(Privat)Rechtsvereinheitlichung – Europäische Rechtsangleichung
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Von Alexander Wittwer.
A. Europäisierung des Privatrechts
Literaturquelle
I. Zuständigkeit der EG
Das Angleichen des öffentlichen Rechts, welches Handelshemmnisse sowie das Abschotten nationaler Märkte und dadurch Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EG bewirkt, war eine der Ideen der Gründerväter der EWG. Heute ist man zur Überzeugung gelangt, dass auch Unterschiede in den nationalen Zivil- und Zivilprozessrechten Handelsbarrieren bewirken können, die es zu beseitigen gilt.
In einem Vorabentscheidungsersuchen verneinte der EuGH (C-116/02, Gasser) die Frage des OLG Innsbruck (4R 41/02i), ob und inwieweit die äußerst langwierigen italienischen Zivilprozesse diskriminierend sind. – In den 1960er Jahren begann das Harmonisieren des Gesellschaftsrechts, darauf folgten unter anderem bestimmte Bereiche des Arbeits-, Versicherungs-, Handels-, Wettbewerbs- und Immaterialgüterrechts. Seit Mitte der 1980er Jahre wird besonderes Augenmerk auf das Vertrags- und Verbraucherschutzrecht gelegt; siehe Kästen. Kompetenzrechtlich werden diese EG-Rechtsakte insbesondere auf den allgemeinen Rechtsangleichungstatbestand in Art 95 EGV gestützt, ferner bspw auf Art 44 Abs 2 lit g EGV (Gesellschaftsrecht) oder Art 153 EGV (Verbraucherschutz) und – durch den Amsterdamer Vertrag (1997) neu eingeführt – auf Art 65 EGV (Internationales Privat- und Zivilprozessrecht).
Rechtssprechungsbeispiel
Privatrechtliche Angleichungsmaßnahmen sind auch im Lichte des jüngst ergangenen Tabakwerbeurteils des EuGH (C-378/98, Deutschland/Parlament und Rat, Slg 2000, I-8419) zu sehen. Der EuGH erklärte die Tabakwerberichtlinie 98/43/EG – darin wurde ein Verbot für Tabakwerbung statuiert – für nichtig, da für das Erlassen derselben keine Kompetenzgrundlage bestand. Bloße Unterschiede in den nationalen Rechten der Mitgliedstaaten reichen für ein Tätigwerden der EG nicht aus. Vgl Rn 84 f des Urteils.
Literaturquelle
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II. Europäische Gesetzgebungsakte zum Privat- und Wirtschaftsrecht
1. Rechtsakte zum Privat, Handels- und Verbraucherschutzrecht (Auswahl)
Produkthaftung: RL 85/374/EWG, ABl 1985 L 210/29, geändert durch RL 1999/34/EG, ABl 1999 L 141/20
Haustürgeschäfte: RL 85/577/EWG, ABl 1985 L 372/31
Handelsvertreter: RL 86/653/EWG, ABl 1986 L 382/17
Verbraucherkredit: RL 87/102/EWG, ABl 1987 L 42/48, geändert durch RL 90/88/EWG, ABl 1990 L 61/14 und RL 98/7, ABl 1998 L 101/17
Pauschalreisen: RL 90/314/EWG, ABl 1990 L 158/59
Produktsicherheit: RL 92/59/EWG, ABl 1992 L 228/24
• Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen: RL 93/13/EWG, ABl 1993 L 95/29
Timesharing: RL 94/47/EG, ABl 1994 L 280/83
• Grenzüberschreitende Überweisungen: RL 97/5/EG, ABl 1997 L 43/25
Fernabsatz: /7/EG, ABl 1997 L 144/19
Verbrauchsgüterkauf: RL 99/44/EG, ABl 1999 L 171/12
Elektronische Signaturen: RL 99/93/EG, ABl 2000 L 13/12
E-commerce: RL 2000/31/EG, ABl 2000 L 178/1
Zahlungsverzug: RL 2000/35/EG, ABl 2000 L 200/35
