Füssli

Der Sound eines Kritikers

Zum Tod von Marcel Reich-Ranicki. Von Michael Pilz

Dass amtierende Regierungschefs zum Tod von Literaturkritikern kondolieren, hat wohl durchaus Seltenheitswert und dürfte – zumindest im deutschsprachigen Raum – so schnell nicht wieder vorkommen. Wenn hinlänglich prominente Vertreter des kulturellen Lebens in Deutschland sterben, pflegen solche Ereignisse seitens der Bundesregierung allenfalls in kurzen Kondolenzverlautbarungen durch den von Amtswegen zuständigen Kulturstaatsminister annonciert zu werden: Sarah Kirsch, Walter Jens und Erich Loest liefern die jüngsten Beispiele. Dass sich nun im Falle Marcel Reich-Ranickis die Kanzlerin selbst mit einer einschlägigen Trauerbotschaft zu Wort gemeldet hat, spricht nicht nur für sich, sondern vor allem für den Rang, den das offizielle Deutschland diesem Intellektuellen zubilligt – was zumindest in einer Hinsicht mit vollem Recht geschieht: Denn wenn der Text aus Angela Merkels Pressebüro im Einklang mit dem Gros der übrigen Nekrologe explizit darauf verweist, dass hier nicht nur „ein Freund der Literatur“ gestorben sei, sondern auch ein solcher „der Demokratie und der Freiheit“, dann wird mit dieser Wortwahl in erster Linie jene „Symbolgestalt deutscher Geschichte“ (Die Welt vom 18.9.2013) gewürdigt, die der „Literaturbetriebsstar“ (NZZ vom 19.9.2013) Marcel Reich-Ranicki eben auch war. Als ein nach 1945 freiwillig ins Land der Mörder zurückgekehrter Überlebender des Holocaust, der im Namen der sprichwörtlichen Dichter und Denker den unverbrüchlichen Glauben an ein ‚anderes Deutschland‘ wie kein Zweiter verkörperte und die Tragfähigkeit dieses Glaubens mit einer beispiellosen Karriere im kulturellen Leben des Landes untermauert hat, hat Reich-Ranicki nicht unwesentlich an der offiziösen Geschichtserzählung von der bundesrepublikanischen Wirklichkeit als der Erfolgsgeschichte eines toleranten und freiheitlich-demokratischen Landes mitgeschrieben. Spätestens mit seiner Autobiographie Mein Leben und deren familiengerechter Vorabendverfilmung ist nicht unbedingt der Kritiker, wohl aber der Autor Reich-Ranicki zum festen Bestand des bundesdeutschen Erinnerungsdiskurses geworden.

Als Beitrag zur demokratischen Kultur im Deutschland nach 1945 wiegt dies mit Sicherheit alles andere als gering – und auf lange Frist wohl auch um einiges schwerer als jene vermeintliche „Demokratisierung der Literaturkritik“, die Uwe Wittstock dem längst zum Talkmaster avancierten Kritiker zum Abschluss des Literarischen Quartetts im Jahr 2001 als wesentliche Leistung zugebilligt hat.[1] Wittstock illustrierte seine These seinerzeit mit dem Verweis auf einen jener unvermeidlichen Taxifahrer, die als stereotype Vertreter der (vorgeblich) ‚bildungsfernen Schichten‘ durch die Reich-Ranicki-Legende geistern und dort mit demonstrativen Akten des Wiedererkennens die Popularität eines TV-Stars bestätigen dürfen: „Sie kenn ich ausm Fernsehn.“[2] In den aktuellen Nachrufen variiert Frank Schirrmacher den einschlägigen Anekdotenschatz durch die Geschichte einer Verwechslung Reich-Ranickis mit Robert Lembke, die wahlweise einem Supermarktverkäufer oder einem Tankwart zugeschrieben wird (FAZ vom 18.9.2013), während Gerhard Stadelmaier in der FAZ vom 20.9.2013 wieder in den Motivkreis des Taxis zurückkehrt, wenn er einen schwäbischen Chauffeur von dem großen Mann „mit d’r groaßa Gosch, der emm’r ib’r Büach’r schwätzt“, berichten lässt.

