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Der Bürger und die Nation

Christoph Grubes Untersuchung zum literarischen Kanon und seiner Rolle. Von Nicolai Glasenapp

 

Christoph Grube: Warum werden Autoren vergessen? Mechanismen literarischer Kanonisierung am Beispiel von Paul Heyse und Wilhelm Raabe. Bielefeld: transcript 2014 (Lettre). ISBN: 978-3-8376-2852-4. Preis [A]: € 36,00

 

Im Titel seiner 2014 erschienenen Dissertationsschrift formuliert Christoph Grube die Frage, warum Autoren vergessen werden. Tatsächlich bezieht sich ein Großteil seiner Untersuchung jedoch nicht primär auf Prozesse der Dekanonisierung, sondern entfaltet einen literaturgeschichtlichen, wenn nicht gar literaturpolitischen Hintergrund, vor dem die Kanonisierung der Autoren Paul Heyse und Wilhelm Raabe beleuchtet wird. Einen ersten Hinweis auf die Perspektive Grubes bietet an dieser Stelle bereits, dass Autoren fokussiert werden und nicht etwa Texte oder Textkonvolute, wobei der Begriff des Gesamtwerks oder Oeuvres natürlich implizit immer auch einen damit verbundenen Verfasser aufruft. Die Rückbindung an Autoren oder vielmehr an deren Porträts und ‚Images‘, wie sie im Rahmen von Literaturgeschichten und Literaturkritik konstruiert und historisch etabliert werden, stellt nach Grube den entscheidenden Faktor für Kanonisierungsprozesse dar, wohingegen er textimmanenten Merkmalen in diesem Zusammenhang die Relevanz abspricht. Methodisch ist die Arbeit einer historischen Kanonforschung verpflichtet. Überblickt man ihren Aufbau, kann man angesichts der vorherrschenden Verhältnisse etwas überrascht sein, kommt doch der beispielhaften Auseinandersetzung mit Heyse und Raabe weniger als die Hälfte der Arbeit zu, wohingegen die Entstehung und Entwicklung von Literaturgeschichte und Kanon stärker im Fokus stehen.

Grube beschreibt die Herausbildung des literarischen Kanons im deutschen Raum als invisible hand-Phänomen und folgt damit Simone Winko[1], einer ausgewiesenen Expertin für Kanonfragen und literarische Wertung. Bevor er zum eigentlichen Zeitraum und Material seiner Untersuchung gelangt, skizziert er den Weg, auf dem sich – wesentlich angeregt durch Immanuel Kant und Friedrich Schiller – ein Verständnis von Ästhetik und ästhetischem Geschmack herausbilden konnte, das sich vordergründig an Merkmalen literarischer Texte orientiert, tatsächlich aber getragen ist vom Gedanken einer ästhetischen Erziehung des Menschen zur Nationalstaatlichkeit. Literaturgeschichte – bei Grube weitgehend synonym mit Kanon – avanciert damit einerseits zu einem Mittel, um bürgerliche Identität in Deutschland zu stabilisieren und festzulegen, was guten Geschmack ausmacht, andererseits erfüllt sie die Funktion, Geschichte zu einem Narrativ oder ‚Erzählkontinuum‘ zu ordnen, wenn im Sinne Georg Wilhelm Friedrich Hegels der spezifische Geist einzelner Epochen herausgearbeitet und so historische Einmaligkeit zur Norm gesetzt wird.