Grenzüberschreitende Euro-Zahlungen und elektronische Zahlungsvorgänge (zB Bankomatabhebungen im Ausland): Verordnung (!) 2560/2001/EG, ABl 2001 L 344/13
Fernabsatz von Finanzdienstleistungen: RL 2002/65/EG, ABl 2002 L 271/16
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2. Rechtsakte zum übrigen Wirtschaftsrecht (Auswahl)
Gesellschaftsrecht:
Publizität: RL 68/151/EWG, ABl 1968 L 65/8
Kapital: RL 77/91/EWG, ABl 1977 L 26/1
Jahresabschluss: RL 78/660/EWG, ABl 1978 L 222/11
Spaltung von AG: RL 82/891/EWG, ABl 1982 L 378/47
Verschmelzung von AG: RL78/855/EWG, ABl 1978 L 295/36
Zweigniederlassung: RL 89/666/EWG, ABl 1989 L 395/36
Einpersonen-Gesellschaft: RL 89/667/EWG, ABl 1989 L 395/40
Supranationale Gesellschaftsformen:
Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung, EWIV-VO 2137/85, ABl 1985 L 199/1
Europäische Aktiengesellschaft – Socieatas Europea (SE), VO 2157/2001/EG, ABl 2001 L 294/1 und RL 2001/86/EG hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl 2001 L 294/22
Versicherungsrecht:
Schadensversicherung:. 1. RL 73/239/EWG, ABl 1973 L 228/3; 2. RL 88/357/EWG, ABl 1988 L 172/1; 3. RL 92/49/EWG, ABl 1992 L 228/1
Lebensversicherung:. 1. RL 79/267/EWG, ABl 1979 L 63/1; 2. RL 90/619/EWG, ABl 1990 L 330/50; 3. RL 92/96/EWG, ABl 1992 L 360/1
Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungs-RL: 1. RL 71/166/EWG, ABl 1971 L 103/1; 2. RL 84/5/EWG, ABl 1984 L 8/17; 3. RL 90/232/EWG ABl 1990 L 129/33; 4. RL 2000/26/EG ABl 2000 L 181/65
Arbeitsrecht:
Arbeitnehmerfreizügigkeit: VO 1612/68/EWG, ABl 1968 L 257/2
Gleichbehandlung (Lohn): RL 75/117/EWG, ABl 1975 L 45/19
• Gleichbehandlung (sonstige Arbeitsbedingungen): RL 76/207/EWG, ABl 1976 L 39/40
Massenentlassungen: RL 75/129/EWG, ABl 1975 L 48/29
Betriebsübergang: RL 77/187/EWG, ABl 1977 L 61/26
Arbeitsschutz: RL 89/391/EWG, ABl 1989 L 183/1
Zeit- und Leiharbeit: RL 91/383/EWG, ABl 1991 L 206/19
Mutterschutz: /85/EWG, ABl 1992 L 348/1
Arbeitszeit: RL 93/104/EG, ABl 1993 L 307/18
Jugendarbeitsschutz: RL 94/33/EG, ABl 1994 L 216/12
Wirtschafts- und Immaterialgüterrecht:
• Vgl zum Wettbewerbsrecht Art 81 und 82 EGV und die daraus ergangenen Rechtsakte
Irreführende Werbung: RL 84/450/EWG, ABl 1984 L 250/20
Vergleichende Werbung: RL 97/55/EWG, ABl 1997 L 290/18
Marken: RL 89/104/EWG, ABl 1989 L 207/44
Rechtsschutz vonComputerprogrammen: RL 91/250/EWG, ABl 1991 L 122/42
Vermieten und Verleihen vonUrheberrechten: RL 92/100/EWG, ABl 1992 L 346/61
Schutzdauer des Urheberrechts: RL 93/98/EWG, ABl L 1993 L 290/9
Biotechnologische Erfindungen: RL 98/44/EG, ABl 1998 L 213/13
Muster und Modelle: RL 98/71/EG, ABl 1998 L 289/28
Urheberrecht: RL 2001/29/EG, ABl 2001 L 167/10
Gemeinschaftsgeschmacksmuster: VO 6/2002/EG, ABl 2002 L 3/1
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III. Teil- und Mindestharmonisierung
Die EG-Angleichungsmaßnahmen beziehen sich nur auf Teil- oder Randbereiche des Privatrechts (zB Pauschalreisen, Haustürgeschäfte, missbräuchliche Vertragsklauseln etc.) und klammern in ihrem Anwendungsbereich andere – zumeist aber zusammengehörende – Privatrechtsgebiete aus; sog Teilharmonisierung.
