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Sehnsucht nach Relevanz

Der digitale Literaturbetrieb und die Folgen. Von Marc Reichwein

Noch vor 15 Jahren galten Großkritiker, die es im Fernsehen zu Popularität gebracht hatten, als Feinde des Feuilletons. Heute, wo digitale Diskurspluralität herrscht, werden die gleichen Großkritiker wieder verklärt, und es zeigt sich eine neue Sehnsucht nach verbindlichen Resonanzräumen. Ausgehend von Thomas Hettches emphatischer Begrüßung der Diskurspluralität im Jahr 2000 beleuchtet der nachfolgende Beitrag den Wandel der literarischen Öffentlichkeit infolge des Medienwandels. Zu konstatieren ist, dass der Wunsch nach neuen Leitmedien für Literaturkritik zuletzt wieder zugenommen hat.

1. Thomas Hettche. Endlich Diskurspluralität!

2. Neue Strukturen literarischer Öffentlichkeit

2.1. Para- und Semi-Öffentlichkeiten

2.2. Kakophone Öffentlichkeiten

2.3. Alte Groß-Öffentlichkeiten

3. Wunschöffentlichkeiten

3.1. Digital: Der Schütte-Hauptbahnhof

3.2. Analog: Der Literatur-Spiegel

4. Der Großkritiker ist tot, es lebe der Großfeuilletonist?


1. Thomas Hettche. Endlich Diskurspluralität!

Auch die literarische Gegenwart altert schnell. Wie schnell, lässt sich an einem Essay nachvollziehen, den der Schriftsteller Thomas Hettche im Jahr 2000 in der Frankfurter Allgemeinen veröffentlichte. „Nowa Huta oder Von Lämmern, die sich neben jeden Löwen legen“ (FAZ vom 5.1.2000) handelte von einer literarischen Öffentlichkeit, die zumindest in den Teilen, für die Hettche sprach, affiziert war von den neuen „Orten im Internet, an denen Autoren miteinander sprechen, mitunter sogar debattieren“.

Hettche bezog sich auf die literarische Anthologie Null, die er damals gemeinsam mit Jana Hensel herausgab, und verwies an gleicher Stelle auf den Pool und weitere Foren, die die Literaturwissenschaft schon bald als neue Organisationsformen literarischer Öffentlichkeit und Orte medialer Auto(r)inszenierung beschrieb.

Die Möglichkeit, sich jenseits der etablierten Feuilletons, Verlage und Rundfunkanstalten Aufmerksamkeit im literarischen Feld zu verschaffen, sprich: publizistisch emanzipiert zu handeln, „vorbei an fremdgesteuerten Hierarchien“ (wie es der viel zu früh verstorbene Heiner Link einmal formulierte), diese Möglichkeit mag heute – in Zeiten von Facebook & Co. – einigermaßen unspektakulär anmuten; sie wurde damals jedoch mit Recht euphorisch und als Errungenschaft[1] begrüßt.

Digitale Publizität galt Autoren wie Thomas Hettche als Ausweis technischer, sozialer und vielleicht auch literarischer Modernität:

„Es findet erstmals die unterschiedliche Medienpraxis meines eigenen Alltags ihren Ort, die Diskurspluralität meines Wissens und meine aus den populären Fernsehmythen der Kindheit gespeisten Sehnsüchte. Was ganz konkret bedeutet, dass ich endlich Corino, Karasek und Hamm und Hage nicht mehr lesen muss.“

Der ausgestellte Triumph über das Ende der publizistischen Hegemonie der „Alten“ zeigt, wie historisch die Feindbilder des Jahres 2000 geworden sind: Karl Corino, Peter Hamm, Volker Hage sind heute (weitgehend) im publizistischen Ruhestand, Hellmuth Karasek ist bereits verstorben. Hettches Aversion gegen Corinokarasekhammhage stammt aus einer Zeit, in der die Produktionsmittel zur Herstellung literarischer Öffentlichkeit noch (relativ) beschränkt waren.

