Buchhändler

Mehr Buchhandel wagen!

Der Buchkauf als blinder Fleck der Literaturkritik. Von Marc Reichwein

Buch-Branche und Kulturpolitik betreiben seit einiger Zeit verstärkte Bewusstseinsbildung: Aktionen wie die Woche unabhängiger Buchhandlungen oder der jüngst ausgelobte Deutschen Buchhandlungspreis, der für 2015 erstmals vergeben wird, möchten das Engagement der (auch in Zeiten von Amazon und Buchfilialisten) immer noch zahlreichen inhabergeführten Buchhandlungen nach dem Vorbild der Programmkino-Förderung belohnen. Monika Grütters, die Beauftragte der deutschen Bundesregierung für Kultur und Medien, sieht im Buchhandels-„Netz geistiger Tankstellen“ – zusammen mit der Buchpreisbindung – sogar ein nationales Kulturerbe, das es zu schützen gilt. Kann und soll auch Literaturkritik mit bestimmten Textsorten zur Pflege dieser buchhändlerischen Infrastruktur beitragen? Ein Essay.


I. Schöner kaufen

II. Literaturkritiker in die Läden!

III. Zwei Meisterszenen der Buchladen-Flanerie

IV.  Bestandteile von Buchladenrezensionen


I. Schöner kaufen

Zwei scheinbar widersprüchliche Entwicklungen kennzeichnen die Lage im stationären Buchhandel der letzten Jahre. Auf der einen Seite hat die Uniformierung der Branche einen hohen Grad erreicht – es gibt Filialisten wie Thalia, Hugendubel und diverse regionale Buchhandelsketten wie die Mayer’sche (NRW) oder Osiander (Baden-Württemberg), die Geschäfte alteingesessener Buchhändler übernommen haben. Auf der anderen Seite erlebt aber auch der inhabergeführte, individuelle Sortimentsbuchhandel eine Renaissance – zumindest in der öffentlichen Aufmerksamkeit: Wenn das „Comeback des Buchhandels“ selbst im Kundenmagazin der Deutschen Bahn zum Thema wird (vgl. mobil, Heft 3/2015, S. 84-89), dann kehrt der Traum vom „Indie Bookstores Rising“ – wie ihn das New York Magazine schon vor Jahren träumte – ins Mutterland der Buchhandlungsdichte zurück.

Motto: Es gibt sie noch, die guten Buchhandlungen, mit persönlicher Beratung und individuellem Sortiment. Besondere Buchläden, so die Botschaft von Prachtbildbänden über „Die schönsten Buchhandlungen Europas“ oder Reiseführern zu „222 Buchläden, die man kennen sollte“, sind längst ein Tourismusziel. Auch die Branche selbst begreift ihre unter Druck geratene Einzelhandelslandschaft immer öfter als „Marke“: Berater wie Rainer Groothius predigen, dass eine Buchhandlung im Idealfall „nicht irgendein Laden“, sondern ein „emotionaler Raum“ sei, in dem der Kunde persönliche Gespräche, Empathie und kulturelle Neugier erleben können muss sowie ein „wenigstens in Teilen eigenwilliges, besonderes Angebot“. 

Individuelle Läden profilieren sich dabei nicht nur im persönlichen Beratungsgespräch. Längst pflegen sie auch ihre Facebook-Community oder geben – wie der Verbund der „5plus“-Buchhandlungen – sogar eine eigene Kundenillustrierte heraus. Und die potenziellen Buchkäufer? Die scheinen begeistert, dürfen sie doch das Gefühl hegen, Teil einer besonders kultivierten Handelsbeziehung zu sein.


II. Literaturkritiker in die Läden!

Was hat das alles mit Literaturkritik zu tun? Nun, bei so viel Buchladen-Fantum einerseits und professionalisierter Eigen-PR andererseits stellt sich die Frage, ob es nicht auch noch einen dritten Weg gibt, Buchhandlungen als besondere Orte der Literaturvermittlung diskursfähig zu halten. Hier käme die Literaturkritik ins Spiel, verstanden als eine journalistische Disziplin, die nicht nur die Literatur, sondern selbstverständlich auch ihre buchmarktbezogene Produktion, Distribution und Rezeption im Blick hat.

