Das Privatrecht als Teil der Rechtsordnung
[ Unterkapitelansicht ]
A. Einführung ins Privatrecht
I. Das Privatrecht im Alltag und in der Rechtsordnung
In unserem Alltag gibt es immer wieder Berührungspunkte mit dem Recht, insbesondere auch mit dem Privatrecht. Häufig sind wir uns dessen aber gar nicht bewusst. Wir schließen Kaufverträge, Mietverträge, Werk- oder Arbeitsverträge ab, machen Schenkungen, leihen uns etwas aus oder sind Betroffene eines Verkehrsunfalls, der zu Schadenersatzansprüchen führt oder womöglich sogar strafrechtliche Konsequenzen hat. – Wir wollen uns in der Folge ansehen, wie sich das Privatrecht – als Teil derselben – in die Gesamtrechtsordnung einfügt und welche Aufgabe dem Recht in einer Gesellschaft überhaupt zukommt.
nach oben
II. Bürgerliches Recht, Zivilrecht, ius civile
Die Termini Bürgerliches Recht und Zivilrecht sind Synonyma und Übersetzungen aus dem Lateinischen/römisches Recht, das von ius civile sprach. – Privatrecht ist der etwas weitere Begriff, der als Oberbegriff neben dem allgemeinen auch das Sonderprivatrecht umfasst.
Begriffe
Das allgemeine Privatrecht oder bürgerliche Recht gilt für die privaten Rechtsverhältnisse aller BürgerInnen eines Staates „unter sich”; vgl § 1 ABGB. Seine Regeln betreffen vielfältige Lebensbereiche; etwa das Personen-, Familien-, Ehe- und Erbrecht, Sachenrecht und Schuldrecht etc. – Kurz: Das bürgerliche Recht schafft gleiches (Privat)Recht für alle Bürger/innen.
Allgemeines Privatrecht
Zur Anwendung gelangt bürgerliches Recht aber auch auf Rechtsbeziehungen zwischen Bürger und Staat (zB Kaufvertrag), wenn der Staat nicht hoheitlich, sondern privatwirtschaftlich auftritt; dazu → Die sog Privatwirtschaftsverwaltung und auch noch § 20 ABGB. Ebenso zwischen Bürgern und Fremden/Nichtbürgern.
Das Sonderprivatrecht dagegen gilt nicht für alle, sondern nur für bestimmte Gruppen (zB ist das Handelsrecht das Sonderprivatrecht für Kaufleute) oder für bestimmte Sachbereiche / Spezialmaterien; zB das Privat-versicherungsrecht, das Wertpapier- oder Urheberrecht.
Sonderprivatrecht
Im Bereich des Sonderprivatrechts gilt das allgemeinebürgerliche Recht (ABGB) aber subsidiär; dh dann, wenn das jeweilige Sonderprivatrecht keine eigenen Regeln getroffen hat, was aber häufig der Fall ist; zB im Handelsrecht / HGB oder Arbeitsrecht.
Literaturquelle


Zweiteilung der Rechtsordnung
Abbildung 1.1:
Zweiteilung der Rechtsordnung


ABGB, HGB und KSchG
Abbildung 1.2:
ABGB, HGB und KSchG
nach oben
III. Privatrecht: Keine Über- und Unterordnung
Eine Rechtsvorschrift gehört – ganz grob gesagt – dem Privatrecht an, wenn sie die Rechtsbeziehungen (also die Rechte und Pflichten) der Menschen (genauer: von Rechtssubjekten) untereinander regelt; vgl § 1 ABGB, der auf Martinis Entwurf (I 1 § 3) beruht: „unter sich”. – Im Privatrecht herrscht grundsätzlich Gleichstellung der Rechtspartner, im öffentlichen Recht dagegen typischerweise eine Über- und Unterordnung. Mehr zu dieser Unterscheidung → Mehr zu dieser Abgrenzung
nach oben
IV. Recht im objektiven und subjektiven Sinn
Die österreichische Rechtsordnung, das ist die Summe aller in Österreich geltenden Rechtsvorschriften, besteht aus privatem und öffentlichem Recht.
Zur Strukturierung der Rechtsordnung vgl deren Stufenbau → Stufenbau der Rechtsordnung
Neben der hier besprochenen nationalen / österreichischen Rechtsordnung gibt es auch noch supranationale Rechtsordnungen (bspw die der Europäischen Gemeinschaften/EU) und die internationale Völkerrechtsordnung (UNO etc).
Die (Gesamt)Rechtsordnung wird auch als Recht im objektiven Sinn bezeichnet; kurz: das Recht im objektiven Sinn ist die Rechtsordnung. Gemeint ist damit jenes Recht, das ein Staat „für alle” seine Bürger/innen bereitstellt, damit diese davon Gebrauch machen können; und zwar zunächst nur abstrakt bereitstellt, dh noch ohne konkrete Zuordnung an bestimmte Rechtssubjekte, also zB für Frau A.
Recht im objektiven Sinn
Dem Recht im objektiven Sinn wird das – aus der jeweiligen Rechtsordnung erfließende, aus ihr abgeleitete – Recht im subjektiven Sinn gegenübergestellt. Man könnte es auch als konkretisiertes Recht im objektiven Sinn bezeichnen. – Das Recht im subjektiven Sinn gewährt einzelnen Personen konkrete rechtliche Befugnisse oder Ansprüche, eben subjektive Rechte; etwa für Frau A, die ein Fahrrad erworben hat, das Eigentumsrecht an ihrem Fahrrad. (Das hier zur Anwendung gelangende Recht im objektiven Sinn, sind die §§ 353 ff ABGB, die aber das Eigentumsrecht noch abstrakt, dh für alle, und noch nicht bezogen auf eine konkrete Person, ein Rechtssubjekt, regeln.) Man kann demnach sagen: Subjektive Rechte sind die dem einzelnen Rechtssubjekt (Menschen oder juristischen Personen) von der Rechtsordnung verliehenen Befugnisse/Berechtigungen, also gewährte Rechtsmacht. Subjektive Rechte dienen der Befriedigung und dem Schutz menschlicher Interessen. Dazu mehr → Mehr zu den subjektiven Rechten Mit dem Rechtserwerb durch ein Individuum oder eine juristische Person wandelt sich das in der Rechtsordnung (abstrakt) zur Verfügung gestellte Recht im objektiven Sinn in das konkrete Eigentumsrecht von Frau A – wie aller anderen, die subjektive Rechte erwerben – um.
Recht im subjektiven Sinn


Das Gesamtrechtssystem
Abbildung 1.3:
Das Gesamtrechtssystem
Subjektive Rechte gewährt aber nicht nur das Privatrecht, sondern auch das öffentliche Recht. Man spricht dann von subjektiv-öffentlichen Rechten; zB der Pensionsanspruch eines Arbeitnehmers gegen die Sozialversicherung, der Pflegegeldanspruch einer alten Frau gegen Bund oder Land oder der Anspruch eines Bauherrn aufgrund des Baubescheids bauen zu dürfen oder das subjektiv-öffentliche Recht auf freien Zugang zu Umweltinformationen nach den §§ 4 ff UIG, BGBl 495/1993 (in Entsprechung von RL 90/313/EWG).
Subjektive Rechte
Die angloamerikanische Rechtsterminologie unterscheidet zwischen law (= Recht im objektiven Sinn) und right (= Recht im subjektiven Sinn). Im Deutschen besitzen wir mit dem Wort Recht – wie im Französischen: droit – für diese Unterscheidung keine eigenen Begriffe.
Recht, law and right
Der Terminus „Recht” umschließt als Oberbegriff sowohl das Recht im objektiven als auch das im subjektiven Sinn. „Recht” umfasst alle Rechtsquellen einer Rechtsordnung (), also gesatztes und ungesatztes Recht, wozu insbesondere das Gewohnheitsrecht und allenfalls auch – je nach Standpunkt – das Naturrecht (iSv vernunftrechtlichen Kulturstandards) und schließlich auch rechtlich relevante gesellschaftliche Sitten, Gebräuche, Gewohnheiten / Usancen gehören. Rechtsordnung oder gesatztes Recht nimmt nämlich immer wieder auf nicht gesatztes Recht Bezug; so bspw § 879 ABGB oder § 1 UWG auf die „guten Sitten” () oder die § 7 ABGB und § 16 ABGB auf die „natürlichen Rechtsgrundsätze” und die „angeborne[n] Rechte”; vgl auch das KdmPat zum ABGB, Abs 1, 1. HalbS, wo von „… allgemeinen Grundsätzen der Gerechtigkeit …” gesprochen wird. – Auch unserem Verfassungsrecht liegt ein solches Rechtsverständnis zugrunde, mag das auch von (rechts)positivistischer Seite bestritten werden. Art 1 B-VG formuliert nämlich nicht zufällig: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht [!] geht vom Volke aus.” Alles Recht, das vom Volke – in welcher Form auch immer – akzeptiert oder erzeugt wird, ist demnach Recht iSd B-VG. So schon das römische Zwölftafelgesetz (XII 5): „In den Zwölftafeln ist eine Vorschrift, dass, was immer das Volk letztlich gutgeheißen hat, Recht und rechtskräftig sei.” Das Verständnis von Recht als Volksrecht und der Gerichtsbarkeit als Volksgerichtsbarkeit, stammt aus dem alten Griechenland. (Ein solches Verständnis relativiert letztlich wieder den scheinbar unversöhnlichen Gegensatz von Naturrecht und Positivismus!)