Vielleicht hat sogar die oftmals angefeindete und viel beneidete Figur des Großkritikers, wie sie Oliver Pfohlmann in seinem Lexikon der Literaturkritik als Erfindung der Studentenbewegung (in Anlehnung an Musils Wortschöpfung „Großschriftsteller“) charakterisiert, nicht unwesentlich mit der beschränkten Zugänglichkeit zu meinungsbildenden Medienorganen zu tun. Erst die Knappheit der Kanäle, mittels derer literarische Öffentlichkeit vor dem Internet gleichsam oligarchisch definiert wurde, verlieh diesen Kanälen ja jene Macht, in dessen Position sich – in Verbindung mit individueller Eitelkeit und Konkurrenz – ein Starkritikertum ausprägen konnte. Die Relevanz eines Marcel Reich-Ranicki (vor seiner Ära als Fernsehfigur im Literarischen Quartett) war wohl auch dem Umstand geschuldet, dass es in einer sehr überschaubaren literarischen Öffentlichkeit nur wenige Positionen gab, die so machtvoll wie diejenige des FAZ-Literaturchefs waren.


2. Strukturwandel

2.1. Para- und Semi-Öffentlichkeiten

Durch das Internet mit all seinen Online-Portalen, Leserrezensionen und weiteren Möglichkeiten zur Kommunikation über Literatur wurden die klassischen Hürden und Hierarchien, die das literarische Feld noch Ende der Neunzigerjahre kennzeichneten, stukturell abgebaut. Es gibt einen erweiterten „Hallraum“ für literarische Kommunikation. Das Internet mit seiner Gleichheit der Kommunikationsmittel brachte dem literarischen Feld eine gigantische Multiplizierung und Demokratisierung der Paratext-Zone. Demokratie, das liegt in der Natur der Sache, macht die Diskurse nicht immer übersichtlicher.

Früher gab es Zeitung, Radio und Fernsehen, darüber hinaus vielleicht noch ein paar Literaturzeitschriften, Klappentexte und Verlagsprospekte, die für die literarische Kommunikation relevant waren. Heute gibt es eine literarische Para-Öffentlichkeit, die vom Best-Practise-Twitter-Kanal einer Sibylle Berg über Lovelybooks bis zum barrierefreien Konsum fremdsprachiger Rezensionen (etwa im Guardian) unentwegt Paratexte generiert, sprich Formen von Kommunikation, die den Status von Begleittexten einnehmen, indem sie literarische Kommunikation und literarische Werke kommunikativ einkleiden.

Es gibt redaktionelle Aggregationsdienste wie den Perlentaucher, das erste und bis heute einzige ernstzunehmende Medium einer tagesaktuellen Feuilleton-Supervision, die einen Rest von Übersichtlichkeit herstellt. Gerade am Perlentaucher, der sich nicht nur auf klassische Zeitungen und Magazine bezieht, sondern das Selbstverständnis einer spezifischen Netzöffentlichkeit hegt, lässt sich studieren, wie die Debattenkultur digital-analoge Schnittstellen bekommen hat. Der Perlentaucher ist heute auch ein Ort, von dem aus die Debatten über real existierende und wünschbare Strukturen literarischer Öffentlichkeit geführt werden (siehe 3.1).

Neben den Institutionen sind heutzutage aber auch vermehrt Personen, sprich Einzel-Akteure des literarischen Feldes in den Blick zu nehmen. Denn sie sind (im Vergleich zu den Institutionen) diskursiv verhältnismäßig wichtiger geworden. Selbst wer heute „Zeitung“ sagt, meint an dieser Stelle nicht nur die digitalen Ableger der großen gedruckten Medienmarken, deren E-Paper- und Online-Auftritte, sondern ebenso das Agieren ihrer Mitarbeiter in den sozialen Netzwerken. Ein Uwe „I tweet it my way“ Wittstock erreicht dort sicher mehr Literaturbetriebs-Insider als unter Focus-Lesern.