Seit jeher gehören Aspekte des literarischen Marktes zum literarischen Leben. Nichtsdestotrotz wissen viele Buchkäufer über die Buchpreisbindung und andere gewerbliche und gesetzliche Besonderheiten der Branche herzlich wenig. Oft genug dominiert das reine Ressentiment. Richtete sich das Feindbild in den 1990er und 2000er Jahren noch stark auf die Buchkaufhäuser von Hugendubel oder Thalia, ist mit deren Krise und Flächenrückbau seit einigen Jahren der Online-Händler Amazon zum alleinigen Bösewicht für sämtliche antikommerziellen Reflexe des engagierten Literaturbetriebs  geworden – ganz gleich, ob es um (möglicherweise manipulierte) Empfehlungsalgorithmen geht oder um allgemeine Antipathie.

Dem reinen Ressentiment könnte ein neues Genre kritischer Berichterstattung entgegengesetzt werden, und dieses Genre wäre die Buchladenbesprechung, die Online- und Offline-Geschäfte gleichermaßen umfassen könnte.  Systematische Buchladenbesprechungen erscheinen in mindestens dreierlei Hinsicht als lohnende Aufgabe der Kritik.

Versteht man dies im Sinne einer „Literaturbetriebskunde“, wie Stephan Porombka sie 2006 skizziert hat, so „erscheinen all die Institutionen, die zum Betriebssystem der Literatur gehören, nicht mehr als uneigentliche Verwalter und Vermarkter literarischer Werke, die wie Parasiten vom heiligen Kunstwerk zehren“. Vielmehr, so Porombka, müssten Buchhandlungen (wie übrigens Verlage, Literaturhäuser, Literaturbüros, Literaturagenturen, Festivalprojekte, literatur- und kulturwissenschaftliche Institute und Forschungsprojekte, Kulturredaktionen in Zeitungen, Zeitschriften und Sendungen im Radio und Fernsehen sowie Institutionen der Kulturpolitik, Schreibschulen etc. auch) allesamt als „Agenturen kollektiver Kreativität gelten, in denen gemeinsam mit dem Autor an dem gearbeitet wird, was man ein ‚Werk’ nennen kann“.[5]

Buchhandlungen und unser Umgang mit ihnen sind ein werkbegleitender Bestandteil der Aufnahme von Literatur – in diesem Sinne kann Buchladenberichterstattung aus Sicht der Literaturkritik gar nicht überschätzt werden. Bleibt die Frage, warum sie bisher kaum stattfindet. Gelegentliche Buchladenporträts, wie sie einzelne Serien im „Börsenblatt“, in der früheren Zeitschrift „Literaturen“ oder zuletzt in der „FAZ“ geliefert haben, fallen eher in die Kategorie Buchladenschwärmerei.

Warum also schreiben Literaturkritiker so selten über Buchhandlungen? Weil sie sich so selten in ihnen aufhalten? Möglich. Tatsächlich bekommen Literaturkritiker Bücher in der Regel als Besprechungsexemplare zugeschickt. Es wäre ein utopischer Vorschlag, wenn Kritiker diese Rezensionsexemplare nicht mehr in die Redaktion (oder nach Hause) geliefert bekämen, sondern in einer Buchhandlung ihrer Wahl abholen müssten. Zu dem Zeitpunkt, da sich Literaturkritiker durch Neuerscheinungen im Laden inspirieren lassen könnten, müssen sie diese beruflich schon längst zur Kenntnis genommen haben. Literaturkritiker haben es berufsbedingt also eher mit Verlagsauslieferungen als mit Ladenlokalen zu tun. Das heißt aber nicht, dass Buchhandlungen nicht generell öfter von Feuilletonisten betreten werden könnten. Historische Vorbilder gefällig?