Das mythisch-personifizierende Rechtsdenken der Griechen kleidet das Recht im objektiven Sinn (= die Rechtsordnung) in die Gestalt der Göttin Themis (Thémis éstin = Es ist Recht) und die daraus abgeleitete subjektive Befugnis (des Einzelnen) in das der Themistochter Dike. (Dike wird in der Frühzeit Griechenlands – vgl Homer, Odysse 19, 43 – als Brauch, Art, Gewohnheit, altes Herkommen verstanden; woraus erschlossen werden kann, dass die Vorstellung bestand, dass das subjektive Recht des Einzelnen aus altem, geheiligtem Brauch erfloss, der auch die Einheit mit den Vorfahren [Ahnenkult, Götterglauben] herstellte. Schon die Griechen – und nicht erst die Römer – haben die Grundlagen des europäischen Rechtsdenkens gelegt. Sie unterschieden auch schon zwischen Nomos (= ursprünglich ungesatztes Recht + nomologisches Wissen iS Max Webers) und Thesmos (= gesatztes Recht). Das weite Verständnis des Begriffs „Recht” haben die Römer von den Griechen übernommen, wie überhaupt manch’ römisches auf griechischem Rechtsdenken beruht; vgl zur Abfassung des Zwölftafelgesetzes nur Tacitus, Annalen 3, 36, 27: „ ... Man wählte Dezemvirn, holte alles Vorzügliche, das sich irgendwo fand, herbei und faßte die Zwölftafeln ab...”. Darunter war viel griechisches Recht; vgl auch Augustinus, De Civitate Dei 2, 16.
Themis und Dike
Zur Frage der Gerechtigkeit .


Rechtsordnung – subjektive Rechte
Abbildung 1.4:
Rechtsordnung – subjektive Rechte
Literaturquelle
nach oben
V. Das ABGB als Teil der Rechtsordnung
Das österreichische allgemeine bürgerliche Recht ist im ABGB niedergelegt, das seit 1.1.1812 gilt → Zur Entstehung des ABGB Im Laufe seiner Geltung wurde das ABGB immer wieder geändert / novelliert. Das ist grundsätzlich nicht zu tadeln, denn auch das bürgerliche Recht muss an die Erfordernisse der jeweiligen Zeit angepasst werden. Auch auf die nötige legistische Qualität muss geachtet werden, was nicht immer der Fall war. – So wurde in den 1970er und 80er Jahren in mehreren Reformschritten das Familienrecht an die geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angepasst (Familienrechtsreform): zB grundsätzliche Gleichstellung der Ehegatten (§ 89 ABGB: partnerschaftliche Ehe); oder die Liberalisierung des Scheidungsrechts (zB § 55 a EheG: einvernehmliche Scheidung .
Das Instrument (privat)rechtlicher Änderungen und Anpassungen ist die Rechtspolitik, die in der juristischen Ausbildung völlig vernachlässigt wird und kaum je ernst genommen wurde. Die Folgen sind unübersehbar: Schlechte Gesetze, inhaltlich wie sprachlich, sind eine bedauerliche Tatsache. Man lasse bspw einmal den Text der viel zu langen und komplizierten neuen Gewährleistungsregeln auf sich wirken. Weniger wäre hier mehr gewesen. – K. A. v. Martini, von dem die legistischen „Richtlinien” von 1792 für eine bahnbrechende neue europäische Legistik (Jahre vor dem frCC!) stammen, hat sie erstmals in seinem Entwurf (1796) und dann im WGGB (1797) verwirklicht. Zeiller hat sie übernommen. Sie führten idF zum ABGB und waren Voraussetzung für dessen legistische Qualität. Martini meinte: „[Gesetze] sollen … deutlich und kurz, wie die 10 Gebothe Gottes geschrieben seyn, damit sie auch Leute von geringeren Geistesgaben fassen und im Gedächtnis behalten können.”
Rechtspolitik
Die Entwicklung seit 1812 führte dazu, dass manche Rechtsmaterie, die ursprünglich im ABGB selbst geregelt war, schließlich in einem eigenen Gesetz geregelt wurde; es entstanden ganz neue Rechtsgebiete. Es kam also zu einer Auslagerung von Rechtsgebieten aus der zentralen privatrechtskodifikation. So wurden nach dem Ersten Weltkrieg das Arbeitsrecht und das Privatversicherungsrecht / VersVG und nach dem Zweiten Weltkrieg bspw das WEG 1948/1975/2002 und 1979 etwa das KSchG sowie 1988 das PHG geschaffen und seither mehrfach angepasst.
Entwicklung seit 1812


Das ABGB als Mutterboden (privat)rechtlicher Entwicklungen
Abbildung 1.5:
Das ABGB als Mutterboden (privat)rechtlicher Entwicklungen
Obwohl sich wie eben gezeigt aus dem ABGB heraus neue privatrechtliche Spezialgebiete entwickelt haben, ist der Mutterboden ABGB auch für diese privatrechtlichen „Kinder” – mögen diese mittlerweile auch erwachsen geworden sein – von großer Bedeutung geblieben. Die neuen Sonderprivatrechtsgebiete treffen zwar für ihren jeweiligen Bereich Spezialregelungen, bauen aber auf dem allgemeinen bürgerlichen Recht (ABGB) als Grundlage auf. Das gilt insbesondere für die wichtigen Gebiete des Handels- und Arbeitsrechts, aber auch für das KSchG oder die Haftpflichtgesetze, zB das EKHG.
Mutterboden ABGB
Allmählich scheint es an der Zeit, darüber nachzudenken, was wieder in die allgemeine Kodifikation des Privatrechts zurückgeführt werden kann: Eherecht, Handelsrecht, Arbeitsrecht, KSchG etc? – Das wäre auch insofern eine Chance, als zB der Gedanke des Verbraucherschutzes vom KSchG selbst mit Füssen getreten wird und eine Neuorientierung verlangt. Überflüssige Neufassungen wie jene des WEG 2002, erschweren diese Zielsetzungen → KAPITEL 8: Wohnungseigentum: WEG 2002.
nach oben
VI. Mehr zu den subjektiven Rechten
Wir haben gehört, dass die subjektiven Rechte aus der Rechtsordnung, dem Recht im objektiven Sinn, abgeleitet werden, und wollen nun etwas mehr über ihren Erwerb, ihre Wirkung und ihre Arten erfahren.
Die subjektiven Rechte sind wie erwähnt zentral für das Privatrecht, das – als Teil der Rechtsordnung – die Freiheit und Privatinitiative der Einzelnen innerhalb der Schranken der Rechtsordnung fördern und schützen will. Die subjektiven Rechte dienen als rechtstechnisches Mittel, um die „eigenen” Interessen abzustecken und mit denen anderer, die ebensolche Interessen haben, in Einklang zu bringen; Privatautonomie.
Privatautonomie
Ein Kanon subjektiver Rechte wurde erstmals im antiken Griechenland durch die Gesetzgebung Solons (594/3 v. C.) geschaffen. Subjektive Rechte setzen als Träger freie (!) und weithin (jedenfalls im Privatrecht) gleiche Rechtssubjekte voraus, was durch die solonische Gesetzgebung erstmals verwirklicht wurde. Solon machte alle attischen Bürger – unwiderruflich – frei. Bis dorthin verlor ein Bürger, der seine Schulden nicht zurückzahlen konnte, auch seine bürgerliche Freiheit; Schuldknechtschaft. – Mehr bei Barta, „Graeca non leguntur”? – Zum Ursprung des europäischen Rechtsdenkens im antiken Griechenland (in Vorbereitung: 2005).
Der Erwerb subjektiver Privatrechte erfolgt auf verschiedene Weise: Einerseits erwirbt das einzelne Rechtssubjekt subjektive Rechte schon unmittelbar durch das Gesetz, also ohne bewusstes Handeln. Man kann auch sagen: Automatisch durch die Rechtsordnung. So erlangen wir Rechtsfähigkeit und Persönlichkeitsrechte mit der Geburt (§ 16 ABGB, § 17 ABGB: angeborene Rechte / iura connata), ja uU sogar schon früher (§ 22 ABGB: nasciturus / Leibesfrucht) oder erwerben einen Schadenersatzanspruch dadurch, dass andere uns körperlich verletzen oder uns einen Vermögensschaden zufügen; §§ 1293 ff ABGB. – Andrerseits (und das betrifft die Mehrzahl der Fälle) werden subjektive Privatrechte durch das autonome rechtsgeschäftliche Handeln von Rechtssubjekten erworben; insbesondere dadurch, dass Verträge geschlossen werden, aus denen für die Vertragsparteien Rechte und Pflichten fließen.
Erwerb subjektiver Rechte
Es gilt dabei immer zu bedenken, dass das subjektive Recht des einen, für die andere Seite idR eine Pflicht bedeutet. Und häufig sind im Privatrecht Rechte und Pflichten stark miteinander verschränkt; das gilt vor allem für die entgeltlichen Rechtsgeschäfte, die Verträge → KAPITEL 5: Einteilung nach ihrer Entstehung.