Ekkehard Knörer hat in einem instruktiven Beitrag für den Merkur Nr. 793 explizit darauf hingewiesen, wie sich in diesem Zusammenhang neue Semi-Öffentlichkeiten im digitalen Literaturbetrieb etabliert haben, bestehend aus „Freunden“ und Followern, die durch das Liken, Teilen und Kommentieren von Postings einzelner Akteure Aufmerksamkeit in den sozialen Netzwerken generieren. Es gebe, so Knörer, ein „innerbetriebliches Kommentariat“ auf Facebook und Twitter, und es gibt Literaturkritiker wie Ijoma Mangold, die über den Clash zwischen ihrem persönlichen Facebook-Nutzungsverhalten und ihrem beruflichen Zeitungsredakteurverhalten zu der Einschätzung gelangen, dass die wirklichen Debatten womöglich nicht mehr im Feuilleton, sondern in Echtzeit bei Facebook stattfinden.

Neben der Erosion der traditionellen, bis in die späten Neunzigerjahre übrigens noch reichlich weltanschaulich und parteiideologisch geprägten Bastionen für literarische Öffentlichkeit, und neben der Multiplikation von Internet-Kommunikation über Literatur (im wissenschaftsnahen Bereich etwa durch literaturkritik.de sind aber auch noch ganz neue Akteure der öffentlichen Kommunikation über Kommunikation hinzugekommen: die Autodiktaten und Laien.


2.2. Kakophone Öffentlichkeiten

Mit der Leserbeteiligung verhält es sich ein bisschen so wie mit allem im Internet. Nur weil Begriffe wie Schwarmintelligenz existieren, heißt das noch lange nicht, dass die pure Vielfalt an Meinungen einen Wert als solchen erzeugt. Das registrieren inzwischen selbst Medienhäuser, die vor Jahren gar nicht intensiv genug zur Online-Interaktion auffordern konnten. Aus dem „Diskutieren Sie mit“ ist vielerorts ein routinierter Moderations-Schichtdienst zur Bewältigung der schieren Troll-Massen geworden. Als Umberto Eco vor einigen Monaten forderte, den Schwachsinn aus dem Internet zu verbannen, indem man es redaktionell sichtet und rezensiert, klang das wie eine aberwitzige Sisyphos-Aufgabe. Tatsächlich machte Eco aber nur auf die Notwendigkeit der Sortierung aufmerksam, die jeder Form von Kritik und Wissenschaft konstitutiv innewohnt.

Lange fiel Journalisten und Literaturwissenschaftlern der Umgang mit dem neu enstandenen Phänomen der Leserrezension schwer. Die so genannte „Laienrezension“ wurde erstmals im Jahr 2000 (durch Volker Weidermann) dokumentiert[2]  und auch später gern als Kuriosum inspiziert, meistens jedoch abqualifiziert und in Abgrenzung zur professionellen Buchrezension bis heute gern pauschal diskreditiert.[3] Abgrenzungsversuche der unter Legitimationsprobleme geratenen Literaturkritik spielen dabei keine geringe Rolle. Es erscheint jedoch wohlfeil, die rezeptionsästhetische Ermächtigung der Leser pauschal als Inflation der Kakophonie zu verdammen. Dass Autodidakten wie der Handke-Blogger Lothar Struck heute zu Handke-Tagungen eingeladen werden, zeigt, dass die digitale literarische Öffentlichkeit sehr wohl auch für eine neue Durchlässigkeit gesorgt hat. Neben lobenswerten Ausnahmen, die die Regel bestätigen (Stephan Porombka hat das Phänomen der Amazon-Kundenrezensionen konstruktiv in seinem Trainingsbuch Kritiken schreiben bedacht), zeigt sich in der Summe eher ein Manko – nämlich das einer Literaturwissenschaft, die ihr Studienmaterial zur Rezeption populärer Lesestoffe gleich konvolutweise aus der Kundenkommentarzone bergen könnte.

