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Adieu, Expert*innen!

Ein Sammelband über digitale Rezensionen macht jedes Spezialwissen überflüssig. Von Stefan Neuhaus

 

Rezensiv. Online-Rezensionen und Kulturelle Bildung. Hrsg. von Guido Graf, Ralf Knackstedt und Kristina Petzold. Bielefeld: transcript 2021. (Digital Humanities, Bd. 2). ISBN: 978-3-8394-5443-5. Online verfügbar als Open-Access-Publikation.

 

„Vom ‚Flauschgewitter‘ bis zum ‚Shitstorm‘, vom Like zum Dislike und vom Algorithmus über die Sternebewertung bis hin zu Copy and Paste: Online-Rezensionen sind vielfältig, medienspezifisch und haben nicht nur Einfluss auf so manche Kaufentscheidung, sondern auch auf die Auseinandersetzung mit Kunst und Literatur im digitalen Raum“ (S. 15). So beginnt der erste Beitrag des Bandes, zugleich eine Einführung in das Forschungsprojekt „Rez@Kultur“, das vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert worden ist, durch die Herausgeber*innen des Bandes, Guido Graf, Ralf Knackstedt und Kristina Petzold. Der zitierte erste Satz bietet Licht und Schatten. Er umreißt ein Spektrum, dessen Breite und Relevanz niemand ernsthaft bestreiten wird. Zugleich wird hier Heterogenes in einen Topf geworfen und schon die fehlende Unterscheidung von „Online-Rezensionen“ und Texten, die eine „Kaufentscheidung“ beeinflussen sollen (ebd.), lässt aufhorchen. Aus Sicht der Literaturwissenschaft ist zwischen literarischen Texten und anderen Produkten eine Grenze zu ziehen und folglich auch zwischen Rezensionen und Kundenbewertungen, wie sie sich etwa auf Amazon finden. Würden Amazon-Kundenbewertungen mit Rezensionen gleichgestellt, dann würde jedem Spezialwissen eine Absage erteilt; die Romane und Erzählungen Franz Kafkas beispielsweise wären weniger kulturell bedeutsam als die Romane von E.L. James. In dem Fall könnte man auch die Unterschiede zwischen Sterne- und Burger-‚Restaurant‘ ebenso aufheben wie zwischen allen anderen qualitativen Differenzierungen, die auf Expert*innenwissen basieren.

Auch der zweite Satz der Einleitung macht es nicht besser: „Nicht zuletzt können sie [die Online-Rezensionen] Orte der Bildung sein. Wer beispielsweise ein Buch oder ein Gemälde online rezensiert, wird dabei vielleicht dazu angeregt, über Inhalte, ästhetische Form und eigene Bewertungskriterien nachzudenken“ (ebd.). Wer sich die Kundenbewertungen der Werke Kafkas bei Amazon ansieht, wird nicht der Meinung sein, dass die Lektüre dieser Werke bei den meisten Verfasser*innen der Kundenbewertungen einen Bildungsprozess in Gang gesetzt hätte. Die „Prozesse der Rezeption als kulturelle Praxis und der Produktion von Rezensionen bzw. rezensiven Texten“ (S. 16) zu untersuchen funktioniert eben nicht ohne kritische Reflexion, mit der eine solche Praxis nicht nur beschrieben und emphatisch begrüßt, sondern auch gefragt wird, welche problematischen Seiten sie hat. Damit soll keine kulturpessimistische Position vertreten werden, denn dass die Veränderungen der Bewertungspraxis Vorteile haben, auch weil sie Machtkonzentrationen entgegenwirken (vgl. dazu den Beitrag von Thierry Chervel auf S. 297ff.), dürfte außer Frage stehen.

Die offenbar zentral gesetzte Erkenntnis des vorliegenden Bandes wird von Graf und Petzold formuliert, es wird nun „statt von Rezensionen von rezensiven Texten“ gesprochen (S. 29). Allerdings wird der Textbegriff im Kontext der Medien, auf die er hier bezogen wird, nicht reflektiert und die Adjektivbildung wird auch nicht näher begründet, so dass es doch sehr den Anschein hat, als ginge es mehr um Kosmetik als um Inhalte. Entsprechend konzentrieren sich die Beiträge des Bandes vor allem „auf Motivationen von Leser_innen“, allerdings gerät aus dieser Perspektive die besondere Ästhetik von literarischen Texten aus dem Blick, für die es ein geschultes Auge braucht – weshalb es überhaupt ein Literaturstudium gibt.