1. Arten subjektiver Rechte
Man teilt die den einzelnen Rechtssubjekten / Personen zustehenden subjektiven Rechte nach verschiedenen (vgl idF die Punkte 7-11), sich zum Teil überschneidenden, Gesichtspunkten ein, nämlich in:
• Personen- und Sachenrechte → Personen- und Sachenrechte als subjektive Rechte,
• Dingliche und Forderungsrechte → Dingliche Rechte und Forderungsrechte,
• Gestaltungsrechte → Gestaltungsrechte,
• Absolute und relative Rechte → Absolute und relative Rechte sowie
• Nachgiebiges und zwingendes Recht → Nachgiebiges und zwingendes Recht


Einteilung subjektiver Rechte
Abbildung 1.6:
Einteilung subjektiver Rechte
nach oben
VII. Personen- und Sachenrechte als subjektive Rechte
Gemeint ist mit der Unterscheidung in Personen- und Sachenrechte, dass Personen – und zwar natürlichen wie juristischen – Rechte zustehen können:
• an Sachen (= Sachenrechte) und
• zum Schutz der eigenen Person (auch gegen andere Personen) und im Familienrecht zum Schutz anderer Personen (Eltern-Kindbeziehung).
Sachen haben dagegen (bisher) grundsätzlich keine (eigenen) Rechte; vgl aber nunmehr § 285a ABGB und dazu die Ausführungen in → KAPITEL 8: § 285a ABGB: ¿Tiere sind keine Sachen ...¿.
Nach WGGB I 1 § 26: „ ... Rechte gebühren auch eigentlich nur den Personen, und nicht den Sachen.” – Werden derzeit Sachen iSd § 285 ABGB geschützt, geschieht das nicht um ihrer selbst, sondern um des Menschen willen; zB Tier- oder Pflanzenschutz. Dieses Verständnis erfordert längst ein Umdenken. Mehr dazu → KAPITEL 8: Allgemeines zum Sachbegriff.
§ 14 ABGB (→ Einteilung des bürgerlichen Rechts ) unterscheidet – dem römischen und dem Naturrecht der Aufklärung folgend – zwischen:
Grundeinteilung des ABGB
Personenrecht ieS und iwS (+ oder – Familienrecht § 15 ABGB und
Sachenrecht: vgl §§ 285, 307, 308, 859 ABGB.
Zum Personenrecht gehören insbesondere die Persönlichkeitsrechte (etwa die §§ 16, 17 ABGB), die Regelungen über den Schutz Minderjähriger (zB § 21 ABGB) und schließlich das Familienrecht; §§ 44 ff ABGB. – Unter Sachenrecht iwS versteht das ABGB das gesamte Vermögensrecht, welches nach heutiger Terminologie sowohl das Sachenrecht ieS (ABGB: dingliche Sachenrechte) wie das Schuldrecht (ABGB: persönliche Sachenrechte) umfasst; vgl § 307 ABGB.
Sehen wir uns in der Folge Einteilung und Ausgestaltung der subjektiven Rechte näher an. Denn sowohl die Sachenrechte, als auch die Schuldrechte weisen innerhalb ihres Bereichs wiederum beträchtliche Unterschiede auf. So steht das Eigentum als dingliches Vollrecht, den beschränkten dinglichen Sachenrechten (zB Servituten) gegenüber.
nach oben
VIII. Dingliche Rechte und Forderungsrechte
Diese Unterscheidung ist für das bürgerliche Recht und sein Verständnis von grundlegender Bedeutung. Die Ausgestaltung eines Rechts als dingliches oder Forderungsrecht hat nämlich wichtige Konsequenzen. Insbesondere die Rechtswirkung gegenüber Dritten ist unterschiedlich: Während dingliche Rechte mit sog Drittwirkung ausgestattet und als absolute Rechte gegen jedermann durchsetzbar sind, weil sie auch von jedermann verletzt werden können, wirken Forderungs- oder relative Rechte grundsätzlich bloß inter partes, also nur zwischen den Parteien der jeweiligen Vereinbarung.
Eine gewisse Erweiterung des Schutzes relativer Rechte hat das Konzept der Verletzung oder Beeinträchtigung fremder Forderungsrechte gebracht → KAPITEL 11: Verletzung fremder Forderungsrechte. Dies gibt auch die Folie: „Relative und absolute Rechte” (→ KAPITEL 1: Absolute und relative Rechte) wieder, indem sie einen Überschneidungsbereich ausweist. Zur Rechtsnatur relativer Rechte auch → Absolute und relative Rechte
Die Sachenrechte werden auch dingliche Rechte genannt, weil sie eine unmittelbare Sachherrschaft gewähren. Sie haften unmittelbar an der Sache. Zu ihnen zählt vor allem das Eigentum als dingliches Vollrecht, das von den begrenzten dinglichen Rechten zu unterscheiden ist; vgl die Formulierung der §§ 353, 354 ABGB (Eigentum) mit den §§ 447 ff ABGB: Pfandrecht.
Dingliche Rechte
Mehr dazu in → KAPITEL 8: Gegenüberstellung: SachenR ¿ Schuldrecht: Gegenüberstellung von Schuld- und Sachenrecht. Vgl auch die Ausführungen in → KAPITEL 15: Dingliche und obligatorische Sicherheiten: Sicherungsmittel.
Dingliche Herrschaftsrechte entziehen bestimmte Rechtsobjekte der rechtlichen Einwirkung anderer Rechtssubjekte und gewähren ihren Trägern eine unmittelbare Einwirkung auf und die ausschließliche „Herrschaft” über ein/e konkrete/s Rechtsobjekt / Sache.
Herrrschaftsrechte
§ 354 ABGB lässt daran keinen Zweifel: „Als ein Recht betrachtet, ist Eigentum das Befugnis, mit der Substanz und den Nutzungen einer Sache nach Willkür zu schalten und jeden andern davon auszuschließen.”
Die dinglichen (Sachen)Rechte gewähren als Herrschaftsrechte ein unmittelbares – dh nicht durch andere Personen vermitteltes – Recht an einer Sache selbst (ius in re); zum Unterschied von den persönlichen, Schuld- oder Forderungsrechten, die nur das Recht beinhalten, von einer anderen Person eine bestimmte Leistung zu verlangen; Recht auf eine Sache: ius ad rem.
ius in re und ius ad rem
Beispiel
Die persönlichen oder Forderungsrechte sind schuldrechtlicheoder wie sie auch genannt werden – obligatorische Ansprüche.
Forderungsrechte
Beispiel
Forderungsrechte gewähren die Befugnis, vom (obligatorisch) Verpflichteten ein bestimmtes Tun oder Unterlassen (Verhalten) zu verlangen. – Forderungsrechte gewähren aber noch kein unmittelbares Zugriffsrecht auf die – zB zu liefernde – Sache selbst. Das erhält zB der Käufer erst mit der Übergabe der Sache. Eigenmacht ist auch hier verpönt.
nach oben
IX. Gestaltungsrechte
Eine besondere Gruppe der subjektiven Rechte sind die Gestaltungsrechte. Sie räumen dem jeweils Berechtigten einseitige Rechtsmacht ein, die zur Aufrechterhaltung oder Verlängerung des bestehenden Rechtszustands oder zu einer Rechtsänderung führen kann. Gestaltungsrechte können sowohl schuld- wie sachenrechtliche Rechtspositionen betreffen.
Beispiel Literaturquelle
nach oben
X. Absolute und relative Rechte
Diese Unterscheidung ist für das Verständnis des Privatrechts von Bedeutung, ist sie doch für die unterschiedliche Ausgestaltung von Schuld- und Sachenrecht charakteristisch; mag sie auch in anderen Privatrechtsbereichen vorkommen.
Absolute Rechte wirken gegenüber jedermann und verleihen die (Rechts)Macht, einen Anspruch gegen wen auch immer durchzusetzen, der das geschützte Recht beeinträchtigt. – Absolute Rechte sind neben den dinglichen (Sachen)Rechten insbesondere auch die Persönlichkeitsrechte; zum Persönlichkeitsschutz → KAPITEL 4: Die Persönlichkeitsrechte. Absolute Rechte existieren also auch außerhalb des Sachenrechts; zB auch im Familienrecht (Recht der Eltern auf ihre Kinder) oder im Vermögensrecht die sog Immaterialgüterrechte (Urheber-, Patent-, Marken- und Musterschutz).
Absolute Rechte
Für Immaterialgüterrechte gelten zum Teil aber auch andere sachenrechtliche Grundsätze; vgl etwa § 23 MarkSchG: Prioritätsrecht des Markeninhabers. – Die Immaterialgüterrechte nehmen daher eine Art Mittelstellung zwischen dem Schuld- und dem Sachenrecht ein. Sie wirken zwar absolut, vermitteln aber dennoch keine dingliche Rechtsposition, mögen auf sie auch gewisse dingliche (Rechts)Prinzipien – wie Priorität und Spezialität – zur Anwendung gelangen.