Apropos Leser. Erinnert sich noch jemand an den „Reading Room“ der FAZ? Er wurde – nach längerer Pause – als eine Art Joint Venture mit Sascha Lobos Social-Reading-Firma sobooks reaktiviert. Die Frage ist, ob solche Institutionen, die dem Publikum und der Stimme des Lesers im Prozess der literarischen Kommunikation Gewicht und Möglichkeiten zur Interaktion verleihen sollten, heute nicht automatisch bei Facebook stattfinden?

Auch über eine weitere, anfangs enthusiastisch begrüßte Plattform digitaler Öffentlichkeit wird schon heute kaum mehr gesprochen: die Autorenhomepage. Konnten Autoren anfangs noch damit kokettieren, eine Web-Präsenz zu besitzen (unvergessen: Else Buschheuers Bonmot „My homepage is my castle“), scheint die Homepage im Verbund der übrigen Plattformen für Autoren (Wikipedia, Facebook, Twitter) heute weitgehend marginalisiert zu sein. Die Autoren-Homepage, die ihre Hochzeit zwischen den Jahren 2000 und 2005 hatte, hatte als symbolisches Kapital in dem Moment abgedankt, in dem das Web 2.0 erfunden war.

Dort findet literarische Öffentlichkeit heute in den unterschiedlichsten Granularitätsgraden statt, und kein Feuilleton scheint das mehr als Provokation zu empfinden. Gleichzeitig hat man den Eindruck, dass die Bloggerszene und die Leitmedien sich diskursiv nicht sonderlich vermischen.

Auch vor diesem Hintergrund muss die verbreitete Vorstellung, dass digitale Literaturmagazine und literarische Blogs (wie sie das Dilimag-Forschungsprojekt dokumentiert) eine kritische Masse von Gegenöffentlichkeit formieren könnten, relativiert werden. Schon weil die großen Medienhäuser rasch dazu übergingen, erfolgreiche Blogger und Blog-Formate in ihr Homepage-Angebot zu integrieren, geben sie diskursiv weiterhin die Leitplanken vor. Ähnlich wie Amazons Marketplace Nischen für Second-Hand-Händler zur Verfügung stellt, schmücken sich Medienhäuser von Spiegel Online bis Faz.net mit namhaften Kolumnisten bzw. Bloggern wie Jakob Augstein oder Hans Ulrich Gumbrecht.

Nur wenige schriftstellereigene Blogs konnten alternative literarische Öffentlichkeiten kultivieren. Immer wieder genannt wird an dieser Stelle Die Dschungel. Anderswelt von Alban Nikolai Herbst; eine luzide Selbst-Reflexion seines literaturbetrieblichen Paria-Status findet sich in dem Aufsatz „Literatur und Selbstdarstellung“ in dem bei Voland & Quist erschienenen Buch Literaturmachen II.

Weitere neue Teilöffentlichkeiten sind die von den Verlagen kuratierten Blogs. Sie heißen Hundertvierzehn.de (nach der Hausnummer des S. Fischer Verlags in der Frankfurter Hedderichstraße 114) oder Logbuch (Suhrkamp) und formieren eine Öffentlichkeit, die man marketingtechnisch als digitales Corporate Publishing, literaturwissenschaftlich als Epitext-Zone (im Sinne Genettes) und literatursoziologisch als Forsetzung klassischer Literaturzeitschriften mit digitalen Mitteln charakterisieren könnte. Gleiches gilt für die von den Publikumsverlagen betriebenen E-Book-Formate wie Hanser-Box, die unter weitgehender Ignoranz des Publikums im Selbstverständnis der Verlage der Autorenpflege dienen.


2.3. Alte Groß-Öffentlichkeiten

Der Feind einer traditionsbewussten Literaturkritik war lange nicht das Netz mit seinen Bücherplauderblogs und Amazon-Kundenkommentaren, sondern das Fernsehen. Noch 1999 sah Sigrid Löffler die Kritik durch die Häppchenkultur von MTV in Gefahr (es war damals gerade das Musikfernsehen, das die Diskurse bestimmte) und sprach vom Einfluss der Video-Clip-Zapping-Kultur auf das Durchblättern von Zeitschriften.[4]

Heute scheinen Feuilleton und Fernsehen eher Verbündete als Rivalen. In Zeiten sinkender Reichweiten wankt für beide die Gewissheit, wen literarische Öffentlichkeit überhaupt noch erreichen kann und will.