Was ist Teil-, was Mindestharmonisierung?
Beispiel Literaturquelle
Art 153 Abs 5 EGV gestattet den Mitgliedstaaten beim Umsetzen der RL, einen höheren Schutzstandard für Verbraucher beizubehalten oder einzuführen; sog Mindestharmonisierung. Solche Ermächtigungen finden sich in jeder Verbraucherschutz-RL; bspw Art 11 Timesharing-RL oder Art 8 Haustürgeschäfte-RL.
Beispiel
Diese einfachen Beispiele lassen erahnen, welche Probleme Teil- und Mindestharmonisierung mit sich bringen. Trotz EG-Maßnahmen findet man in Europa kein einheitliches (Verbraucherschutz)Recht vor, da einige Staaten – darunter auch Österreich – von der Möglichkeit Gebrauch machen, den Schutzstandard höher zu halten als die RL selbst. Eine jüngst von der EG-Kommission vorgeschlagene, neue RL über den Verbraucherkredit (KOM (2002) 443) geht einen anderen Weg, nämlich Vollharmonisierung.
Kritik
Man spricht sinnbildlich von einem Dampfer mit 15 verschiedenen Anstrichen. Hinzu kommt oft, dass die Maßnahmen der EG nicht aufeinander abgestimmt sind. Zu Recht stehen die EG-Rechtsangleichungsmaßnahmen daher unter heftigem Beschuss; so wird ihnen etwa vorgeworfen, sie stünden „unverbunden nebeneinander”, seien „fragmentarisch” und „inkohärent”. Das SLIM-Projekt (Simpler Legislation for the Internal Market) der EG hat daran bisher wenig geändert.
Beispiel Literaturquelle Beispiel
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B. Europäisches Zivilgesetzbuch?
Trotz rechtlicher, politischer und wirtschaftlicher Bedenken haben sich europäische Rechtswissenschaftler zu Kommissionen zusammengeschlossen, um den Weg für ein Europäisches Zivilgesetzbuch aus rechtswissenschaftlicher Sicht zu ebnen.
Zu erwähnen sind etwa die „Commission on European Contract Law” mit ihrem Vorsitzenden Ole Lando (Lando-Kommission), die „Study Group on a European Civil Code” (Ch. von Bar/Osnabrück) und die Akademie Europäischer Privatrechtswissenschaftler (Gandolfi/Pavia); aus österreichischer Sicht: „European Centre of Tort and Insurance Law” (Koziol/Wien) und das Erarbeiten von „Restatement of European Insurance Contract Law” (Reichert-Facilides/Innsbruck).
UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts http://www.unidroit.org
Principles of European Contract Law („Lando-Principles”) http://www.cbs.dk/departments/law/staff/ol/commission_on_ecl/index.html
Study Group on a European Civil Code („von Bar-Gruppe”) http://www.europe.uos.de/ECC/index.htm
Vorentwurf eines Europäischen Vertragsgesetzbuchs, Akademie europäischer Privatrechtswissenschaftler, „Pavia-Gruppe” Gandolfi (Hg), Code Europeen des Contrats, Avant-Projet (2001)
Restatement of European Insurance Contract Law http://www2.uibk.ac.at/zivilrecht/restatement/index.html
Centre of Tort and Insurance Law http://www.ectil.org
Commission on European Family Law http://www.law.uu.nl/priv/cefl/
Im Juli 2001 startete die EU-Kommission eine breitangelegte Debatte über ein gemeinsames Europäisches Vertragsrecht: http://www.europa.eu.int/comm/consumers/policy/developments/contract_law/index_de.html
Nun hat die EU-Kommission am 12.2.2003 einen Aktionsplan veröffentlicht (KOM (2003) 68 endgültig, ABl 2003 C 63/1), der ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht beabsichtigt. Dabei sollen weitere Untersuchungen auch zu anderen zivilrechtlichen Bereichen folgen, die Qualität der Gesetzgebung verbessert werden und vor allem ein gemeinsamer vertragsrechtlicher Referenzrahmen geschaffen werden. Dieser soll gemeinsame Grundsätze und Begriffe des Vertragsrechts enthalten und somit als Grundlage für die zukünftige Gesetzgebung dienen. Der erste wirkliche Schritt in Richtung eines europäischen Vertragsgesetzbuches ist somit erfolgt.
Literaturquelle