Derlei Geschichten mögen als Beleg für die kaum zu ignorierende Tatsache herhalten, dass sich Marcel Reich-Ranicki infolge seiner 1988 begonnenen Fernsehkarriere im ZDF auf ebenso phänomenale wie singuläre Art „auch denen nachhaltig in Erinnerung gebracht [hat], die mit Literatur nichts zu tun und die noch niemals eine Besprechung gelesen hatten.“ Dass Arne Willander diesen Befund am 18.9.2013 nicht etwa im Feuilleton einer so genannten ‚Qualitätszeitung‘, sondern ausgerechnet in der Online-Ausgabe des populären Musikmagazins Rolling Stone publiziert hat, mag dies auf seine Weise unterstreichen. Über das angebliche Verdienst Reich-Ranickis, „die öffentliche Debatte über Literatur konsequent demokratisiert“[3] zu haben, sagt es freilich ebenso wenig aus, wie die posthume Ankunft seines Porträts auf der Titelseite der Bild-Zeitung am Tag darauf – zumindest dann nicht, wenn man keineswegs gewillt ist, das Interesse an Literatur und ihrer Kritik um jeden Preis mit einem Unterhaltungsbedürfnis zu verwechseln, das nicht etwa durch literarische Inhalte, sondern lediglich durch die medial vermittelte Figur des „Literaturpapsts“ Reich-Ranicki bis in die Untiefen des Boulevards hinein bedient worden ist. Und auch die von dieser Kunstfigur mit der apodiktischen Schärfe eines Dogmatikers gefällten Urteile mögen samt ihrer telegenen Verkündigung wohl sehr viel über die öffentlichkeitswirksame Generierung von Popularität verraten, herzlich wenig aber über die Gepflogenheiten einer wie auch immer als „demokratisch“ zu charakterisierenden Diskussionskultur – eine Binsenweisheit, die wohl aus Pietätsgründen im Chor der Trauerredner nur von den wenigsten hat vertreten werden wollen. Immerhin: Juli Zeh, die für derlei Interventionen längst ein gewisses Abonnement besitzt, durfte sich in der FAZ vom 20.9.2013 erlauben, die Kritik eines bestimmten Kritikverständnisses anzumelden:

Ähnlich wie in der Politik ist […] auch in der Literaturvermittlung die Frage, ob man sich Machtkonzentration tatsächlich wünschen sollte, nur weil bei ihrer Ausübung ein größerer Unterhaltungswert entsteht. […] Mit Marcel Reich-Ranicki ist ein ohne Zweifel ein […] scharfsinniger Rhetoriker von uns gegangen. Aber dem literaturkritischen Stil, für den er stand, trauere ich nicht nach.

Nein wirklich, durch die von Marcel Reich-Ranicki auf der soliden Grundlage einer betriebsinternen Machtbasis verfolgte Personalisierungsstrategie, mit der im Dispositiv des Fernsehens die Gestalt eines mehr als eloquenten Bücher-Talkers erschaffen wurde, ist weder die Literaturkritik demokratischer, noch die Lektüre einer ernst zu nehmenden Literatur populärer, sondern lediglich das landläufige Missverständnis in die Welt gesetzt worden, dass das, „was ein Kritiker ist und was ein Kritiker tut“ (Arne Willander in Rolling Stone vom 18.9.2013), kurzerhand mit dem Namen Reich-Ranicki synonym gesetzt werden könne. Diesen persönlichen Erfolg des Marcel Reich-Ranicki gilt es nun weder mit einem angeblichen Bedeutungsgewinn der Literaturkritik zu verwechseln, die mit dem Tod des Großkritikers wieder in ihre selbstauferlegte Dauerkrise aus Nichtbeachtung und Selbstzerfleischung zurückzusinken drohe, noch muss man ihn mit kulturkritischem Naserümpfen als originäres Verfallsprodukt eben dieser Dauerkrise beklagen. Stattdessen kann man sich mit dem Versuch begnügen, ihn auf einen möglichst knappen Nenner zu bringen,  um das Phänomen Reich-Ranicki als mediale Erscheinung bündig zu charakterisieren: MRR war Pop, und wie es sich gehört, hatte dies in erster Linie mit einer gelungenen Performance und sehr viel mit dem richtigen Sound zu tun.