Aus der Perspektive einer empirischen Forschung scheinen aber nur deren Voraussetzungen einer möglichst gut belegbaren Quantifizierbarkeit interessant zu sein. So lässt sich ein „Mehr-Ebenen-Kategoriensystem“ (Beitrag von Kristin Kutzner, Kristina Petzold und Ralf Knackstedt; S. 59) entwickeln, das von den Themen und Gegenständen der ‚Rezensionsobjekte‘ fast vollständig zu abstrahieren in der Lage ist. Fragen wie jene nach dem „Bildungseffekt“ (ebd.) sind nun den Rezipient*innen zur Beantwortung übergeben, ganz gleich, welches Vorwissen sie haben oder eben nicht haben. Jede Auseinandersetzung mit kulturellen Artefakten wird zu „ästhetische[n] Erfahrungen“ (S. 102) deklariert und der so ins Unendliche erweitere Erfahrungsraum wird euphemistisch für „Kulturelle Bildungs- und Teilhabeprozesse“ in Anspruch genommen (S. 77). Das Spezialwissen kommt von selbst, durch eigene Zuschreibungspraxis: „Rezensent_innen positionieren sich mit ihrem Text als Expert_innen“ (Beitrag von Vanessa-Isabelle Reinwand Weiss und Claudia Roßkopf; S. 86). Sie werden so, im digitalen Raum, automatisch zu „Vermittler_innen“ (S. 89), ohne dass eine Expertise nachgewiesen werden muss.[1] „Kunst“ (S. 107) ist ganz einfach nur das, worüber als Kunst geschrieben oder gesprochen wird. Es gilt zwar, etwas genauer hinzusehen: „Es ist nicht trivial, die in rezensiven Texten behandelten Themen zu identifizieren“ (Beitrag von Kristin Kutzner, Anna Moskvina, Ralf Knackstedt und Ulrich Heid; S. 193). Aber wenn man die Themen zumindest im Blick behält und solange „Korpora“ (S. 197 u.a.) zwecks Auswertung zur Verfügung stehen, kann die – oft als hinderlich empfundene – Form endlich zurückstehen und die „Perspektive der Literaturwissenschaft“ (Beitrag von Kristina Petzold und Guido Graf; S. 245) kann die seit dem 18. Jahrhundert mühsam, an der Schnittstelle zur Philosophie verhandelten Fragen nach der besonderen Ästhetik von Literatur als alte Hüte des vordigitalen Zeitalters endlich verabschieden. Auf die Frage „Kunst oder Kitsch“ (S. 247) lässt sich vielleicht nicht ganz verzichten, doch reicht es heute wohl, auf diese früher wichtige Unterscheidung einmal hingewiesen zu haben.

Wer nun denkt, die Wahrnehmung von Kunst und Literatur sei geistig endlich barrierefrei, wird aber eines Besseren belehrt: „Digitale Räume, wie sie durch Rezensionsplattformen und Blogs geschaffen werden, schaffen Schnittstellen zu anderen Usern, Gleichgesinnten, Kommentator_innen, Diskussionspartner_innen – schaffen aber auch notwendige Grenzziehungen und zu überwindende Hürden“ (S. 100). Selbst der kleinste Wissensvorsprung – ich habe das Buch schon gelesen, Du nicht – kann also zur Hürde werden. Der Demokratisierung des Rezensionswesens sind, auch wenn alles Spezialwissen und jede akademische Ausbildung als hinderlicher Ballast im Vorfeld entsorgt wird, offenbar immer noch Grenzen gesetzt. Nun warten wir auf das nächste drittmittelgeförderte Projekt, das hoffentlich endlich auch diesen Teilhabehindernissen den Garaus macht. Vielleicht ließen sich die Bücher und die anderen kulturellen Artefakte selbst abschaffen und die Rezensionen integrieren bereits deren Inhalte und Formen. Wir sind gespannt auf weitere Publikationen über die unbegrenzten digitalen Möglichkeiten des Rezensiven. Die Aufforderung, „Teilhabe neu denken“ (S. 114), richtet sich an alle außerhalb des Elfenbeinturms. Die ersten und wichtigsten Grundlagen dafür sind nun endlich im vorliegenden Band beschrieben worden. Nieder mit jeder kritischen Theorie, es lebe die Empirie – so geht Demokratisierung durch Digitalisierung nun auch in der Wissenschaft.

Das war Ironie (im sich überbietenden emphatischen Zugriff auf die angebliche Realität heute leider ein eher wenig geschätztes Stilmittel). Dieser Text soll aber nicht als veritabler Verriss enden. Tatsächlich hat die traditionelle Literaturwissenschaft ein Legitimitätsproblem, weil sie die empirische Forschung so lange vernachlässigt hat und auch immer noch vernachlässigt. Außerdem sind Appelle wie jener für „Räume für Artikulationen, die Akteur_innen im Praxisfeld der Kulturellen Bildung sowohl schaffen als auch (mit-)gestalten können und sollten“ (S. 272), durchaus sympathisch und „Teilhabe“ (S. 273) ist eine wichtige Voraussetzung jedes demokratischen Gemeinwesens. Für „einen herablassenden Blick etwa aufs Genre der Nutzerkritik“ (Thierry Chervel, S. 301) ist kein Anlass, aber auch nicht für einen herablassenden Blick auf lange etablierte Fächerkulturen. Es wäre schade, das Wissen und die Expertise aktiv zu ‚vergessen‘, die es in jenen nicht vorrangig empirisch arbeitenden Fächern gibt, die seit mehr als zweihundert Jahren über Grundlagen des Beurteilens ästhetischer Gegenstände nachdenken.[2]

 

Stefan Neuhaus, 02.02.2022

 


[1] Zum Prozess der Literaturvermittlung vgl. etwa Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literaturbetrieb in der Bundesrepublik Deutschland. Ein kritisches Handbuch. 2., vollst. veränd. Aufl. München: Edition text + kritik 1981; Gebhard Rusch: Literaturvermittlung. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart u. Weimar: Metzler 1998, S. 328f.; Bodo Plachta: Literaturbetrieb. München: Fink 2008 (UTB, Bd. 2982); Stefan Neuhaus: Literaturvermittlung. Konstanz: UVK 2009 (UTB, Bd. 3285: Literaturwissenschaft).

[2] Vgl. etwa Norbert Mecklenburg: Wertung und Kritik als praktische Aufgaben der Literaturwissenschaft. In: Peter Gebhardt: Literaturwissenschaft und literarische Wertung. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1980 (Wege der Forschung, Bd. 334), S. 388-411.