Immaterialgüterrechte
Literaturquelle
Generell erzeugt die Verletzung absoluter Rechte Ansprüche auf Beseitigung gegenüber „jedermann”; genauer: Ansprüche auf Unterlassung künftiger Eingriffe und auf Beseitigung dauerhafter Störungen. Dazu treten bei Verschulden Schadenersatzansprüche.
Vgl die Regelung des § 43 ABGB → KAPITEL 4: Das Namensrecht.
Beispiel


Relative und absolute Rechte
Abbildung 1.7:
Relative und absolute Rechte
Sie wirken – als Gegen(satz)begriff zu den absoluten Rechten – nicht gegenüber jedermann, sondern nur gegenüber bestimmten Personen, nämlich jenen, mit denen der/die Berechtigte in eine konkrete schuldrechtliche Beziehung getreten ist. Sie werden daher auch persönliche Rechte genannt, was nicht zu verwechseln ist mit Personen- und Persönlichkeitsrechten. – Man sagt, sie wirken inter partes; dh nur zwischen den beteiligten Parteien.
Relative oder Forderungsrechte
Zwischen relativen und absoluten sowie zwischen absoluten und dinglichen Rechten gibt es Übergänge: Einerseits ist hier die sog Beeinträchtigung fremder Forderungsrechte zu nennen (→ KAPITEL 11: Verletzung fremder Forderungsrechte), andrerseits können bestimmte Forderungsrechte durch Eintragung ins Grundbuch ‚verdinglicht’ werden und erlangen dadurch absolute Wirkung; so nach § 9 GBG das Vorkaufsrecht (§ 1073 ABGB) oder das Bestandrecht (§ 1095 ABGB). Die Immaterialgüterrechte wurden schon erwähnt.
nach oben
XI. Nachgiebiges und zwingendes Recht
Die Rechtsordnung gestaltet eine Rechtsposition zwingend oder nachgiebig aus, was aber nicht immer ohne weiteres erkennbar ist. – Das erlangte subjektive Recht übernimmt dann diesen „(Rechts)Status”.
Unterschieden wird danach, ob eine rechtliche Anordnung durch Parteiwillen / Vereinbarung abänderbar ist oder nicht. Große Teile des Privatrechts – insbesondere das Schuldrecht – sind nachgiebiges oder Dispositivrecht. Die Vertragsparteien können hier ihre Rechtsverhältnisse im Rahmen der Rechtsordnung (privat)autonom gestalten. Gesetzliche Dispositivnormen gelten nämlich nur subsidiär dh nur dann, wenn die Parteien nichts anderes, also abweichendes, vereinbart haben.
Dispositivrecht
Vgl dazu auch → KAPITEL 7: Nachgiebiges und zwingendes Recht. Dort finden sich auch Beispiele. – Zur Vertragsfreiheit und Privatautonomie → KAPITEL 5: Vertragsfreiheit und Privatautonomie.
Rechtssprechungsbeispiel
OGH 24.. 1999, 3 Ob 229/98t, JBl 2000, 513: Der Unterhaltsanspruch zwischen geschiedenen Ehegatten ist nicht zur Gänze Dispositivrecht; daher Sittenwidrigkeit des Beharrens auf einem Unterhaltsverzicht auch für den Fall der Not, wenn bei streitiger Scheidung ein Unterhaltsanspruch bestünde.
Zwingendes Recht kann von den Parteien nicht abgeändert oder beseitigt werden. Es ist hinzunehmen. Zur Unterscheidung von relativ und absolut zwingend → KAPITEL 7: Nachgiebiges und zwingendes Recht.
Zwingendes Recht
Beispiel Literaturquelle
nach oben
B. Zur Gesellschaftsfunktion des Rechts
Literaturquelle
(Privat)Recht wird üblicherweise gelehrt und studiert, ohne sich der Stellung des Rechts im gesellschaftlichen Gesamtsystem und seiner Funktionen bewusst zu sein. – Mag diese Aufgabe hier auch nicht befriedigend gelöst werden können, so soll doch nicht ganz auf dieses Erfordernis verzichtet werden. Vgl auch → KAPITEL 18: Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft?.
I. Die Staats- und Rechtsfunktionen
Zu den klassischen (Ordnungs)Funktionen des Staates gehört das Gewährleisten persönlicher Sicherheit und das Herstellen eines zuverlässigen Rechtsrahmens. Staat und Recht sind seit Alters her verbundene Gefäße. Obwohl das Absterben des Staates (und damit wohl auch des Rechts) immer wieder vorausgesagt wurde, gibt es zu ihm keine Alternative. Ähnliches gilt für das Recht.
Aufgabe des Rechts war es und ist es bis heute, ganz allgemein gesagt, die häufig auftretenden Möglichkeiten gesellschaftlicher Desintegration in Zaum zu halten und zu neutralisieren. Das Recht vermag Konflikte zwar nicht völlig auszuschalten, aber es kann sie mindern und insbesondere dient es „zivilisierter” Konfliktaustragung. Das haben die Menschen früh verstanden. – Die Gesellschaft ist dabei nicht als monolithischer Block zu sehen, sondern als ein in verschiedene Bereiche gegliedertes, differenziertes Gebilde, was die Aufgabe des Rechts erschwert.
Aufgabe des Rechts
D. Bell, Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus (19, 1991) unterscheidet drei Gesellschaftsbereiche, von denen ein jeder eigenen „Gesetzen” folgt: – die techno-ökonomische Struktur; – die politische Ordnung und – die Kultur: „Diese Bereiche sind nicht kongruent: sie weisen verschiedene Rhythmen des Wandels auf und unterliegen verschiedenen, sich jeweils anders legitimierenden Normen und sogar gegensätzlichen Verhaltensweisen. Die Unstimmigkeiten zwischen diesen Bereichen sind für die mannigfaltigen Widersprüche innerhalb der Gesellschaft verantwortlich.”
1. Rechtsfunktionen
Das moderne Recht verfolgt daher mehrfache Zielsetzungen / Rechtsfunktionen, um den Tendenzen gesellschaftlicher Destabilisierung zu begegnen. Es sind dies:
• die Friedens-, Sicherheits- und Ordnungsfunktion des Rechts iS einer zivilisierten Konfliktaustragung,
• die Gerechtigkeitsfunktion,
• die Herrschaftsfunktion und
• die Herrschaftskontrollfunktion des Rechts.
Zur Idee des Rechtsstaates → Der Rechtsstaat , zur Rechtsphilosophie → KAPITEL 18: Rechtsphilosophie. – Das moderne Rechtsdenken hat in diesem Zusammenhang zwei Begriffe entwickelt, die wenigstens erwähnt werden sollen: Rechtsidee und Rechtsbegriff: Die Rechtsidee enthält und formuliert die höchsten Zielsetzungen einer konkreten Rechtskultur/Gemeinschaft, der Rechtsbegriff unterstützt diese Zielsetzung durch die funktionale Ausgestaltung des materiellen und formellen Rechts einer konkreten Rechtsordnung. Gelingt diese Umsetzung, wird von Rechtskultur gesprochen.
Literaturquelle
nach oben
II. Frieden und Ordnung als Rechtsfunktionen
Das (Privat)Recht dient dazu:
Frieden in Staat und Gesellschaft zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Das bedeutet Konfliktverhütung und Konfliktbereinigung; vgl dazu etwa die Ausführungen zur gesellschaftlich wichtigen Funktion des Besitzes → KAPITEL 3: Die Funktion des Besitzes. – Recht wird daher auch ein unverzichtbarer Bestandteil einer künftigen Welt(friedens)ordnung sein.
Frieden
Recht dient aber auch dazu, um für Ordnung und Zweckmäßigkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Freiheit zu sorgen; Ausgleich zwischen Individuum (Freiheits- und Gleichheitsansprüche, Grundrechte) und Gemeinschaft (sozialer Schutz des Schwächeren; Sicherung des rechtsgeschäftlichen Verkehrs etc). Auch das dient dem Frieden in einer Gesellschaft. – Dem Recht kommt neben einer gesellschaftlichen Ausgleichs-, auch eine wichtige soziale Gestaltungsaufgabe zu. Das fordert der Gedanke der Gerechtigkeit → KAPITEL 18: Recht und Gerechtigkeit. Viele Rechtsbestimmungen erfüllen wichtige Ordnungsfunktionen: Man denke an familienrechtliche und erbrechtliche Regeln oder Einrichtungen wie das Grundbuch (→ KAPITEL 2: Das Grundbuch), aber auch Formvorschriften erfüllen oft eine Ordnungsfunktion. Auf rechtliche Ordnungsregeln ist auch die Wirtschaft angewiesen: Firmenbuch (→ KAPITEL 15: Das Firmenbuch / FB), Handlungsvollmacht und Prokura (→ KAPITEL 13: Erteilung der Vollmacht), Wechsel- und Scheckrecht (→ KAPITEL 15: Der Wechsel), Gesellschaftsrecht.
Ordnung
Überall wo Menschen zusammenleben, braucht es Regeln, um Ordnung und Sicherheit und dadurch Frieden zu schaffen. Nur zu leicht entsteht Unordnung und Chaos und damit die Gefahr von Unfrieden und Gewaltanwendung. – Das beginnt in einer Wohngemeinschaft von Studierenden und endet im staatlichen Bereich des Rechts; daher zB: Straßenverkehrsordnung (StVO), StPO und Strafgesetzbuch (StGB), GmbHG, VereinsG, Konkurs-, Ausgleichs- und AnfechtungsO usw. – Die ordnende Hand des Rechts dient dem gesellschaftlichen Frieden.
