2] Vgl. Christian Teissl: Von der Mur an die Spree. Hermann Kienzl (1865-1928), Grazer Publizist in Berlin. In: Steirische Berichte. Zeitschrift für Erwachsenenbildung und Kulturarbeit, hg. vom Steirischen Volksbildungswerk. Nr. 2/2015, S. 42-45.

[3] Kienzl, zitiert nach Teissl (wie Anm. 2), hier S. 43.

[4] Kienzl (wie Anm. 3).