III. Zwei Meisterszenen der Buchladen-Flanerie

Beispielhafte Buchladenpartien im Sinne von Erlebnissen beim Besuch einer Buchhandlung gibt es in der Literaturgeschichte der Flaneure zuhauf. Robert Walser schreibt in seiner Erzählung Der Spaziergang: „Ich wittere etwas von einem Buchhändler und einem Buchladen“. Wenig später betritt der Ich-Erzähler tatsächlich ein Geschäft.[6]

„Da eine äußerst stattliche, reichhaltige Buchhandlung mir angenehm in die Augen fiel und ich Trieb und Lust spürte, ihr einen kurzen und flüchtigen Besuch abzustatten, so zögerte ich nicht, in den Laden mit sichtlich guter Manier einzutreten, wobei ich mir allerdings zu bedenken erlaubte, daß ich vielleicht mehr als Inspektor und Bücher-Revisor, als Erkundigungen-Einsammler und feiner Kenner denn als beliebter und gerngesehener reicher Einkäufer und guter Kunde in Frage käme. Mit höflicher, überaus vorsichtiger Stimme und in den begreiflicherweise gewähltesten Ausdrücken erkundigte ich mich nach dem Neusten und Besten auf dem Gebiet der schönen Literatur. »Darf ich«, fragte ich schüchtern, »das Gediegenste und Ernsthafteste und damit selbstverständlich zugleich auch das Meistgelesene und am raschesten Anerkannte und Gekaufte kennen und augenblicklich schätzen lernen? Sie würden mich zu ungewöhnlichem Dank in sehr hohem Grad verbinden, wenn Sie die weitgehende Gefälligkeit haben und mir das Buch gütig vorlegen wollten, das, wie ja sicher niemand so genau wissen wird wie gerade Sie, die höchste Gunst beim lesenden Publikum sowohl als bei der gefürchteten und daher ohne Zweifel auch umschmeichelten Kritik gefunden hat und ferner munter findet. Sie glauben garnicht, wie ich mich interessiere, sogleich zu erfahren, welches von allen den hier aufgestapelten und zur Schau gestellten Büchern oder Werken der Feder dieses fragliche Lieblingsbuch ist, dessen Anblick mich ja höchst wahrscheinlich, wie ich auf das allerlebhafteste vermuten muß, zum sofortigen freudigen, begeisterten Käufer machen wird. Das Verlangen, den Lieblingsschriftsteller der gebildeten Welt und sein bewundertes, stürmisch beklatschtes Meisterwerk zu sehen und wie gesagt vermutlich auch sogleich zu kaufen, gramselt und rieselt mir durch alle Glieder. Darf ich Sie höflich bitten, mir dieses erfolgreichste Buch zu zeigen, damit die Begierde, die sich meines gesamten Wesens bemächtigt hat, sich zufrieden gibt und aufhört, mich zu beunruhigen?« »Sehr gern«, sagte der Buchhändler. Er verschwand wie ein Pfeil aus dem Gesichtskreis, um jedoch im nächsten Augenblick schon wieder zu dem begierigen Käufer und Interessenten zurückzukehren und zwar mit dem meist gekauften und gelesenen Buch von wirklich bleibendem Wert in der Hand. Das kostbare Geistesprodukt trug er so sorgsam und feierlich, als trage er eine heilig machende Reliquie. Sein Gesicht war verzückt; die Miene strahlte höchste Ehrfurcht aus, und mit einem Lächeln auf den Lippen, wie es nur Gläubige und Innigstdurchdrungene zu lächeln vermögen, legte er mir auf die gewinnendste Art vor, was er daherbrachte. Ich betrachtete das Buch und fragte:

»Können Sie schwören, daß dies das weitestverbreitete Buch des Jahres ist?«

»Ohne Zweifel.«

»Können Sie behaupten, daß dies das Buch ist, das man gelesen haben muß?«

»Unbedingt.«

»Ist das Buch wirklich auch gut?«

»Was für eine gänzlich überflüssige und unstatthafte Frage.«

»Ich danke Ihnen recht sehr«, sagte ich kaltblütig, ließ das Buch, das die absolut weiteste Verbreitung gefunden hatte, weil man es unbedingt gelesen haben mußte, lieber ruhig liegen, wo es lag, und entfernte mich geräuschlos, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren. »Ungebildeter und unwissender Mensch!« rief mir freilich der Verkäufer in seinem berechtigten tiefen Verdruß nach. Ich ließ ihn jedoch reden und ging gemächlich weiter…“

Während sich Walsers Spaziergänger keck und kostenfrei aus der Affäre zieht, gibt der im Baltikum geborene Feuilletonist Sigismund von Radecki in seiner Sammlung Nebenbei bemerkt[7] einen Eindruck davon, wie man beim Stöbern in einem Antiquariat „den einen, wahren Jagdmoment“ verspüren kann, der einen später teuer zu stehen kommt:

„Ich hatte das Buch erblickt. Das Buch, das ich jahrzehntelang gesucht hatte, in Petersburg, in Wien, in Paris – 'Die russischen Sprichwörter von Dahl, Moskau 1860'."

Gemeint ist die berühmte Sammlung, die der Schriftsteller Wladimir Iwanowitsch Dal (auch: Dahl) herausgebracht hatte. Im Folgenden schildert Radeckis Buchhandlungsflaneur eine schöne Szene des Feilschens, in der er den Preis von 50 auf 25 Mark herunterhandelt – was in der Kaufkraft des Ich-Erzählers immer noch den „Mittagessen eines halben Monats“ entspricht. – Eines schönen Morgens, einige Zeit später, ist der Bücherjäger dann aber wirklich pleite und will seine Bücher-Beute wieder einlösen, und zwar da, wo er sie erworben hat:

„Ich habe hier zufällig einen Dahl zu verkaufen. Die seltene Moskauer Ausgabe."

„Sie meinen die von Druckfehlern starrende Ausgabe 1860? … Nein, ich habe kein Interesse.“

„Aber hören Sie doch, das Buch ist die Seele Rußlands! Es ist vergriffen!“

„In Pariser Antiquariaten liegen Sie zu Dutzenden umher, die Dahls… Was soll es denn kosten?“

„Ich habe es von Ihnen für fünfundzwanzig Mark gekauft. Sie sagten, Sie hätten selber noch Schaden dabei…“

„Lieber Herr inzwischen hat die sich die Konjunktur für Dahls eben durchgreifend verändert. Na – weil Sie es sind: zwei Mark fünfzig.“[8]


IV.  Bestandteile von Buchladenrezensionen

Das Beispiel Robert Walser zeigt, dass ein Buchladenbesuch nicht automatisch einen Einkauf nach sich ziehen muss. Überhaupt haben Buchladenrezensionen zu berücksichtigen, dass Buchhandlungen nicht nur als Einkaufsorte, sondern auch als Veranstaltungsorte fungieren. Die in andächtiger Bildungsbürger-Starre konsumierte Wasserglaslesung, die einst schon Loriot persiflierte („Krawehl, krawehl!“), ist dabei nicht selten moderneren Formaten gewichen. Manchmal werden Literaturbetriebs-Promis in Talkshow-Manier einvernommen; manchmal treten sie wie Denis Scheck als Handlungsreisende auf; und manchmal kommen Buchhändler auch auf die ebenso simple wie zwanglose Idee, bei einer Flasche Wein mit ihren Stammkunden über die liebsten Neuerscheinungen der Saison zu parlieren. Es scheint jedenfalls kein Zufall, dass solche Veranstaltungen zur Literaturvermittlung zu den Kriterien des neu ausgelobten Buchhandlungspreises der deutschen Bundesregierung gehören.