Heute besteht eine wichtige Aufgabe des internationalen Rechts darin, über das jeweilige national-staatliche Recht hinaus, für Frieden, Gerechtigkeit und Ausgleich in der Weltgesellschaft zu sorgen: daher zwischenstaatliche Abkommen (bi- und multilaterale), supranationales Recht (EU), internationales Recht (Völkerrecht: UNO, Europarat etc).
Internationales Recht
Zu Uno-Charta + neue EU-Verfassung → KAPITEL 4: Rechtserhebliche Zustände und Eigenschaften von Menschen.
Dem Recht, als wichtigster Gruppe von Sozialnormen (einer Gesellschaft), kommt demnach seit der Antike eine wichtige Aufgabe zu. Um seine grundlegenden Ziele zu erreichen, bedarf das Recht des organisierten Zwangs. Es unterscheidet sich dadurch von anderen gesellschaftlichen / konventionellen Normen (Sitte, Moral, Religion), deren Ziele bloß mittels sozialen Drucks, nicht aber durch organisierten Zwang, verfolgt werden. – Zwischen diesen verschiedenen Sozialnormen existieren aber, wie schon Max Weber betont hat, zahlreiche und wichtige Über­gänge.
Recht als organisierter Zwang
Hinsichtlich des Zwangscharakters des Rechts lassen sich unterschiedliche Ausformungen unterscheiden. Im Normalfall enthält eine Rechtsnorm eine Rechtsfolge, die, wenn es nötig ist, mit Zwangsgewalt durchgesetzt wird. Wir nennen ein derart sanktioniertes Recht: lex perfecta. – Davon ist die lex imperfecta zu unterscheiden, die insofern unvollkommen ist, weil sie für den Fall ihrer Übertretung / Nichtbeachtung von vorneherein keine Sanktion/ Rechtsfolge enthält; sei das eine Strafe oder das Unwirksamerklären eines Rechtsakts. – Ordnet eine Rechtsnorm/ das Gesetz bloß „Strafe” iwS an, ohne bei ihrer Übertretung auch die Ungültigkeit des Rechtsakts vorzusehen (so bspw das KSchG bezüglich der Verpflichtung der Errichtung eines sog Ratenbriefs → KAPITEL 2: Das Abzahlungsgeschäft) spricht man von lex minus quam perfecta. – Schließlich wird noch von lex plus quam perfecta gesprochen, wenn eine Norm im Falle ihrer Übertretung / Nichtbeachtung „Strafe” / Nachteil und (!) Nichtigkeit / Unwirksamkeit vorsieht; zB Geschwisterehe bei Kenntnis der Verwandtschaft oder Bigamie.
Unterschiedliche Normqualität
Zuletzt soll hier noch ein moderner Begriff erwähnt werden, der des soft law / sanften Rechts: Darunter werden Rechtsregeln verstanden, die bloß raten und empfehlen, nicht aber sanktionieren. Der Begriff stammt aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis, die Idee aber aus dem alten Griechenland (Platon). Der Gesetzgeber macht davon (zu) wenig Gebrauch.
Soft law
Literaturquelle
Mit der Aufgabe des Rechts, für Frieden und Ordnung in einer Gesellschaft zu sorgen, hängt eine weitere Besonderheit unserer Disziplin zusammen, die wenigstens erwähnt werden soll: Rechtliches Entscheiden hat immer auch den „Erfolg”, also die voraussehbaren Folgen und Konsequenzen (des Entschiedenen) zu bedenken. Eine Rechtsnorm oder Entscheidung ist nur dann wirklich „gut”, wenn sie über ihre sachliche Stimmigkeit hinaus, auch die gesellschaftlichen Folgewirkungen bedenkt. Das gilt für die Gesetzesproduktion ebenso, wie das Handeln eines Verwaltungsorgans, eines Straf- oder Zivilrichters oder eines vertragsgestaltenden Rechtsanwalts.
Gesellschaftliche Folgewirkungen
Man spricht von Folgenorientierung und Folgenkontrolle: sog Implementierung und Evaluation von Gesetzen. Dies mahnt eindringlich ein berühmtes Rechtssprichwort ein (mag auch dessen ursprünglicher Sinn ein anderer gewesen sein): Fiat iustitia pereat mundus – Es geschehe Recht, mag dabei auch die Welt zugrundegehen. Darin unterscheidet sich die Rechtswissenschaft von anderen Wissenschaftsdisziplinen, insbesondere den Naturwissenschaften und der Technik, wenngleich auch hier mitunter bereits „weiter” gedacht wird.
Folgenkontrolle etc
Literaturquelle
In zivilisierten Staaten kann der Einzelne „sein” Recht grundsätzlich nicht mehr selbst durchsetzen. Er muss sich dazu jener Behörden bedienen, die der Staat zur Rechtsdurchsetzung bereitstellt; so die §§ 19 und 344 ABGB: sog Selbshilfeverbot.
Rechtsdurchsetzung
Zum bis heute verkannten anspruchsvollen Inhalt des § 19 ABGB (Rechtsgewähranspruch + Selbsthilfeverbot + Verbindung zur Lückenfüllungsregel des § 7 ABGB, samt einem allfälligen Aufleben des bürgerlichen Widerstandsrechts: Barta, K. A. v. Martinis bleibende Bedeutung für die österreichische und europäische Rechtswissenschaft, in: Barta/ Pallaver/ Rossi/ Zucchini (Hg), Storia, Istitutioni e diritto in Carlo Antonio de Martini (1726-1800) 96 ff (2002). und derselbe, in: Barta / Palme / Ingenhaeff (Hg), Naturrecht und Privatrechtskodifikation 56, 74, 78 (1999).
§ 19 ABGB
Mehr zur prozessualen Rechtsdurchsetzung .
Das Recht auf Selbsthilfe besteht aber noch in folgenden Fällen:
• Einerseits als Notwehr (§ 19 Satz 2 ABGB und § 3 StGB) und
• andrerseits in der Form bestimmter – gesetzlich geregelter – Besitzschutzhandlungen: Besitzwehr und Besitzkehr; dazu mehr in → KAPITEL 3: Besitzschutz ¿ Allgemein und → KAPITEL 3: Gerichtlicher Besitzschutz.
§ 19 Satz 1 ABGB ordnet an: „Jedem, der sich in seinem Rechte gekränkt zu sein erachtet, steht es frei, seine Beschwerde vor der durch die Gesetze bestimmten Behörde anzubringen....” Damit soll Eigenmacht / Selbsthilfe ausgeschaltet werden. Andernfalls herrschte das Recht des Stärkeren / Faustrecht; im Mittelalter: Fehdewesen. – (Erlaubte) Reste von Selbsthilfe gibt es aber noch heute.
§ 344 Satz 1 ABGB bestimmt: „Zu den Rechten des Besitzes gehört auch das Recht, sich in seinem Besitze zu schützen, und in dem Falle, dass die richterliche Hilfe zu spät kommen würde [zB Kellnerin stellt Zechpreller], Gewalt mit angemessener Gewalt abzutreiben (§ 19 ABGB)”. – § 1321 ABGB regelt das Recht der Privatpfändung von Vieh.
Eine Notwehrhandlung ist daher nicht rechtswidrig. „Notwehr ist diejenige Verteidigung, welche erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden”; § 227 Abs 2 dtBGB; vgl auch § 3 öStGB.
nach oben
III. Wichtige Rechtsinstitute erfüllen grundlegende Rechtsfunktionen
Recht – so wurde ausgeführt – ordnet und befriedet das Gemeinwesen und damit das Zusammenleben der Menschen. Recht macht Gesellschaft möglich. Diesen Zielsetzungen dienen auch grundlegende oder Basis-Rechtsinstitute, derer man sich bedienen kann und auf die man sich – im rechtsgeschäftlichen oder gesellschaftlichen Verkehr als Privater oder Kaufmann – verlassen können muss; etwa die zentralen Rechtsinstitute Eigentum (§§ 353 ff ABGB als dingliches Vollrecht an Sachen und überhaupt das Sachenrecht oder insbesondere auch die Regeln über den Vertragsschluss §§ 861 ff ABGB. Hier zu nennen sind auch das Erb- und Familienrecht, die von Zeit zu Zeit an den gesellschaftlichen Wandel angepasst werden müssen; vgl etwa: Familienrecht einst (ABGB 1811), in den 1970er Jahren im Rahmen der großen Familienrechtsreform (Kreisky/Broda) und heute. – Auch das öffentliche Recht greift gesellschaftlich ordnend ein: zB RaumordnungsG, GrundverkehrsG, BauOn, StrafG, Ausländerbeschäftigung.
nach oben
IV. Rechtssicherheit
Die genannten Rechtsfunktionen – nämlich Frieden zu stiften sowie Ordnung, Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Sicherheit in einer Gesellschaft zu etablieren – weisen auf ein wichtiges Rechtsgut moderner Staaten hin: die Rechtssicherheit. Dies iSv Erwartungssicherung, Vorausberechenbarkeit rechtlichen Handelns sowie Konfliktregelung durch geordnetes Verfahren, aber auch als Schutz vor Übergriffen der „Politik”, die wie wir in den letzten Jahren in Österreich erleben mussten, beachtliche Ausmasse angenommen haben (zB Zugriff auf geheime Polizeidaten/der weithin vertuschte Spitzelskandal etc).