1,07 Millionen Zuschauer haben das Revival des Literarische Quartett gesehen. Die erste Ausgabe der nach 14 Jahren Sendepause reaktivierten ZDF-Sendung fuhr ein außerordentliches Medienecho ein, übrigens nicht nur in den Feuilletons und Branchenportalen, auch bei den so genannten Trending Topics im Kurznachrichtendienst Twitter. Die vielen Leute, die dort parallel zur Sendung unter #literarischesquartett unterwegs waren, hätten sich ja auch sagen können: „Was interessiert uns eine Fernsehsendung, in der jemand über Literatur diskutiert? Längst haben ja alle ihre eigenen Kanäle, um literarische Debatten zu führen.“ Aber ein bisschen Sehnsucht nach dem großen Lagerfeuer gibt es eben doch.


3. Wunschöffentlichkeiten

Die Erfahrung der Diskurspluralität, die durch das Ende der ideologisch-politischen Frontenbildung einerseits und den Medienwandel andererseits zu einer Ausdifferenzierung des literarischen Feldes führte, wurde – siehe Thomas Hettche – einst  begrüßt und als Fortschritt begriffen. Die Auflösung alter Hierarchien brachte für viele Diskursteilnehmer aber auch eine Erfahrung von Marginalisierung und Dezentrierung mit sich. Der Wunsch nach Relevanz und Resonanz, nach zentralen, hierarchisch hochwertigen Diskursknotenpunkten bleibt deshalb – und vielleicht gerade – im netzartig hierarchiefreien Kommunikationsraum erhalten. Im gegenwärtigen Literaturbetrieb lassen sich beispielhaft zwei aktuelle Projekte beobachten, die den verlorenengegangen Status einer Leitmedienfunktion kompensieren oder auch nur simulieren möchten.


3.1. Digital: Der Schütte-Hauptbahnhof

Die im Sommer 2015 vom Perlentaucher lancierte Debatte um die Zukunft der Kritik im Netz drehte sich um einen neuen „Ort für das Totum des Literarischen“. Losgetreten hatte sie Wolfram Schütte. Der „Elder Statesman der deutschen Kritik“, wie ihn der Perlentaucher nennt, hatte „eine digitale Zeitung für Literatur & Literarisches Leben“ vorgeschlagen. Diese solle, ähnlich wie die klassische Zeitung, von einer „kanonischen“, sprich: „zentralisierten Textsammlung“ ausgehen, d. h. den Lesern Dinge bieten, die sie nicht nur aktiv suchen, sondern passiv überraschen könnten. Es geht, mit anderen Worten, darum, dem Literaturinteressierten auch unter den Bedingungen eines kakophonen Internets weiterhin redaktionell kuratierte und nicht nur algorithmisch generierte Entdeckungen zu bieten. Zeitungsredaktionen und Literaturzeitschriften haben diese Trüffelfunktion zu allen Zeiten geleistet oder doch wenigstens zu leisten behauptet.

Schütte möchte den Strukturwandel der literarischen Öffentlichkeit, die von Hettche und uns allen begrüßte Diskurspluralität in eine verbindliche Entität zurückverwandeln, die dem Status eines zentralen Umschlagbahnhofs entspricht. Nur: kann das gelingen? Von zoomer.de bis zu den Krautreportern haben sich schon viele lächerlich gemacht mit der Behauptung, den Online-Journalismus ganz neu erfinden zu wollen. Ganz neu. Und ganz relevant. Auch Schüttes Idee eines digitalen Literaturmagazins hegt den Anspruch einer neuen, digitalen Diskurszentrale für Literaturkritik – und könnte am Ende eines dieser typischen Projekte sein, die von Anfang mehr Ansage als reale Leistung liefern. Man sollte neugierig beobachten, was tell, das „Online-Magazin für Literatur, Kritik und Zeitgenossenschaft“, das sich ausdrücklich auf die Schütte-Initiative beruft, entwickelt. Doch der Urknall eines digitalen Leitmediums dürfte es tendenziell wohl nicht sein.


