Was ist eigentlich nicht Kritik?
Was ist Kritik? Herausgegeben von Rahel Jaeggi und Tilo Waesche. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2009. 375 S. ISBN 978-3-518-29485-7. Preis [A]: € 14,40Sammelbände haben bekanntermaßen Stärken und Schwächen: Auf der einen Seite sind die Beiträge meist relativ unzusammenhängend, ihre Qualität schwankt und dieselben grundlegenden Feststellungen werden zu Beginn jedes Aufsatzes wiederholt. Auf der anderen Seite ist man mit einer Fülle verschiedener Ansichten, Zugänge und Stile konfrontiert und der eine oder andere Aufsatz ist es immer wert, gelesen zu werden.
Der vorliegende Band basiert auf einer Handvoll Vorträgen, die auf dem Symposion „Immanenz und Transzendenz – Konstellationen philosophischer Kritik“ 2006 in Basel gehalten und um einige weitere einschlägige Aufsätze sowie ein Interview erweitert wurden. Aus den unterschiedlichen Titeln geht bereits hervor, dass der Fokus durch die hinzugefügten Beiträge breiter geworden ist: Obwohl noch immer die Philosophie im Vordergrund steht und die Frage der Immanenz ausgiebig diskutiert wird, werden auch psychotherapeutische und soziologische Konzepte herangezogen. Dass dabei von Literaturkritik nirgends die Rede ist, muss nicht bedeuten, dass nicht auch für sie Erkenntnisse zu gewinnen sind.
Bei der Lektüre der Texte wird nämlich schnell klar, dass die titelgebende Frage eigentlich falsch gestellt ist. Was Kritik sei, wird (zum Glück) in keinem der Beiträge eindeutig beantwortet. Dagegen wird theoretisch argumentiert und praktisch vorgeführt, wie Kritiken sein können, welcher Verfahren sie sich bedienen können, ob sie Alternativen vorführen, also konstruktiv sein müssen, von welchen Positionen aus Kritik geübt werden kann usw. Auch die – meines Erachtens etwas irrigen – Fragen, was Kritik darf oder muss, werden nicht ausgespart. Die Blickwinkel und Bereiche sind dabei aber untereinander zum Teil so verschieden, dass sich nach dem Lesen schon fast die Gegenfrage aufdrängt: Was ist eigentlich nicht Kritik?
Auffällig ist außerdem ein weiteres unhintergehbares Moment von (Wissenschaft als) Kritik: die Rolle der Autorposition. Denn auch wenn klar sein sollte, dass Kritik immer subjektiv ist, so ist es doch erstaunlich, wie oft versucht wird, diesen Umstand hinter der Maske des scheinbar Wissenschaftlich-Objektiven zu verbergen. Selbst der wohl schwächste Aufsatz des Bandes, Raymond Geuss' Spekulationen über den Begriff des Bürgerlichen und dessen Gegenspieler, kann insofern noch Erkenntnisgewinn bringen, als Geuss seine beinahe aufdringliche Subjektivität sprachlich auch als solche kennzeichnet („Der Künstler oder Bohemien kann über den Bürgerlichen die Nase rümpfen, weil er sich auf die Tatsache verlassen kann, dass jener letztendlich die Beschaffung von Nahrungsmitteln und anderen Gütern und Dienstleistungen organisiert, ohne die der Bohemien nicht existieren könnte“).1
Andere Beiträge dagegen können für Leserinnen und Leser mit literaturkritischem Interesse viel direktere Denkanstöße bieten, auch wenn sie eigentlich auf andere Bereiche abzielen. So bietet zwar Martin Saars absolut lesenswerter Text über die genealogische Kritik bei Nietzsche und Foucault leider kaum Ansätze zur Anwendung auf die Literaturkritik,2 dafür ist Judith Butlers Foucault-Essay aus dem Jahr 2000 in meinen Augen eine Fundgrube für Einsichten in die Wirkungsweisen von Kritik: Butler betont nämlich, wie Foucaults Art, Kritik zu betreiben, darauf abzielt, die herrschende Ordnung zu hinterfragen und Konzepte einer Neuordnung zu entwerfen. Wäre es – so gesehen – nicht auch eine Aufgabe der Literaturkritik, zu einer ausgewogeneren Machtverteilung im literarischen Feld beizutragen, anstatt mit den obligatorischen Besprechungen aller Neuerscheinungen von ohnehin etablierten AutorInnen verfestigte Machtpositionen noch zu bekräftigen? Trägt also nicht die praktizierte Literaturkritik im Gegenteil dazu bei, die Verhältnisse im literarischen Feld zu stabilisieren, indem sie die Anzahl der Kritiken immer proportional zum Prestige der AutorInnen hält?3
Auch Emil Angehrn liefert mit seinem Beitrag über Hermeneutik und Kritik Material für Literatur-, Kritik- und Literaturkritikinteressierte, wenn er die grundsätzliche Möglichkeit des Verstehens anhand seines Gegenpols, des Nichtverstehens, untersucht: Sollte die Grunderfahrung unserer Existenz – wie es Angehrn zumindest nahelegt – nicht das Verstehen, sondern das Nichtverstehen sein, was bedeutet das dann für unsere Art zu Lesen und zu Schreiben? Können wir Texte überhaupt verstehen? Brauchen wir sie als Sinnlieferanten in einer unverstandenen, vielleicht sogar unverstehbaren Welt? Ist die Klage über den unverstandenen oder sinnlosen Text vielleicht nur die verschobene Klage über „die Sinnlosigkeit und den Widersinn in der Welt“?4
Die großen Denker haben übrigens alle ihre Auftritte: Gadamer, Habermas, Kant, Foucault, Nietzsche, Marx, Horkheimer, Weber usw. werden wann immer möglich herbeizitiert, um die eigene Meinung zu bekräftigen. Zudem kann das Textkonvolut mit literarischen Texten konkurrieren: Der Beitrag von Hartmut Rosa beispielsweise, der den Band eröffnet, zeigt die praktische Seite der Kritik, indem er die Versprechen der Moderne überzeugend gegen sie selbst ausspielt – ein Unterfangen, das ein gesellschaftskritischer Roman kaum konsequenter ausführen könnte. Einzig die Sprache der meisten Beiträge ist wenig poetisch, aber vielleicht überschreitet die Anwendung dieses Kriteriums in dem Fall schon die Grenzen dessen, was Kritik darf.5
Gerhard Scholz, 01.03.2010
Anmerkungen:
1 S. 171 des besprochenen Bandes; Hervorhebungen GS.
2 Es wäre zwar vielleicht ein lohnendes Unterfangen, eine Genealogie der Literaturkritik zu formulieren, aber es kann nicht Aufgabe der Kritik sein, Genealogien von Literaturen zu entwerfen.
3 Ein interessantes Gegenbeispiel zu dieser Praxis bietet der Filmkritiker von Perlentaucher und notorische Sprachakrobat Ekkehard Knörer, dessen Kniff darin besteht, dass er fast immer einen Mainstream-Film und einen Underground-Film rezensiert, wobei er die Stärken des Letzteren konsequent gegen die Schwächen des Ersteren ausspielt.
4 S. 331 des besprochenen Bandes in einem – zugegeben – etwas anderen Kontext.
5 Während in manchen Beiträgen Fragen gestellt werden, ob Kritik dies und das muss oder darf, tendiere ich zu einer Tucholsky‘schen Antwort: Was darf Kritik? Alles.