Jene ‚unsichtbare Hand‘, die hier am Werke ist, erweist sich also vor allem als politisch motiviertes Streben nach nationaler Identität. Die Kanonisierung von Werken im Rahmen von Literaturgeschichten gleicht einer Selbstvergewisserung, ihre leitende Figur ist die Entelechie. Unterbelichtet bleibt in diesem Zusammenhang, ob die durch Literaturgeschichten kanonisierten Werke dem Gedanken der Nationalstaatlichkeit zuträglich waren und selbst dazu angetan waren, diesen zu befördern, beziehungsweise dies auch im Rahmen ihrer Rezeption realisierten.[2] Den Begriff des literarischen Kanons, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausbildete, setzt Grube mit dem heutigen gleich, auch wenn er einen Wandel des Phänomens Kanon analog zum gesellschaftlichen Wandel einräumt. Wenn aber das Phänomen Kanon einem Wandel unterliegt, sodass es heute nicht identisch mit jenem des 19. Jahrhunderts ist – was in Verbindung mit einer historischen Perspektive nur einleuchten muss –, so stellt sich die Frage, ob die Mechanismen literarischer Kanonisierung nicht ebenfalls wandelbar sind, jene des 19. Jahrhunderts also nicht ohne Weiteres auf die Gegenwart zu übertragen sind, wie Grube in seinem Schlusswort andeutet.

Es folgt eine Auseinandersetzung mit vierunddreißig akademischen Literaturgeschichten aus dem Zeitraum von 1875 bis 1918 von Verfassern wie Robert Koenig, Eugen Wolff, Richard Moritz Meyer, August Friedrich Christian Vilmar, Adolf Bartels oder Josef Nadler hinsichtlich ihrer tragenden Ideen und jeweiligen Konzeptionen. Um ein Verständnis für die Charakteristik dieser Bücher zu schaffen, hebt Grube jedoch auch Tendenzen der Literaturhistoriographie vor 1875 hervor, zum Beispiel in Form der Arbeiten von Georg Gottfried Gervinus, Robert Eduard Prutz, Rudolf von Gottschall oder Julian Schmidt, wobei Paul Heyse und Wilhelm Raabe hier vermutlich noch nicht die entsprechende Erwähnung fanden, weshalb diese Veröffentlichungen nicht zum eigentlichen Textkorpus der Arbeit zählen. Trotz wechselnder Prägungen durch Idealismus, Realismus, einen vornehmlich Daten und Quellen anhäufenden Empirismus, eine Relativierung der Literaturgeschichte als Narrativ und eine Erweiterung von Autorendarstellungen, indem ausgiebig aus ihren Dokumenten und Schriften zitiert wird, um damit die Stimme der Autoren zu simulieren und so für Literaturgeschichten einen größeren Eigenwert zu generieren, steht gemäß Grube am Ende dieser Veränderungen konstant und unbeeinträchtigt die Funktion einer Selbstbestätigung bürgerlicher Identität durch den Kanon. Dieser Befund wird auch für populäre Literaturgeschichten und die Literaturkritik wiederholt.

Schließlich betrachtet Grube die Darstellung der beiden Autoren Paul Heyse und Wilhelm Raabe innerhalb der ausgewählten Literaturgeschichten. Dabei fördert er zutage, dass für die Beschreibung ihrer Werke die immer gleichen Wendungen zum Einsatz kommen, die letztlich ein bestimmtes Bild des jeweiligen Autors transportieren, etwa wenn Heyse hinsichtlich formaler und sprachlicher Gestaltung besonders gelobt, aber als aristokratisch sowie amoralisch und antireligiös bezeichnet wird. Auch bei Raabe kommt es zu im Kern identischen Aussagen – zum Beispiel, dass Raabe ein Humorist, aber auch Pessimist sei, er in einer literarischen Verwandtschaft mit Jean Paul und E.T.A. Hoffmann stehe oder dass er gemütvoll sei. Allerdings werden die genannten Eigenschaften bei ihm im einen Fall negativ, im anderen positiv gewendet. Gewiss fällt an den Beschreibungsformeln der damaligen Literaturgeschichten auf, dass sie häufig den Autor avisieren und ihn pars pro toto mit seinen Texten identifizieren, ihm selbst also Qualitäten und Mängel zuschreiben. Dessen ungeachtet macht Grube keinen Unterschied zwischen Attributen und Wertungen, die konkret auf Werke oder Autoren bezogen werden. Dieser Aspekt mag nicht recht in den Gedanken einer Konstruktion von Autoren-‚Images‘ passen und wird offenbar deshalb ausgeklammert. Gleichwohl fällt auf, dass sich literarische Werturteile in nahezu gleicher Form reproduzieren und damit im Rahmen einer Kanonisierung qua der untersuchten Literaturgeschichten keine distinktive Funktion mehr ausüben, ergo reproduktiv sind, statt Kanonisierungsprozesse durch ihre Diversität zu dynamisieren. Der Kanon reproduziert bzw. stabilisiert sich damit.