Erst durch gewährte Rechtssicherheit wird persönliches und wirtschaftliches Planen möglich. Recht und Gesetz dienen daher auch dazu, Macht jeder Art zu zügeln (Herrschaftskontrollfunktion; zB VfGH, VwGH) und gegenseitiges Vertrauen und Sicherheit zu schaffen. Denn gemeinsame, verbindliche Regeln können das Bewusstsein gemeinsamer Verantwortung stärken. Ein Staat, der diese Grundwerte achtet, ist ein Rechtsstaat → Der Rechtsstaat
Rechtliches Planen
nach oben
V. Sozialer Wandel: Recht als gesellschaftliches Steuerungsmittel
Recht dient in modernen Staaten auch als Instrument planmäßiger gesellschaftlicher / sozialer Gestaltung und Entwicklung; sozialer Wandel durch Rechtspolitik → Rechtspolitik zB Straf(prozess)- oder Familienrechtsreform, moderne Arbeitszeitregelung, besserer (privat)rechtlicher Schutz von Patienten, Konsumenten oder Pflegeheimbewohnern, Produkthaftung, Regelung der Nutzung der Gentechnik usw. – Neben dem nationalen (Privat)Recht tritt dabei immer stärker als Gestaltungsfaktor das supranationale Recht der EU in Erscheinung.
Rechtspolitik
Das juristische Studium birgt die Gefahr in sich, dass sich Studierende zu sehr an die Gegebenheiten der gegenwärtigen Gesellschaft anpassen, fast möchte man sagen, stromlinienförmig ausgerichtet werden, um in der Folge den Blick dafür zu verlieren, dass und wo die Gesellschaft – die ein Prozess von Werden und Vergehen ist – (rechtzeitig) geändert werden muss, um einen gerechten Ausgleich in Frieden zu sichern. Die Vermittlung des Erkennens der Notwendigkeit eines adäquaten sozialen Wandels muss daher als wichtige juristisch-didaktische Aufgabe erkannt werden. Das Instrument rechtlicher Veränderung ist die Rechtspolitik → Rechtspolitik Verständnisfördernd wirkt die Rechtsgeschichte.
nach oben
C. Normen als „Wegweiser” – Recht, Sitte, Moral
I. Die Orientierungsfunktion des Rechts
Schon der Codex Theresianus von 1766 (I 1 § 1 Num 1), formuliert:
„Das Recht, insoferne als es ein Gesetz bedeutet, ist eine Richtschnur der menschlichen Handlungen. Dessen Endzweck ist die Gerechtigkeit, welche in deme bestehet, dass einem Jeden das Seinige, was ihme von Rechtswegen gebühret, zu Theil werde.”
Normen, Rechtsvorschriften, Paragraphen sind – das ist ihre ureigenste Aufgabe – Wegweiser für menschliches Verhalten. Sie dienen der Verhaltensorientierung der Menschen in einer Gesellschaft. Der Sinn von Rechtsnormen liegt demnach vornehmlich darin, dass sich die Menschen an die gesetzlichen Regelungen halten, sie beachten und nicht übertreten. Darin liegt die Hauptaufgabe von Recht. Nicht die Sanktion, also die verhängte Rechtsfolge von Normen, als Konsequenz von Rechtsverletzung, steht im Vordergrund, sondern ihre Orientierungsfunktion.
Normen als Wegweiser
Das gilt nicht nur für das Zivilrecht, sondern auch für das Strafrecht: zB § 75 StGB (Mord), § 76 StGB (Totschlag), § 80 StGB (fahrlässige Tötung), § 105 StGB (Nötigung), § 111 StGB (üble Nachrede) usw. – Dies hat wie wir gesehen haben früh der Codex Theresianus reflektiert, aber auch der Begründer der Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung, der Österreicher Eugen Ehrlich, erkannt; vgl → KAPITEL 18: Rechtstatsachenforschung. – Recht besitzt demnach eine wichtige soziale Steuerungsfunktion.
Soziale Steuerungsfunktion
Die wichtige Orientierungsfunktion von Recht setzt voraus, dass rechtliche Anordnungen von den Betroffenen (im Großen und Ganzen) akzeptiert werden (können). Eine funktionierende Rechtsordnung setzt nämlich Rechtsakzeptanz voraus. Rechtsakzeptanz setzt wiederum Ausgewogenheit des Rechts voraus und verlangt eine Orientierung des Gesetzgebers an den Gerechtigkeitspostulaten der Rechtsidee. Die alten Griechen haben daher die Leitvorstellung vom Recht als „Mitte“ zwischen den Extremen entwickelt; Solon, Platon, Aristoteles. – Ein Gesetzgeber, der seinem Namen gerecht wird, handelt danach. Gerechtigkeit verlangt vor allem vom Gesetzgeber – weniger vom Richter! – soziale Billigkeit; vgl aber etwa §§ 21 und § 1310 ABGB oder § 2 D(N)HG. Das wurde bereits im Rahmen der österreichischen Privatrechtskodifikation diskutiert; Martini, Kees.
Rechtsakzeptanz
Literaturquelle
nach oben
II. Sitte / Brauch, Moral <-> Recht: Sozialnormen
Rechtsnormen sind aber nicht die einzigen Wegweiser (Sozialnormen) für menschliches Verhalten in einer Gesellschaft. Neben der Rechtsordnung existieren Sitte und Moral sowie Brauch und Religion.
Der wesentliche Unterschied zwischen dem Recht und anderen gesellschaftlichen Verhaltens- oder Sozialnormen besteht aber darin, dass es im Wesen des Rechts liegt, seine Anordnungen notfalls mit staatlicher Zwangsgewalt durchzusetzen, wenn Betroffene sich nicht freiwillig danach richten; organisierter Zwang.
Zwangscharakter von Recht
Gemeinsam haben Recht, Sitte und Moral, dass sie kultur- und zeitabhängig sind. Jede Gesellschaft / Kultur bildet die ihr entsprechenden Sozialnormen aus, wobei der Umfang der einzelnen Bereiche und das Verhältnis und die Übergänge zu- und ineinander charakteristisch für eine Gesellschaft sind und einem mehr oder weniger starken Wandel unterliegen. – Sozialer Wandel ist demnach für alle Gruppen von Sozialnormen eine wichtige Orientierungsgröße.
Gemeinsamkeiten
Als Sitte wird der gesellschaftliche – mehr oder weniger gefestigte – Brauch verstanden, der heute nicht (mehr) erzwingbar ist; er beinhaltet das Abstellen auf ein äußeres, erwünschtes Verhalten. – Zwischen Sitte und Recht bestehen aber noch heute Wechselwirkungen; dh: Sitten werden vom Recht immer wieder als beachtlich angesehen.
Sitte – Brauch
Rechtsrelevante Sitten
Beispiel Literaturquelle
Die Moral wendet sich im Gegensatz zu Sitte und Recht nicht an das forum externum, sondern an das forum internum, also an das Gewissen des Einzelnen und ist grundsätzlich nicht auf ein äußeres – insbesondere kein erzwingbares – Verhalten gerichtet. – Aber es bestehen wiederum Wechselwirkungen mit Sitte und Recht. So enthält die rechtliche Sitten-Widrigkeit des § 879 ABGB auch Elemente der Moral, ist mit ihr aber dennoch nicht gleichzusetzen → KAPITEL 11: Gegen die guten Sitten. – Jede Gesellschaft hat darauf zu achten, dass ihre unterschiedlichen Sozialnormen sich nicht zu sehr widersprechen oder unverbunden nebeneinander stehen.
Moral
Das Lernen von Sozialnormen, insbesondere von Sitte und Moral, erfolgt im Rahmen des Sozialisationsprozesses, also der Erziehung iwS. Das (Klein)Kind durchläuft in seinem Sozialisationsprozess schon sehr früh Phasen, die für sein späteres Verhältnis zu Recht und Gesellschaft wichtig sind.
Lernen von Sozialnormen
Eine unterschiedliche Haltung in der Beziehung von Recht und Moral nehmen in der Kodifikationsgeschichte K. A. v. Martini und F. v. Zeiller ein. Während sich Martini, als Vertreter eines moralischen Realismus, bei Anerkennung der Selbständigkeit jedes Bereichs, gegen eine vollständige Trennung von Recht und Moral aussprach, folgte Zeiller der damals modernistischen, aber etwas weltfremden – und für das Recht wenig brauchbaren – Position Kants, die eine vollständige Trennung dieser Bereiche forderte. – Wir können heute klar sehen, wohin letztere Haltung führt.
Recht und Moral
Literaturquelle
Herrschende Moralvorstellungen laufen immer wieder Gefahr, brüchig, ja heuchlerisch zu werden und zu einer „doppeltenMoral zu degenerieren. So war es mit der kirchlich-bürgerlichen Moral, die die (Rechts)Stellung der Frau, die uneheliche Geburt und die Scheidung, überhaupt Sexualität stigmatisierte und dadurch eine Schein- oder Doppelmoral förderte. Auch im Arbeitsleben ist hier vieles schief gelaufen.
