Die besten Ordner

Ich zähle nicht mehr, wie viele Mails jeden Tag in meiner Mailbox landen. Auch nach Abzug aller "Buy 0815-Software-" und "enlarge your penis"-Appelle bleibt zuviel übrig, was gelesen werden sollte. Und wenn schon nicht gelesen, dann wenigstens weggeordnet.

Da ich aber für Ordnung keine Zeit habe, kreierte ich ein System, das mir automatisch alle Mails in Ordner weiterleitet. Zusatznutzen: der Posteingang bleibt immer leer.

Zugegeben, die Idee stammt nicht von mir. Denn der wichtigste Ordner war bereits erfunden und installiert, da kannte ich meinen Computer noch gar nicht: PAPIERKORB. Im Ranking der Bestgefüllten hält er seit Monaten Platz zwei. Ganz unten im Ranking, weil eben erst eröffnet: der Ordner STUBENREIN. Dort wartet einsam und verlassen die neulich eingelangte Mail eines Autors mit einem nur auf den ersten Blick eindeutigen Angebot: "Er ist genügsam, stubenrein und lässt sich aufgrund seines broschierten Handtaschenformats bequem überallhin mitnehmen. Sagen Sie nur ein einziges Wort – und der kleine Racker läuft ruckzuck zu Ihnen und legt sich ganz brav auf Ihren Schreibtisch." Der Autor meinte wohl sein Buch und nicht sich selbst. Sicherheitshalber bin ich aber noch nicht auf sein Angebot eingegangen. Während ich also noch zögere, sind meine Gedanken dieser Mail und ihrer Zeit schon weit voraus: STUBENREIN könnte ein Eldorado werden für vieles, was bisher schwer einzuordnen war. Auch so manch unverlangt eingesandtes Manuskript ließe sich dort vielleicht gut ablegen, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Möglicherweise entsteht aus STUBENREIN eines Tages auch ein bahnbrechender Essay über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ...

Bis der dafür notwendige Füllstand erreicht ist, zappe ich – mangels Kabelfernsehen – abends zwischen den anderen Ordnern hin und her. Einige Sendungen schlagen in puncto Spannung und Gewaltdarstellung jeden Fernsehkrimi. Auch der Ordner PARA-AUTOREN hat diesbezüglich einiges zu bieten. Er ist nicht gerade mein Liebling, sein Inhalt aber schreit nach Aufarbeitung in einer Doktorarbeit mit dem Arbeitstitel: "Der Hinweis eines Autors auf den Klappentext als hermeneutischer Schlüssel für die Literaturkritik des beginnenden 21. Jahrhunderts mit besonderer Berücksichtigung eines intertextuellen Vergleichs von Verlagsprospekt, Klappentext und Autorenmail." Ich habe dem Autor auf seine Mail übrigens nicht geantwortet und so blieb für alle Zeit unerwähnt, dass ich Klappentexte aus Prinzip nicht lese, auch und gerade wenn sie mir die Augen öffnen oder den hermeneutischen Schlüssel zum Himmelreich des richtigen, sprich autorisierten Sinnes reichen wollen. Er hätte mich wohl des Analphabetismus bezichtigt und so weit wollte ich es dann doch nicht kommen lassen. Vielleicht hätte er auch sein Abo gekündigt. Wenn er denn eines gehabt hätte. Hatte er aber nicht. Hätte ihm aber nicht geschadet.

"Ich spreche selbstverständlich nicht für mich – wobei ich anmerken muss, dass ich mich natürlich gefreut hätte, wenn Sie mein preisverdächtiges Buch besprochen hätten – aber darauf hinzuweisen, fiele mir in meiner Bescheidenheit nicht ein." Mails wie diese hänge ich in den Kühlraum: LEBERWÜRSTE (konnte ich wie Bratwürste noch nie leiden!) heißt die Ordnerherberge für alle Gekränkten und Beleidigten, die mit Anrufung des großen Chefredakteurs, Herausgebers oder Vorstandsvorsitzenden oder mit Kündigung ihres seit zwei Monaten bezogenen und noch nicht bezahlten Abos drohen und an mein Gewissen appellieren. Doch an diesem liegt es nicht, das ist halbwegs intakt. Meist fehlt der Platz, manchmal aber – sorry! – fehlt's an mehr. Aber das darf man nicht sagen, siehe Gewissen.

Aber ab und zu vergesse auch ich meine gute Erziehung. Seit in unserem Blatt einmal statt einer Bildunterschrift der Fülltext "Bildtext fett normal" auf Papier gedruckt das Licht der Welt erblickte, erblicke ich nämlich mit Häme die Missgeschicke, die anderen passieren. PATSCHEN enthält all das, worüber immer nur die anderen lachen, in diesem Fall also ich. Jüngste Errungenschaft: "An Stelle der Seite 28 Ihres Rezensionsexemplars befindet sich bedauerlicherweise die Seite 59 eines anderen Buches." Schade eigentlich. Wer weiß, ob das Missgeschick ohne diese Mail überhaupt bemerkt worden wäre. Diverse Interpretationen des abrupten Stil- und Szenenwechsels hätten den Literaturbetrieb für einige Tage belebt.

A propos die anderen. Traurig stimmt mich der tägliche Blick in meinen Lieblingsordner EGO. Da tummeln sich nette Leserbriefe und Verlagsschreiben, aber viel zu wenige Reaktionen von Autoren. Deren Lob, Dank und Preis geht aus mir völlig unverständlichen Gründen stets direkt an die Rezensenten, nie an die Redakteurin. Um diese Ungerechtigkeit auszugleichen, schreibe ich mir nachts zähneknirschend selbst. Aber morgens schiebe ich diese Mails verschämt in jenen vollsten aller Ordner, in dem neben den üblichen Superlativen ("Autorin des Jahrzehnts", "größtes Meisterwerk", "wichtigste Entdeckung des Jahres", "bestes Debüt", "spannendste Enthüllung", "Nobelpreisträger von morgen", "Sensation des Jahrhunderts", "authentischste Autobiographie") dank meiner Charakterschwäche, der Ehrlichkeit, auch diese Glosse landen wird: LÜGEN.

Dr. Brigitte Schwens-Harrant (Wien)