Und sonst? Schon beim Gang in eine Buchhandlung kann der Buchladenflaneur einer Vielzahl von Detailbeobachtungen nachgehen: Wo ist der Laden, zu dem ich gehe, situiert? In was für einem Gebäude, an welchem Platz? Buchhandlungen erzählen auch immer etwas vom Ort, an dem sie ihren Dienst tun, sei es im Bahnhof oder einem bestimmten Stadtteil, sei es neben einer Uni oder auf dem Land.

Und dann hinein in die gute (Bücher-)Stube: Mit welchem Mobiliar wartet der Laden auf, hat er mehr Tische oder Regale, sind die aus Holz oder Kunststoff, und welche Farbregie ist auszumachen? In welcher Aufstellung reihen sich die Bücher: Rücken an Rücken oder in Frontalpräsentation? Sortiert nach bloßen Warengruppen oder speziellen Vorlieben, nach Verlagen oder Autoren, nach Länder-Literaturen oder nach Laufwegen, die ganz offensichtlich die Marktforschung ermittelt hat?

Auf welchem Boden bewegt man sich eigentlich durch so eine Buchhandlung: Auf Teppich oder Parkett – oder gar kalten Shopping-Mall-Fliesen? Stöbert man unter Neonröhren oder Kronleuchtern, in einem Laden mit Klimaanlage oder Büchermuff? Und schließlich: mit welchem Personal? Kompetent oder gelangweilt? Oder beides (auch das soll es geben)?  Welche Gesamtatmosphäre herrscht vor: Andrang wie auf einem Bazar oder stille, allenfalls dielenknarrende Andächtigkeit? Wirkt die Buchhandlung durchorganisiert bis ins letzte Ladenbau-Detail oder hat sie sympathisch-chaotische Ecken, ganz ohne durchgehendes Corporate Design? Gibt es Kinderspielgeräte, Sitzmöbel, Leseecken? Eine Kaffeebar? Welche Mitkunden beobachten wir? Bei was?

Natürlich wird keine Buchladenrezension der Welt sämtliche Aspekte in sich vereinen – so wie ja auch kein Literaturkritiker jedesmal die ganze Literaturgeschichte ausrollt, wenn er einen Roman bespricht. Wohl aber – und da liegt die Parallele – wissen Literatur- wie Buchladenkritiker um Trends und Traditionen, können Entwicklungen einordnen und am konkreten Beispiel plausibel machen, was sie für symptomatisch halten.

Ein Buchkauf im Laden ist offenbar viel mehr als ein Mausklick in den Online-Einkaufswagen, wobei auch der lokal stattfinden kann. Die platte Dichotomie zwischen Buchkaufhaus und Bücherstube, Online-Handel und Ladengeschäft vor Ort scheint ohnehin in Auflösung begriffen. Längst machen die Kleinen Branding wie die Großen. Und die Großen gerieren sich als Anwalt der Kleinen, bemühen sich persönlicher, enthusiastischer, individueller ‚rüberzukommen’ als es ihr Image erwarten lässt. Sinnbildlich dafür steht Amazons Engagement in der Selfpublishing-Szene.

Sinnbildlich dafür scheinen aber auch die zahlreichen handbeschriebenen Kärtchen und Zettelchen, mit denen Buchhandelsketten vor einigen Jahren begannen, Kunden über die Kategorie „Mein besonderer Tipp“ anzusprechen. Idee: Persönlich verfasste Empfehlungen wirken glaubwürdiger als alle Algorithmen dieser Welt. Jede Studie, die danach fragt, wie die Leute zu ihren Lektüre- bzw. Kaufideen kommen, belegt, dass Menschen sich Bücher lieber von Mitmenschen (Kollegen, Bekannten, Verwandten) als von Maschinen empfehlen lassen.