Denn zweifellos handelte es sich um einen Theatraliker mit hohem Unterhaltungswert, der sich durch seinen gesamten Habitus nicht zuletzt zu einem eignete: zur Parodie und zur Karikatur. So weist denn auch Gerhard Stadelmaier in der FAZ vom 20. September darauf hin,

[…] dass es keinen Publizisten in Deutschland zu keiner Zeit gab, der derartig parodiert, nachgemacht, auf sämtlichen Kabarett-Heroen-Zungen genüsslich-saftig zum imitatorischen Nachbeben und somit ins unsterbliche Nachleben gezogen wurde wie M. R.-R.

Tatsächlich kommen selbst die ehrfurchtsvollsten Nekrolog-Verfasser nicht umhin, zumindest typographische Stimmimitation zu betreiben: „Mit-tel-alterr“ (Gustav Seibt, SZ vom 19.9.2013); „Jaa-haa?“ (Silke Scheuermann, FAZ vom 20.9.2013); „Jaaa“ (Frank Schirrmacher, FAZ vom 19.9.2013); „M. R.-Rrrrrrrrrr!“ (Gerhard Stadelmaier, FAZ vom 20.9.2013)  – der typische Reich-Ranicki-Sound feiert noch in den mit vollen Händen ausgestreuten Buchstaben- und Satzzeichen-Häufungen seiner Apologeten fröhliche Urständ. Spätestens bei ihrer Lektüre wird endgültig klar, dass MRR primär „als sprechender Kritiker“ reüssierte  (Felicitas von Lovenberg, FAZ.net vom 19.9.2013), der zu wesentlichen Teilen über sein akustisches und gestisches In-Erscheinung-Treten zu definieren war.

Die sich gleichenden Titelbilder von FAZ und Süddeutscher Zeitung am Tag nach seinem Tod, die Marcel Reich-Ranickis Kopf mit geöffnetem Mund und dozierend erhobenem Zeigefinger zeigen, liefern das Standbild eines Sprechers in des Wortes doppelter Bedeutung: Der Screenshot wird zum Monument und friert die ikonische Pose eines Dozenten ein, dessen Vortragsweise zum Selbstzweck geworden ist. Die Karikatur von Peter Gut in der NZZ vom 21.9.2013, die einen auf Wolken schwebenden Reich-Ranicki zeigt, wie er im Himmel neben Petrus und Gottvater sitzend die Bibel bespricht, wiederholt denn auch die einschlägige Gestik, die durchaus ohne Worte auskommt: Reich-Ranicki spricht – das Was ist sekundär, einzig das Wie entscheidet. „Es war egal, worüber er sprach“, bekennt selbst Volker Weiderman ohne Umschweife in seinem zweiseitigen Kniefall vor dem Meister in der FAS vom 22.9.2013, und für Claudius Seidl wird die audiovisuelle Materialisierung des großen MRR vor den Fernsehkameras zum auratischen Präsenz-Erlebnis: „Er musste nicht einmal über Bücher sprechen“, heißt es da, um als Kritiker in Erscheinung zu treten (FAZ vom 20.9.2013).

Insofern bilden die Parodien all der professionellen oder hobbymäßigen Stimmimitatoren den durchaus konsequenten Schlusspunkt eines zunehmenden Ablösungs- und Verselbständigungsprozesses der Kritiker-Stimme, die sich zumindest aus der Perspektive eines weit weniger ehrfürchtigen als heiterkeitsaffinen Auditoriums mühelos von ihrem Gegenstand, von der Semantik und schließlich sogar von ihrem ursprünglichen Träger isolieren ließ. Mit der ironischen Anverwandlung, dem mal mehr mal weniger satirischen Überwechseln des habituellen Sounds auf die Imitatoren und Spaßmacher, die seine Stimme Telefonbücher rezensieren, zu außerliterarischen Aktualitäten Stellung nehmen oder gänzlich sinnfreie Albernheiten äußern ließen, musste MRR nicht einmal mehr selbst sprechen, um ein zunehmend sich verbreiterndes Publikum auf allen Kanälen zu unterhalten: der Wiedererkennungseffekt des akustischen Phänomens reichte vollkommen aus, der Sound als Marke hatte sich durchgesetzt. Die Literaturkritik freilich hatte sich im puren Geräusch verflüchtigt, das allenfalls durch seine Lautstärke nicht zu überhören war. Nach dem Tod des Meisters bleibt vorerst weißes Rauschen – und der Nachhall der Stimme bei jenen Imitatoren, die sich spätestens nach einem gewissen Zeitraum des Aktualitätsverlusts neuen Vorbildern zuwenden werden.