Weiterhin konstatiert Grube, dass die entstandenen Topoi zur Beschreibung der Autoren auch in den Literaturgeschichten nach dem untersuchten Zeitraum von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1918 Kontinuität aufweisen, wo Heyse und Raabe Erwähnung finden. Die mit literarischen Beurteilungen einhergehenden Werte begreift Grube schließlich als einem bürgerlichen Selbstverständnis verpflichtet. Sie setzen sich dezidiert von der Sphäre des Adels ab, besonders griffig, wenn Heyses Aristokratismus kritisiert wird. Mit anderen Worten heißt das: Heyse werde unter negativen Vorzeichen kanonisiert, weil er zu wenig vereinbar mit bürgerlichen Werten sei, Raabe hingegen entspreche dem bürgerlichen Wertekonsens und werde deshalb positiv rezipiert. Ästhetische Werturteile seien damit nur der Deckmantel für bürgerliche Werturteile. Nun wäre allerdings zum einen die Frage zu stellen, ob spätere Literaturgeschichten nicht auch neue Topoi in Bezug auf die beiden Autoren hervorbringen, die eben nicht einem Code bürgerlicher Normen verpflichtet sind, sondern andere Aspekte in den Vordergrund treten lassen. Zum anderen verwendet Grube etwa die literaturgeschichtliche Kritik an Heyses dramatischen Arbeiten so, als ob Theater den Kritikern per se derart wichtig war, dass ein schlechter Dramenautor gar nicht erst hätte kanonisiert werden können. Dass andererseits Raabe ebenfalls nicht vornehmlich durch ein dramatisches Oeuvre hervorgetreten ist, spielt in der Argumentation Grubes keine Rolle und provoziert zumindest die Frage nach einer Hierarchie der von ihm aus den Literaturgeschichten extrahierten Topoi in Relation zur Kanonisierung einzelner Autoren.

Was folgt, sind allgemeine Ausführungen zur Bedeutung von Stereotypen, Klischees und ‚Images‘ als Pragmatisierungen für den menschlichen Umgang mit Informationen. Da der literarische Kanon auf Basis eines bürgerlichen Selbstverständnisses entstanden sei, bedeute Kanonisierung eine stete Wiederholung der immer gleichen vorgefertigten Urteile. Kanon und Deutungskanon seien damit mehr oder weniger kongruent. Und letztlich, so muss Grube verstanden werden, speise sich die kollektive Erinnerung, die sich in Form von Literaturgeschichten und der Tradierung des literarischen Kanons manifestiert, aus durch das Bürgertum hervorgebrachten Leitideen, da mit Harald Welzer auch fremde Erinnerungen das eigene Gedächtnis konstituieren können[3]. Damit ist nichts anderes gemeint, als dass man ein Werk auch dann schätzen kann, wenn man es nicht selbst gelesen hat, sondern es im Rahmen von Literaturkritik und Literaturgeschichte besonders positive Wertungen erfahren hat, nach Grube also zum Kanon gehört.