Moralvorstellungen
Es ist eine wichtige Aufgabe von Kunst, Literatur und Wissenschaft, diese gesellschaftlichen Wandlungsprozesse zu begleiten und wenn nötig zu kritisieren. Insofern reicht die gesellschaftliche Funktion dieser Bereiche weit über bloße Ästhetik hinaus. Das macht etwa der berühmte spanische Regisseur Pedro Almodovar in seinen Filmen (nicht nur für Spanien) ebenso deutlich, wie die österreichische Schriftstellerin Anna Mitgutsch, die zur gegenwärtigen politischen Situation Österreichs Stellung nehmend ausführte (in: Der Standard, 22.12.2000, S. 29): „Wenn wir uns als Schriftsteller auf die bewußtseinsbildende Macht der Sprache und ihr gesellschaftspolitisches Potenzial besinnen, können wir gar nicht umhin, uns kritisch in das Zeitgeschehen einzuschalten, wir haben nicht die Wahl wegzusehen, ohne unser einziges Medium, die Sprache zu verraten. Ob sich das Publikum gut oder schlecht unterhalten fühlt, darf kein Kriterium sein.”
Literaturquelle
nach oben
III. Recht, als Maßnahme gesellschaftlicher Notwehr
Nach Sitte, Moral und Religion ist das Recht die letzte, mittlerweile aber effektivste, Abwehrlinie einer Gesellschaft gegen Übergriffe, insbesondere gesellschaftsschädliches Verhalten Einzelner und von Gruppen. Das Recht signalisiert: „Bis hierher und nicht weiter!” – Daher benötigt das Recht den staatlichen Zwang, wenn es übertreten wird. Die rechtliche Sanktion ist somit auch als eine Maßnahme gesellschaftlicher „Notwehr” zu verstehen.
Unsere europäischen Grundlagen des Staats- und Rechtsdenkens stammen von den Griechen. Sie haben das Gesetz als geachtetes gesellschaftliches Steuerungsmittel, die Staatsformen, das Natur- und Völkerrecht, die Lehre vom Gesellschaftsvertrag, das methodische Rechtsdenken und die Interpretation samt dem Fragenkomplex von Gerechtigkeit und Billigkeit im Recht, die Rechtsfähigkeit/Rechtssubjektivität des freien Rechtssubjekts, die Vertragsfreiheit und die juristische Person sowie den grundlegenden Persönlichkeitsschutz, der sich zu den Grund- und Menschenrechten entwickeln konnte, zusammen mit vielen anderen bedeutenden juristischen Entwicklungen geschaffen. – Exemplarisch nachvollziehbar ist auch die Entstehung des Staates im alten Griechenland, die nur durch ein Zurückdrängen der Selbsthilfe (des Individuums und familiärer Gruppen) möglich war.
Grundlagen des Staats- und Rechtsdenkens
Literaturquelle
Der Widerspruch zwischen der Gesellschaft und den Neigungen und Wünschen der Menschen ist ein natürlicher. Er wurde schon im Altertum und idF von J. J. Rousseau erkannt und von S. Freud tiefer verstanden. – Kultur entsteht in der Auseinandersetzung zwischen dem/r Einzelnen und der Gesellschaft, wobei der vom Einzelnen geforderte Gewaltverzicht von grundlegender Bedeutung ist: Rechtsregeln helfen dabei. Aufgabe des Menschen ist es, sich selbst und – als animal sociale (diese Einsicht stammt von Aristoteles) – die Gesellschaft weiterzuentwickeln.
Auseinandersetzung: Einzelne versus Gesellschaft
Die Aufgabe jeder Gesellschaft liegt darin, Entfaltungsmöglichkeiten für Menschen zu schaffen. Darin liegt auch das Ziel jedes Humanismus. – „Gutes” Recht versucht beide Seiten – Individuum und Gesellschaft – zu verstehen und einen Ausgleich zwischen ihnen zu schaffen; beachte die Funktion des Dispositivrechts! Dadurch wird es seiner vermittelnden Aufgabe gerecht. Aufgabe des Rechts ist es – psychoanalytisch betrachtet – zwischen den grundlegenden, aber grundverschiedenen Schichten im Menschen und in der Gesellschaft zu vermitteln. Mögen diese Schichten bislang auch – mangels hinreichender Bewusstseins­entwicklung – oft noch unvermittelt aufeinander treffen. Es sind dies der rational-kognitive Bereich und der weite Bereich des Unbewussten (Gefühle, Triebe, Aggressionen etc). Aufgabe des Rechts ist es auch der Elementargewalt des Triebhaften und der Aggression Paroli zu bieten und diesen Kräften zwar angemessenen, aber doch nicht beliebigen Raum zu gewähren, um deren zerstörerisch-destruktive Kräfte zum Wohle des Ganzen in Kulturleistung umzuformen. Wir sprechen seit S. Freud von Sublimation. Diese Grenzziehung ist heikel und immer vorläufig. Das „richtige” Maß für ein normatives Inbeziehungsetzen dieser Schichten durch Recht, entscheidet über das Gelingen von Kultur. Nötig ist daher zwar ein Kultur-, nicht aber ein Kadavergehorsam, den Recht niemals anstreben oder fördern sollte; vgl dazu die Antigone-Problematik bei Sophokles.
Gelingen von Kultur
In der Sprache S. Freuds kommt dem Recht (als zentraler gesellschaftlicher Wertesteuerungs- und Ordnungsdisziplin) die Aufgabe zu, zwischen Eros (das sind die gemeinschafts- und kulturschaffenden Kräfte) und Thanatos (das sind die individuell wie kollektiv zerstörerischen Kräfte) zu vermitteln. – Alle Fragen unserer Kultur sind mit dieser Schichtenproblematik behaftet und innerhalb dieses Beziehungsrahmens zu verstehen. Das Langzeitgedächtnis des Rechts fungiert dabei im Rahmen dieser seiner für den Einzelnen wie die Gesellschaft so wichtigen Funktion als „gespeicherte Erfahrung des Kollektivs”; A. Mitscherlich. Die „Kunst” des Rechtsprozesses liegt darin, als Ziel nicht ein dumpfes Gefügigmachen des Individuums zu erblicken, sondern Kultureignung durch (Bewusstseins)Entwicklung zu ermöglichen.
Eros und Thanatos
Rechtskultur dient daher der Gesamtkultur, weil sie Kontinuität und Tradition mit Wandel und Fortschritt verbindet und damit jeder Kultur und Gesellschaft zur lebenswichtigen Anpassungsleistung und Vielfalt verhilft, die gegen die Gefahr politischer wie religiöser etc Monokulturen vorbeugt. Nicht immer ist das gelungen, wie (Austro)Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus, diverse Nationalismen und religiös-politische Fundamentalismen (bei uns und anderswo) beweisen. – Allein: Hierin liegt eine bedeutsame – oft unterschätzte oder überhaupt übersehene – Leistung des Rechts für moderne Gesellschaften und deren lebensnotwendigen politisch-kulturellen Pluralismus. Es zeugt daher von enormem Unverständnis, wenn – wie vor allem bei uns geschehen – eine juristische Studienreform, die natürliche Beziehung des Rechtsdenkens zu den Sozial- und Geisteswissenschaften nicht oder doch zu wenig fördert und sich statt dessen kurzsichtig der Ökonomie unterwirft, die allerdings rechtliche Willfährigkeit monetär reichlich belohnt.
Rechtskultur
S. Freud und der gesamte Bereich des psychoanalytischen Denkens macht uns ua deutlich, wie wichtig es für Juristinnen und Juristen ist, sich mit der ganzen Breite und Tiefe menschlicher Existenz und ihrer wissenschaftlichen Lösungsversuche auseinander zu setzen und dieses Bemühen in die eigene Disziplin zu integrieren und sich nicht mit Teillösungen, wissenschaftlichen Ersatzbefriedigungen, etwa oberflächlichen ökonomischen Sichtweisen und Handlungsantrieben abspeisen zu lassen. Die heute vielfach herrschende Gefahr einer gesellschaftlichen Ökonomisierung vieler (Wert)Fragen und Antworten erscheint nicht nur für unsere Umwelt lebensbedrohend, sondern auch für die Entwicklung des Einzelmenschen und unsere Gesellschaften. – Es geht heute zwar auch um ein Zurückgewinnen des Primats des Politischen gegenüber dem Ökonomischen, aber ebenso sehr – als Grundlage des Politischen – um ein Zurückgewinnen des Primats des Menschlichen und Ökologischen gegenüber einem verkürzt rechnerischen Kalkül.
S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften (1994); derselbe, Die Zukunft einer Illusion: TB; – E. Fromm, Gesellschaft und Seele. Sozialpsychoanalyse und psychoanalytische Praxis (1996): TB; – derselbe, Humanismus als reale Utopie. Der Glaube an den Menschen (1996): TB; – A. Mitscherlich, Massenpsychologie ohne Ressentiment. Sozialpsychologische Betrachtungen (1972); – derselbe, Die Idee des Friedens und die menschliche Aggressivität (199317); – Lindner, Über die Zusammenhänge zwischen Aggression und Destruktion im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft, in: Rohde-Dachser (Hg), Zerstörter Spiegel 107 (19922).