Buchladen-Besprechungen würden sich einerseits eignen, um überhaupt mehr Buchladenwissen zu verbreiten: Weiß der gemeine Kunde überhaupt noch, dass es jenseits von Online-Shopping und Google-Books verschiedene Typen von Buchhandlungen wie das Buchkaufhaus, die Fachbuchhandlung, die Themenbuchhandlung, die Stadtteilbuchhandlung, die Bahnhofsbuchhandlung oder last but not least: das Antiquariat gibt, im Branchenjargon (wo Verlage als „herstellender Buchhandel“ und Sortimenter als „verbreitender Buchhandel“ firmieren) auch gern „erhaltender Buchhandel“ [9] genannt?

Buchladenrezensionen könnten andererseits aber auch herkömmliche literaturjournalistische Formate anreichern, etwa Buchrezensionen, die dann eben auch einmal darüber Auskunft geben, wie man auf ein bestimmtes Buch aufmerksam geworden ist.

Literaturwissenschaftlich gesehen, und diese Erkenntnis kann sich gerade der theoretisch vorgebildete Buchladenkritiker zunutze machen, fängt das Lesen für den Buchkäufer mit der paratextuellen Präsentation der Ware im Buchladen (oder im Internet) an: Etwa damit, „dass Romane unter Kategorien wie ‚Krimi’ oder ‚Bestseller’ eingeordnet werden; in englischen Buchhandlungen großen Stils gibt es Abteilungen für fiction (Romane und Kurzgeschichten, Erzählprosa), crime (Krimis), history, autobiography, aber auch English literature (wo dann die Penguin Classics stehen, während unter fiction eher neueste Literatur und Trivialliteratur zu finden sind).“ Soweit Monika Fludernik, die ihre „Einführung in die Erzähltheorie“ wohl nicht umsonst in einer Buchhandlung beginnen lässt und der Ladeneinrichtung mit ihren Regal-Paratexten erzähltheoretische Relevanz zuspricht.

Buchladenrezensionen könnten in einer Stufe nur helfen, uns selbst zu vergewissern, welche Art von Buchkauf wir eigentlich wollen: Online oder offline? Algorithmenbasiert oder auf persönlich mitgeteilten Lektüreerfahrungen beruhend? Das Verrückte und Spannende ist, dass wir das selbst gar nicht immer so genau wissen. So wie unser literarischer Geschmack nicht monogam ist, so beschränken wir uns auch konsumideologisch nicht auf ein einziges Vertriebsmodell.

Es kommt eben ganz darauf an. Und es ist bekanntlich so, dass man als Buchkäufer und Leser keineswegs immer und überall die gleichen Ansprüche hat, sondern durchaus unterschiedlichen Neigungen folgt. Online stöbert man anders als offline, im Urlaub anders als im Alltag. An eine (zukünftig nicht mehr als Buchkaufhaus weiterlebende) Hugendubel-Filiale am Münchner Marienplatz durfte man andere Erwartungen stellen als an den Museumsshop im Lübecker Buddenbrookhaus.

Ziel einer Vermessung der Buchladenwelt mit feuilletonistischen Mitteln kann also keine Formulierung mustergültiger oder gar branchenweiter Ansprüche sein. Für allgemeine Benchmarks ist jeder Buchladen, jeder Buchkäufer, jeder Leser viel zu individuell.

Was herauskommt, wenn man den Service von Buchhandlungen pseudoobjektiv vergleichen will, zeigt das im „Börsenblatt“ veröffentlichte Panel des Deutschen Instituts für Service-Qualität: Da geht es um Mitarbeiter, die in der Kundenberatung statt Büchern vor allem Strategien für „gezielte Bedürfnisanalysen“ im Kopf haben sollen, und es geht um Läden, die statt auf literarische Kost anscheinend vor allem auf „kostenlose Wasserspender“ achten müssen, um beim Service-Rating zu punkten. Nicht in allen, aber doch in vielen Punkten eine Farce – aber letztlich ja nur wieder eine Steilvorlage, an der ein Buchladenkritiker aktiv werden könnte.