Im Anschluss wechselt Grube für ein äußerst kurzes Unterkapitel zu Autorenporträts als Mischformen von Literaturkritik und Literaturgeschichte, wo sich erneut Reproduktionen bereits eingeführter Autorendarstellungen finden lassen. Es folgt ein einseitiges Resümee, das schlicht davon spricht, dass die exponierten Mechanismen literarischer Kanonisierung auch an sich selbst und sicherlich im Zusammenhang mit weiteren Kanonisierungsprozessen noch heute festzustellen seien und man Vorsicht walten lassen solle, da man vorgeprägten Urteilen aufsitzen könnte. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, hat es über 200 vorangegangene Seiten Untersuchung wohl nicht gebraucht und es stellt sich die Frage, ob der Bezug zur Gegenwart nicht die historische Spezifik des untersuchten Zusammenhangs unterminiert, gerade wenn die Literaturgeschichten als untersuchtes Material bis zum Jahre 1918 veröffentlicht wurden und etwa ein Jahrhundert bis zur heutigen Zeit genauer zu betrachten wäre. Wie sich vor diesem Hintergrund eine Kontinuität argumentierten lässt, ist nicht ganz nachvollziehbar. Was Christoph Grube am Ende augenscheinlich aufzeigen will, ist die Problematik einer unreflektierten Adaption von Werturteilen. Diese mag es sicherlich im kleinen Stil der individuellen Bewertung von Literatur – die es nach Grube aber eigentlich nicht gibt, weil ja immer auf ein Autorenbild rekurriert wird – und im großen der Literaturgeschichtsschreibung und Literaturkritik nach wie vor geben. Die Konsequenz seiner Ausführungen wäre aber, dass jede Bewertung von Literatur korrumpiert sei durch (wenn auch unbewusst) übernommene Wertungen. Jegliche Argumentation, die einen Beitrag zur Rehabilitierung oder Kritik eines Autors leisten sollte, wäre sinnlos, weil die Statik des Kanons auf nach wie vor wirksamen ‚Images‘ beruht, deren Basis der bürgerliche Wertekanon ist. Kunst selbst stellt dann letztlich nur ein Konstrukt dar, das soziale und kommunikative Funktionen erfüllt, aber nicht mehr als ein Medium für etablierte Wertvorstellungen ist. Determiniert ist dabei vor allem das Geschichtsbild, in dem Literatur und Ästhetik lediglich als Träger für eine fortdauernde Ideologie erscheinen.

Zwar mögen die herausgestellten Mechanismen der Übernahme von Werturteilen noch immer aufzufinden sein, sie unweigerlich an einen Kanonbegriff zu binden, der seit seiner Entstehung immer statisch geblieben sei, und damit eine Longue Durée bürgerlicher Identität anzunehmen, erscheint konstruiert und wie die zwanghafte Umsetzung einer These, wäre aber in Bezug auf Literaturgeschichte und Literaturkritik ab 1918 und auf einer breiteren Basis mit mehreren Autorendarstellungen zu überprüfen. Zudem ist zu fragen, ob sich die Übernahme tradierter Autorendarstellungen nicht primär als kommunikativer Vorgang fassen lässt, der mit einer gewissen, aber keineswegs positiv zu wertenden Pragmatik seitens ihrer Verfasser zu tun hat, ohne zwangsläufig als ‚Abschreiben‘ deklariert werden zu müssen. Sollten sich vergleichbare Phänomene auch in den Literaturgeschichten anderer Länder finden, wäre die These eines Ursprungs im Rahmen der dargestellten historischen Konstellation und einer dezidiert deutschen Problematik nicht haltbar.

 

Nicolai Glasenapp, 01.02.2016
Nicolai.Glasenapp@web.de

 



Anmerkungen:

[1] Vgl. Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible hand-Phänomen. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Literarische Kanonbildung. München: Edition Text + Kritik 2002 (Text + Kritik Sonderband), S. 9-24.

[2] Für einen exemplarischen Blick auf den Gedanken nationaler Einheit anhand von literarischen Texten und deren Rezeption, der über den zeitlichen Rahmen bei Christoph Grube hinausreicht, vgl. Stefan Neuhaus: Literatur und nationale Einheit in Deutschland. Tübingen u. Basel: Francke 2002.

[3] Vgl. Harald Welzer: Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven. In: Christian Gudehus/Ariane Eichenberg/Harald Welzer (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2010, S. 4.