Dabei besteht Grund genug anzunehmen, dass sich Felicitas von Lovenberg über die Halbwertszeit ihrer Beobachtungen getäuscht haben könnte, wenn sie meint, dass noch der über 90jährige Reich-Ranicki „in der Öffentlichkeit […] von einer Generation erkannt und um ein Autogramm gebeten wird, die zwar nicht einmal mehr in der Schule Schillers ‚Räuber‘ oder Goethes ‚Werther‘ liest, aber für die der Name Marcel Reich-Ranicki eine Marke ist.“ (FAZ.net vom 19.9.2013). Die Angehörigen besagter Generation sitzen längst als StudentInnen der Germanistik oder anderer Philologien in den Hörsälen und Seminaren der Universitäten, in denen Fragen nach der Bekanntheit von Marcel Reich-Ranicki oder die Einspielung von Kritiker-Parodien auf bloßes Achselzucken stoßen: Nur wenige kennen hier das 2001 eingestellte Literarische Quartett noch aus eigener Anschauung. Mit dem Verschwinden der Kenntnis des Originals aber schwindet zwangsläufig auch der Wiedererkennungseffekt der Marke, und damit der Witz jeglicher Imitation.

Noch freilich ist vor dieser Stimme kein Entkommen, zumindest für all jene, für die das Literarische Quartett Teil ihrer kollektiv geteilten Fernseh-Biographie ist. Für sie hat die Feststellung von Sebastian Hammelehle Gültigkeit, der in seinem Nachruf auf Spiegel-Online vom 18.9.2013 schreibt:

Es dürfte wenige Deutsche geben, die bei diesen Sätzen nicht die Stimme von Marcel Reich-Ranicki im Ohr haben: „Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman“ schrieb der Literaturkritiker 1976.

Der Reich-Ranicki im Ohr – tatsächlich ist er sofort da und nicht mehr fortzukriegen, sobald man einen seiner Texte zu lesen begonnen hat: Als Sound-Phänomen aus dem öffentlich-rechtlichen Off triumphiert die Marke MRR sogar noch über jene älteren Essays und Rezensionen, die aus der Prä-TV-Ära des Kritikers stammen, als primär noch der schreibende, nicht der sprechende Reich-Ranicki die Gültigkeit seines Urteils vor einem bildungsbürgerlichen Publikum aus Feuilleton-Lesern einforderte und von Redaktionsräumen in Hamburg und Frankfurt aus, nicht aber aus einem Fernsehstudio in Mainz den Ausbau seiner Machtposition in den Netzwerken des literarischen Feldes betrieb. 1995, fünf Jahre nach dem Start seiner „Spätkarriere“ (Ulrich Weinzierl, Die Welt vom 18.9.2013) als „Schauspieler eines lesenden Menschen“ im ZDF (Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung vom 19.9.2013), stand die Selbstdefinition des Kritikers noch mit ziemlicher Eindeutigkeit fest: „Meine eigentliche Arbeit ist die gedruckte Kritik.“[4]

Nicht wenige der zahlreichen Nekrologe und Erinnerungen an MRR, die seit dem 18. September in der deutschsprachigen Presse erschienen sind, versuchen in offenkundigem Anschluss an dieses Selbstverständnis das Interesse der Leserschaft wieder gezielt auf den gedruckten Reich-Ranicki (zurück) zu wenden – so, als wollten sie den Rang des Kritikers als Autor geradezu vor dem umstrittenen Image des Talkmasters retten oder in Schutz nehmen: „Sein eigentliches Metier war das Schreiben“, stellt etwa Ulrich Weinzierl in der Welt vom 18.9.2013 unmissverständlich fest: „Wer seine hochdramatischen Texte nicht kennt, kennt den intellektuellen, ja artistischen Rang des Kritikers Reich-Ranicki nicht.“ Und wie um den Beweis dafür am Originaltext zu ermöglichen, druckt die FAZ vom 19. September außer zahlreichen Zitaten aus Reich-Ranicki-Kritiken seinen ersten Beitrag als Literaturchef des Blattes vom 23. Februar 1974 vollständig nach: ein Porträt Erich Kästners, das es dem Leser durchaus leicht macht, den begeisterten Befunden über den großartigen Stilisten Reich-Ranicki beizupflichten, die Matthias Döpfner in der Welt am Sonntag vom 22. September veröffentlichte. Dabei wird freilich auch klar, dass der nachmalige Bücher-Talker Reich-Ranicki, der laut Andrea Köhler „ein Ohrenmensch“ gewesen sei (NZZ vom 19.9.2013), im gleichnamigen Textproduzenten längst angelegt war. Döpfner will es jedenfalls einmalig erscheinen,