Erzählen, wie wir uns beim Kauf von Büchern inspirieren, aber auch irritieren lassen, wie wir uns dabei von Gewohnheiten tragen und doch auch immer wieder gerne überraschen lassen: Buchladenrezensionen informieren und orientieren uns auch und nicht zuletzt über eine Kulturtechnik. Sie geben uns Auskunft darüber, was wir an unserer im internationalen Vergleich immer noch beeindruckend mittelständisch aufgestellten Buchhandelsbranche haben.

Gerade wegen der Buchpreisbindung und des in Deutschland traditionell perfekt aufgestellten Zwischenbuchhandels stehen die Chancen auf Erhalt mittelständischer Strukturen gar nicht so schlecht. Schon Jahre vor jedem Internet-Express-Service anderer Branchen war es ausgerechnet der Buchhandel, der die Möglichkeit bot, Ware vom Großhändler über Nacht kommen zu lassen. Heute bieten, was nicht alle wissen, auch viele kleine Händler jenseits von Amazon diesen Service bis nach Hause, und schließen sich an Initiativen wie „Lass den Klick in deiner Stadt“ oder „Buy Local“ an.

Um unseren inhabergeführten Buchhandel vor Ort zu erhalten, müssen wir journalistisch thematisieren, was wir an ihm haben – und kritisieren, was wir an ihm eventuell vermissen. 

So wie ein traditioneller Anspruch im Aufgabenkatalog des Literaturkritikers mal auf Geschmacksbildung lautete, so könnten Buchladenrezensionen dazu beitragen, anspruchsvolle, aufgeklärte Buchkäufer zu bilden. Der Buchladenkritiker verfügt über ein Geschmackssensorium, an dem er andere teilhaben lassen kann. Dabei geht es nicht um missionarischen Eifer. So wie ein literarischer Text mindestens so viele Lesarten kennt, wie es Leser gibt, gilt auch für die Art und Weise, Bücher zu erwerben beziehungsweise sich für ihre Anschaffung zu interessieren: Es gibt viele Wege zum Buch. Nicht jeder Leser ist ein Literaturkritiker, dem alles auf den Schreibtisch geschickt wird.

 

Marc Reichwein, 27.04.2015
marc.reichwein@gmail.com



[1] Reus, Günter (1999): Ressort: Feuilleton. Kulturjournalismus für Massenmedien. Konstanz: UVK Medien, S. 100.

[2] Hohendahl, Peter Uwe (1974): Literaturkritik und Öffentlichkeit. München: Piper, S. 233.

[3] Hage, Volker (2009): Kritik für Leser. Vom Schreiben über Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp taschenbuch, S. 275.

[4] Lämmert, Eberhard (1980): Über die zukünftige Rolle der Literaturkritik. In: Gebhard, Peter (Hg.): Literaturkritik und literarische Wertung. Darmstadt: WBG, S. 312-330, hier 326.

[5] Porombka, Stephan (2006): Literaturbetriebskunde. Zur „genetischen Kritik“ kollektiver Kreativität. In: Porombka, Stephan / Schneider, Wolfgang / Wortmann, Volker (Hg.): Kollektive Kreativität. Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis. Tübingen: Francke, S. 71-86, hier 75 f.

[6] Walser, Robert (1917): Der Spaziergang. Frauenfeld und Leipzig: Huber & Co, S. 7-10.

[7] Radecki, Sigismund von (1937): In den Bart gemurmelt. In: Ders.: Nebenbei bemerkt. Berlin: Rowohlt, S. 116-123, hier 117.

[8] Ebd., 122

[9] Zitiert nach Kerlen, Dietrich (2003): Lehrbuch der Buchverlagswirtschaft. Stuttgart: Hauswedell & Co, S. 231.

Abbildung: Kritiker im Buchladen. Aus den "Fliegenden Blättern", Jg. 1880, Nr. 1833, S. 83