3.2. Analog: Der Literatur-Spiegel

Das Nachfolge-Magazin zum KulturSpiegel, der von Rudolf Augstein 1995 als exklusives Supplement für Abonnenten gegründet worden war, hat sich seit Oktober ganz auf Literatur umgemodelt und platziert sich damit ein bisschen zwischen saisonalen Supplements wie etwa dem der Zeit einerseits und wöchentlichen Beilagen wie der Literarischen Welt andererseits. Offenbar möchte der Literatur-Spiegel (und das ist nach dem Auftakt weniger inhaltlich als optisch erkennbar) an die angloamerikanische Tradition der Literaturkritik-Beilagen anknüpfen.

Doch eine echte Tradition und Käuferschicht für monothematische Literaturkritik-Medien gibt es hierzulande nicht (wie nicht zuletzt das Scheitern der Zeitschrift Literaturen bewiesen hat). Vom Deutschlandradio nach den Gründen gefragt, vermutete Gregor Dotzauer, Literaturredakteur beim Tagesspiegel und kluger Beobachter der Szene seit Jahren, ganz richtig: „Weil die deutschen Feuilletons so stark waren und es nach wie vor sind. Was die deutsche Feuilletons durch ihre Buchbesprechungen in der Menge und Tiefe abdecken, ist einzigartig und im Vergleich mit anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder Italien immer noch sehr überzeugend.“


4. Der Großkritiker ist tot, es lebe der Großfeuilletonist?

Bei aller Lust zu digitalen Neugründungen – und bei aller Diskurspluralität, die im Netz keine Wünsche offenlässt: Ganz entwertet und obsolet scheint die herkömmliche, durch die Zeitungsredaktionen geprägte Idee einer qualifizierten literarischen Öffentlichkeit mit verbindlichen Persönlichkeiten nach wie vor nicht zu sein. Im Gegenteil zeigt ja gerade die enorme Resonanz auf den Tod von Personen wie Frank Schirrmacher oder Hellmuth Karasek, dass Integrationsfiguren klassischer Prägung (und Reichweite) offenbar weiterhin gewünscht und gebraucht werden. Auffällig ist dabei, wer auch postum wiederholt die Deutungshoheit ergreift: Es ist hier und hier und hier immer wieder Jakob Augstein.

Offenbar haben die zu Lebzeiten gerade gern von Links mit Häme, Spott und Hegemonie-Vorwürfen belegten Literaturpäpste und Großkritiker und Alpha-Journalisten wie Marcel Reich-Ranicki, Fritz J. Raddatz, Frank Schirrmacher oder Hellmuth Karasek diskurskinetische Positionen eingenommen, die von den alten, seinerzeit als hierarchisch inkriminierten Strukturen einer literarischen Öffentlichkeit hervorgebracht wurden – von den Strukturen der neuen Öffentlichkeit(en) jedoch noch nicht.

„Es ist nur wenig übertrieben, wenn man sagt, dass sich das heroische Zeitalter der Paradiesvögel und Groß-Feuilletonisten, von denen jetzt nur noch Joachim Kaiser übrig geblieben ist, heute ein weiteres Stück dem Ende zugeneigt hat.“ Mit diesen Worten brachte es die Zeit-Feuilletonchefin Iris Radisch in ihrem Nachruf auf Hellmuth Karasek auf den Punkt.