[…] in welch unverwechselbarem, verständlichem, fast wie gesprochene Sprache temperamentvoll provozierendem Stil er seine knapp hundert Bücher, etwa 650 Essays und ungezählten Rezensionen geschrieben hat. […] Er stellte rhetorische Fragen. Er platzierte Ausrufe, verfiel in die Rhythmik der gesprochenen Sprache, nahm den Leser an die Hand und schlug Haken, amüsierte, empörte oder begeisterte sich […]. Auf den ersten Blick schrieb er einen mühelosen, schnörkellosen Geradeaus-Stil. Hauptsätze, Hauptsätze, Hauptsätze, wenig Metaphern und klare Gedankenführung. […] In dieser Haltung lag etwas dezidiert Anti-Elitäres. Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki verteidigte zeitlebens eine Literatur (und eine Idee des Journalismus), die die Menschen erreicht. Er war auf stupende Weise gebildet und dennoch einfach, ja volkstümlich.

Döpfners überschwänglichem Fazit – „Seine großen Kritiken sind Meisterwerke ihres Metiers, heute und in fünfzig Jahren lesenswerte Texte […]“ – steht das bedeutend gedämpftere Lob Gustav Seibts in der Süddeutschen Zeitung vom 19. September gegenüber, der Reich-Ranicki immerhin konzediert, „ein brillanter Handwerker im Feuilleton“ gewesen zu sein – wobei er es dem Leser überlässt, die Betonung auf die Brillanz oder aber auf die Routine und die Serialität zu legen, die beim Gedanken an handwerkliche Produktion aufkommt und die in der Tat gerade dann unmissverständlich deutlich wird, wenn man Reich-Ranickis Essays und Rezensionen nicht etwa als jeweils für sich stehende Einzeltexte liest, sondern gleichsam am Stück in der Zusammenstellung seiner Bücher, mögen sie nun Nachprüfung oder Entgegnung, Lauter Verrisse oder Lauter Lobreden heißen: Die immer wiederkehrende, auf Originalität geeichte und Verblüffung suchende Häufung kaum argumentierter Antithesen und souverän präparierter Ein-, An- und Widersprüche, bewusster Übertreibungen und gezielter Tiefstapeleien um der Pointe willen beginnt bei sukzessiver Lektüre doch sehr rasch zu klappern; der manieristische Zug dieses scheinbaren „Geradeaus-Stils“ tritt nur allzuschnell zutage. Spätestens dann, wenn man der stereotypen Verfahrensweise zum dritten oder vierten Mal begegnet, hat man das Rezept als solches begriffen und kommt schwerlich umhin, nicht dem Verdacht nachzugeben, dass die bedeutendste Leistung des „berühmtesten Literaturkritikers aller Zeiten“ (Ulrich Weinzierl, Die Welt vom 18.9.2013) selbst als Buchautor keineswegs das Ergebnis seiner literaturkritischen Hauptbeschäftigung gewesen sein könnte. 

Jenseits seiner Autobiographie scheint der schreibende Reich-Ranicki jedenfalls nur noch in homöopathischen Dosen genossen einigermaßen bekömmlich zu sein – womit freilich auf keinen Fall jene späte Häppchenware gemeint sein will, die der vom TV pensionierte Bücher-Talker ab 2003 Woche für Woche für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in der Rubrik Fragen Sie Reich-Ranicki! veröffentlichte. Der in letzter Konsequenz als Solo-Performer vom Bildschirm Abgetretene nahm hier seine finale Sprecher-Rolle ein: als „eine Art Ein-Mann-Sachverständigenrat“ mutierte er zur auratischen ‚Sprechstätte‘ – zum „Orakel“ (Volker Weidermann in der FAS vom 22.9.2013), das auf Zuruf vorgeblich Originelles von sich gab und sich dabei oft genug nur noch als ein schwaches Echo seiner selbst erwies. Dass es sich bei Orakelsprüchen, die konstatierten, dass Thomas Mann „schon schreiben“ konnte und kaum ein Dramatiker Shakespeare das Wasser habe reichen können, um weihevoll drapierte Plattitüden handelt – geschenkt; auf die Relektüre von MRRs wenig intelligenter Antwort auf die wenig intelligente Frage: „Schreiben Männer besser als Frauen?“ aus dem Jahr 2009, die die FAS vom 22. September 2013 zusammen mit zahllosen weiteren Sentenzen auf einer opulenten Doppelseite als das angeblich „Beste aus ‚Fragen Sie Reich-Ranicki!‘“ offerierte, hätte man freilich gerne verzichtet. Da kann selbst die gedankliche Einspielung der Kritiker-Stimme vor dem inneren Ohr kaum noch für Heiterkeit sorgen (im Gegenteil).

Aber freilich: Noch im höchsten Alter auf anhaltende Originalität verpflichtet zu sein, um nicht aus der Rolle zu fallen, ist mit Sicherheit auch kein Spaß. Nicht nur die Kritik, auch die Gestalt des Kritikers selbst löste sich unter diesem Erwartungsdruck sichtlich in der dünnen Luft der Anekdote auf, die zuletzt noch dazu herhalten durfte, in gesammelter Form zwischen Buchdeckel gepresst die Nachfrage nach Reich-Ranicki-Titeln auf dem Neuerscheinungsmarkt zu wecken. Was unter dem Titel „Fabelhaft! Aber falsch!“ angeboten wurde, war gleichsam Phonographie mit Druckerschwärze: zu Protokoll genommene Aussprüche aus dem beruflichen Alltag einer One-Man-Show, deren eigener Schreibfluss zusehends im Erlahmen begriffen war. Der monologisierende Reich-Ranicki hatte seinen Eckermann gefunden.

Am Ende war MRRs Rolle als Kritiker und Publizist zweifellos diejenige des alt gewordenen Clowns, der sich in aller Öffentlichkeit schwer tat – und gleichzeitig nach anhaltender Bestätigung in eben dieser Öffentlichkeit suchte. Volker Weidermanns sehr persönliche Danksagung an den Meister lässt bei aller Pathetik diese kaum anders als tragisch zu nennende Seite des greisen Großkritikers deutlich anklingen, wenn es heißt (FAS vom 22.9.2013):

Je älter er wurde, desto wichtiger wurden ihm die Fragen der Leser. Dieses Drängen und Hoffen auf neue Fragen jede Woche, das war, als wollte er sich immer aufs Neue vergewissern, dass es noch stimmt, dass er immer noch diese bewunderte Autorität ist, dass die Menschen wirklich all diese Dinge von ihm wissen wollen. Und dass er diese Fragen immer noch beantworten kann wie kein Zweiter. Aber er war müde, die Kräfte schwanden immer mehr. Seine Antworten wurden immer kürzer und knapper. Zuletzt war es wie ein langsames, öffentliches Verschwinden, Sonntag für Sonntag.

Stichwort Verschwinden und Erinnern: Den vielleicht treffendsten, zweifellos aber den poetischsten Nachruf auf Marcel Reich-Ranicki hat Felicitas Hoppe für die FAZ vom 20.9.2013 verfasst. Mit seiner ebenso leisen wie assoziationsreichen Ironie verdient er es im vorliegenden Zusammenhang, vollständig zitiert zu werden. Denn wenn Wolken Gesprächen gleichen, wie Günter Eich in einem seiner Gedichte meint, ist die aus einem von Reich-Ranickis Lieblingsgedichten herbeizitierte Wolke in Hoppes Text wahrscheinlich das sinnfälligste Bild für einen Kritiker, der wie kein anderer vor und nach ihm in der Rolle eines Sprechenden agierte – und der vor allem eines war:

Ungeheuer oben!