Der „Groß-Feuilletonist“ seinerseits verweist als Wortprägung bereits darauf, dass das höchstrichterliche und letztlich autoritäre Modell des Kunstrichters vermutlich schon mit der antiautoritären Erhebung von 1968 diskreditiert worden ist. Reich-Ranicki mag – als sein Vertreter und Angehöriger einer älteren Generation – in seiner apodiktischen Anspruchshaltung akzeptiert worden sein. Vielleicht lag es auch einfach an seiner Unterhaltungs-Performance, die, je älter er wurde, desto mehr ins Maskottchenhafte ging. So sehr er, Reich-Ranicki, sich stets nämlich als „Anwalt des Publikums“ gerierte, so deutlich und polemisch schien Reich-Ranicki in Personalunion immer auch Staatsanwalt, ja bisweilen sogar Scharfrichter der Literatur sein. Wenn die nachfolgende Generation von „Selektionsautorität“ spricht, so bemüht sie einen – in der Nachfolge des Holocaust-Überlebenden und Role-Models Reich-Ranicki – sprachlich wenig sensiblen Begriff, der der Sache nach aber genau dem entspricht, was Eco mit seinem Rezensions- und Sortiergebot meinte.

Also, der Großkritiker ist vielleicht auch deshalb ein Groß-Feuilletonist geworden, weil seit und außer Reich-Ranicki kaum jemand nurmehr Kritiker sein konnte. Vielmehr haben sich mit dem Wandel vom Rezensions- zum Debattenfeuilleton die Berufsbilder gewandelt. Eine Einzel-Kritik kann gar nie so machtvoll sein, wie ein Konglomerat aus Themenkampagnen, Talkshow-Auftritten und Buch-Bestsellern zu gesellschaftlichen Großthemen im Verbund effektiv ist. Auch deshalb hat das Modell des umtriebigen „Alpha-Journalisten“, der sogar den Ehren-Bambi für Tom Cruise mitkuratiert, das des Großkritikers abgelöst. Selbst einst gestandene Theaterkritiker wie Hellmuth Karasek verdankten einen Großteil ihrer Popularität ihrem Alterswerk außerhalb der Rezensionsspalten: vom Rateonkel und Witzeerzähler in diversen Fernsehshows bis zum Kolportage-Romanschreiber und Ikea-Testimonial kann man es nur schaffen, wenn man auch jenseits des Feuilletons Fans sucht und gewinnt.

„Endlich muss ich nicht mehr Karasek lesen“, hatte Hettche vor fünfzehn Jahren skandiert und damit die Morgenröte einer neuen Diskurspluralität gezeichnet. Am Ende eines langen Internet-Tages scheint die Sehnsucht nach einer die eigene Blase der Freunde und Follower sprengenden Relevanz freilich so akut wie nostalgisch. Denn bei aller begrüßenswerten Diskurspluralität scheint es eines gerade nicht beliebig oft zu geben: Relevanz.


Marc Reichwein, 23.10.2015
marc.reichwein@gmail.com


Anmerkungen

[1] Wie selbstverständlich diese Errungenschaft heute – nicht nur den Angehörigen des literarischen Feldes – genutzt wird, um diskursive (Semi-) Öffentlichkeit herzustellen, würde man wohl erst begreifen, wenn sich Facebook (was es als privatwirtschaftliches Unternehmen jederzeit dürfte) spontan entschlösse, den Laden dichtzumachen.

[2] Volker Weidermann: „Danke Florian“. Auf der Suche nach der eigenen Biografie. Der neue deutsche Leser schreibt im Internet. (Goldene Zeiten für Literatur IX). In: taz vom 27.06.2000.

[3] Vgl. die Ergebnisse zum Suchbegriff „Kundenrezension“ in der Datenbank des Innsbrucker Zeitungsarchivs (IZA).

[4] Vgl. Sigrid Löffler: Die versalzene Suppe und deren Köche. Über das Verhältnis von Literatur, Kritik und Öffentlichkeit. In: Wendelin Schmidt-Dengler und Nicole Katja Streitler (Hg.): Literaturkritik. Theorie und Praxis. Innsbruck/Wien: Studien-Verlag 1999, S. 27-33.