Wer Sinn für Gesten, Theater, Performance, für das gesprochene Wort, das so verfänglich vergänglich aus dem Moment lebt, wird sich bei seinem Tod vielleicht an jene Wolke erinnern, die in Bertolt Brechts Erinnerung an die Marie A. dafür sorgt, dass die Erinnerung doch nicht verlorengeht. Von Brechts „Hauspostille“ hat Marcel Reich-Ranicki einmal behauptet, sie sei, neben dem, was er sonst noch liebe, das, was man wirklich ein Lieblingsbuch nenne.

Lieblingsbücher zu benennen ist vermessen und furchtlos wie die Liebe selbst. Parteinahme eben. Darin war er groß. Was mich betrifft, ich mochte Brecht nie besonders, aber ich mochte, wie Reich-Ranicki ihn las: „Sehr weiß und ungeheuer oben.“ Doch als ich aufsah, war er nimmer da!

Wie lange es dauern wird, bis sich die Erinnerung an diese große weiße Wolke der Literaturkritik, die polternde und wetternde Sound-Cloud MRR, vollständig verflüchtigt hat, oder ob es diesem Phänomen vielleicht sogar gelingen wird, das Diktum des Essayisten Albrecht Fabri auf entscheidende Weise zu relativieren, demzufolge kaum jemals ein deutscher Kritiker seinen eigenen Tod hat überleben können, wird sich weisen. Prognosen scheinen in diesem Fall am allerwenigsten angebracht, zumal Reich-Ranicki mit seiner eigenen Rezensions- und Editionspraxis das schlagende Beispiel dafür geliefert hat, dass sich Kanonisierungsprozesse nicht per Dekret verordnen lassen. Sollte er gleich seinem erklärten Vorbild Alfred Kerr, der sich schon seit geraumer Zeit in immerhin acht Bänden ins Regal stellen lässt, eine Werkausgabe erhalten, wäre eine solche freilich nur als hybride Edition in audiovisuellen Formaten denkbar – bei dem längst vorliegenden Transkript aller Folgen des Literarischen Quartetts, das seit 2006 zum seminargerechten Zitieren bereitsteht, fehlt doch mit Ausnahme des Texts so gut wie alles, was diese Sendung als Ereignis definiert hat. Zu einem wesentlichen Teil Produkt einer veritablen Fernseh-Philologie, würde eine umfassende Reich-Ranicki-Ausgabe wohl der Kanonisierung einer Performance dienen, in der das Metier der Literaturkritik zum Ausgangspunkt einer theatralen Darbietung geworden und auf der großen bunten Bühne des Boulevards mit der Selbstinszenierung des Kulturvermittlers als Popstar verschmolzen ist. Als eine Art von medialem Gesamtkunstwerk verstanden, darf auf die Figur MRR getrost in toto übertragen werden, was Claudius Seidl zunächst nur in Hinblick auf den Verfasser des autobiographischen Buches Mein Leben formuliert hat: „Sein Leben war sein Werk, sein Werk war sein Leben“ (FAZ vom 20.9.2013).


Michael Pilz, 26.9.2013

Michael.Pilz@uibk.ac.at



Weiterführende Lektüre: Marcel Reich-Ranicki im Innsbrucker Zeitungsarchiv




Anmerkungen

[1] Vgl. Uwe Wittstock: Die Demokratisierung der Literaturkritik. In: Marcel Reich-Ranicki. Kritik als Beruf. Drei Gespräche, ein kritisches Intermezzo und ein Porträt. Hrsg. von Peter Laemmle. Frankfurt/Main: Fischer-Taschenbuch-Verl., 2002, S. 135–138, hier S. 135.

[2] Ebd. Zöge man freilich den oftmals akademischen Hintergrund so manchen Taxifahrers in Betracht, erschiene die Behauptung, dass es MRR tatsächlich gelungen sei, „weit über die Kreise des literarisch interessierten Publikums hinaus“ bekannt zu werden (Thomas Steinfeld in der SZ vom 19.9.2013), vielleicht in einem etwas anderen Licht.

[3] Wittstock: Die Demokratisierung der Literaturkritik, S. 135.

[4] Marcel Reich-Ranicki im Interview, zit. nach Volker Hage, Matthias Schreiber: Marcel Reich-Ranicki. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995, S. 168.