Funktionen des Rechts (1)
Abbildung 1.8:
Funktionen des Rechts (1)


Funktionen des Rechts (2)
Abbildung 1.9:
Funktionen des Rechts (2)


Normen als Wegweiser
Abbildung 1.10:
Normen als Wegweiser


Sozialnormen
Abbildung 1.11:
Sozialnormen
nach oben
D. Rechtswissenschaft und Nachbardisziplinen
I. Unterstützung durch andere Disziplinen
Die genannten Rechtsfunktionen – Frieden und Freiheit zu stiften, für Ordnung, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zu sorgen – verlangen nicht wenig von jenen, denen dies obliegt; also den Menschen, die Recht anzuwenden oder zu setzen haben. Um gute Urteile / Entscheidungen, rechtspolitische Vorschläge oder auch nur Verträge zu formulieren oder Gesetze zu erlassen, sollten diese Menschen einerseits entsprechende Fachkenntnisse besitzen, andererseits aber auch voll im Leben stehen und menschliche Substanz aufweisen. – Gute rechtliche Entscheidungen und Gesetze brauchen aber oft auch die Unterstützung anderer Disziplinen, sei es bei der Gesetzesentstehung (Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung), ihrer Einführung, Anwendung und Beurteilung (sog Begleitforschung: Implementation und Evaluation) oder beim Fällen der einzelnen Entscheidung, wo sich Richter den nötigen Sachverstand über Sachverständige besorgen. Zu nennen sind hier etwa Psychotherapie, Sozialpsychologie, Medizin oder naturwissenschaftliche und technische Disziplinen und vor allem Soziologie, Rechtstatsachenforschung, Statistik, Psychologie und Ökonomie. Diese Ergänzungs- oder Hilfsdisziplinen ergänzen den juristischen Sachverstand.
Der Wertungsspielraum bei der Rechtsanwendung (→ KAPITEL 11: Die Rechtsanwendung) ist mitunter groß. Andere Disziplinen können hier hilfreich sein. So wenn ein gesetzlicher Tatbestand unbestimmte Rechtsbegriffe oder Generalklauseln enthält. Aber jede realistische Rechtsordnung braucht solch’ legislative Dehnfugen, weil sie einerseits Lücken verhindern und andrerseits dafür sorgen muss, dass gesellschaftlich bestehende und sich (rasch) ändernde Wertvorstellungen in das Recht, insbesondere die gerichtliche Praxis einfließen können. (Die vom Rechtspositivismus angenommene Lückenlosigkeit der Rechtsordnung ist eine unbrauchbare Fiktion! Im Privatrecht noch mehr als anderswo.) § 879 ABGB, § 1 UWG, § 30 MRG oder § 242 dtBGB sind solche wertoffenen Normen; sog Generalklauseln. – Auch unbestimmten Rechtsbegriffen kommt diese Aufgabe zu; vgl gute Sitten (§ 879 Abs 1 ABGB), Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns (§ 347 HGB), unheilbare Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses (§§ 55 und 55a EheG), Kündigung aus wichtigem Grund (§ 30 Abs 1 MRG), erheblich nachteiliger Gebrauch iSd § 30 Abs 2 Z 3, 1. Fall MRG usw.
Wertungsspielräume bei der Rechtsanwendung
Rechtssprechungsbeispiel
SZ 69/177 (1996): Zur Auslegung des § 30 Abs 2 Z 3, 1. Fall MRG – Untervermietung: Konsularisches Archiv (interessante Gesetzes- und Vertragsauslegung).
nach oben
II. Interdisziplinarität des Rechts
Interdisziplinäres, die eigenen Fachgrenzen überschreitendes Denken, erweist sich daher für die Rechtswissenschaft nicht nur als interessant, sondern in vielem auch als nützlich und notwendig. Um den Stellenwert der eigenen Disziplin (zu anderen Disziplinen und Wissenschaften) besser erkennen zu können, empfiehlt es sich, nicht nur Literatur aus dem eigenen Fachbereich zu lesen, sondern auch Grenzübertritte zu wagen. Das lohnt immer und weitet den Blick.
Um als JuristIn jene Bescheidenheit entwickeln zu können, die uns im Gesamtkanon der Wissenschaften gut ansteht, ist es ratsam, auch die Sozialwissenschaften oder – je nach Interesse – auch die Geistes- oder Naturwissenschaften zu beachten. Vergleiche dieser Art helfen aufgeblasenes, dummes Juristentum zu vermeiden und machen uns deutlich, dass die Jurisprudenz keine strenge Wissenschaft iSd Naturwissenschaften ist, aber nichts desto weniger eine überaus interessante, weil dem Leben und seinen Problemen zugewandte Wissenschaft ist. – Je mehr Sie als StudentIn ihren Selbstwert entwickeln, umso weniger benötigen Sie disziplinäre Ausflüchte in die Großartigkeit, Einmaligkeit und das Alleinseligmachende der eigenen Disziplin. Grenzüberschreitendes Denken soll demnach den eigenen Horizont erweitern und immun machen gegen ein Überschätzen des eigenen Bereichs. Dies schafft die Bereitschaft für echtes Verständnis/Hermeneutik und Interdisziplinarität, was heute wichtig ist. Viele Probleme können nämlich nur noch durch das Zusammenwirken mehrerer Disziplinen sinnvoll behandelt und gelöst werden.
Disziplinäre Bescheidenheit
So verlangt unsere Umwelt nach einem Zusammenwirken von Recht, Philosophie, Naturwissenschaften, Ökonomie, Medizin, Technik usw; vgl das Buch von Ch. D. Stone, Umwelt vor Gericht. Die Eigenrechte der Natur (1992). Und sogar unsere Wirtschaft kommt längst nicht mehr ohne ökologische, psychologische, ja psychoanalytische Einsichten und Hilfe aus. Es gilt nämlich immer noch Luthers Ausspruch, dass „ein Jurist, der nicht mehr ist denn ein Jurist, ein arm Ding” sei.
Luther als Vorbild
Literaturquelle
nach oben
III. Recht als Kulturleistung
Als sinnvolle Ergänzung zum Studium sollten deshalb Studierende der Rechtswissenschaften unbedingt eine gute Zeitung lesen, um an Politik, Wirtschaft und Kultur, die eng mit dem Recht zusammenhängen, laufend teilzunehmen. Recht ist nämlich – was häufig nicht bedacht wird, eine hohe Kulturleistung der Menschheit. Und soll dies auch künftig bleiben! – Wohin es führt, wenn anstelle des Rechts Gewalt tritt, zeigt uns die Situation in manchen unserer Nachbarstaaten während der letzten Jahre. Wie jede Kulturleistung bedarf auch die Rechtsentwicklung der Teilnahme und Auseinandersetzung der Betroffenen. Recht darf nämlich nicht – ebenso wenig wie Kultur – als etwas von den Menschen Abgehobenes, Getrenntes verstanden werden.
Worin liegt die Konsequenz für Studierende? – In lebendiger Anteilnahme am Studium; das heißt dem Mut zu Kritik, Infragestellung und eigener Meinung. Man sollte sich auch nicht auf reines Strebertum reduzieren lassen, aber auch nicht vergessen, dass aus Nichts, nichts wird. Es gilt dem eigenen Hausverstand zu vertrauen und kein blindes Vertrauen in Lehrende und Geschriebenes zu entwickeln. Autonomie ist gefragt. Daher: Lieber spazieren- oder in ein gutes Kino gehen, als in eine schlechte Lehrveranstaltung.
Konsequenz für Studierende?
Das Recht und seine Normen sind – seit jeher – ein Teil der conditio humana. Menschliche Gesellschaft ist seit Jahrtausenden ohne das Rechtsdenken und seine Institutionen undenkbar, wobei sich die Inhalte und Institutionen des Rechts mit den jeweiligen Gesellschaften immer wieder geändert haben, ändern mussten. Recht macht – als Friedensordnung – Gesellschaft möglich.
conditio humana
Die Tatsache eines sich ändernden Rechts ist kein Argument gegen ein Naturrechtsdenken, das in Österreich zur Zeit Karl Anton von Martinis der Vorstellung folgte, dass das jeweilige Recht einer konkreten Gesellschaft aus dem Naturrecht „ausgehoben” oder geschöpft wird; so WGGB I 1 § 2: Motto vor Kapitel 1. – Das Verdienst des Naturrechts ist es, aufgezeigt zu haben, dass es neben dem vielfältigen Wandel des Rechts auch so etwas wie einen (relativ) konstanten Kern des Rechts(denkens) gibt, der über Jahrtausende hinweg wenigstens als Ideal bestand; etwa das Notwehrrecht und Tötungsverbot oder die Menschenrechte, der Schadens- und Bereicherungsausgleich, die Ablehnung bloß formaler Gerechtigkeit und die Notwendigkeit von Billigkeit und sozialem Ausgleich (im Einzelfall), überhaupt das seit Solon aktuelle Verständnis des Rechts als „Mitte” und als Instrument des sozialen Ausgleichs sowie die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Richtern.
Dazu meine Studie: „Graeca non leguntur”? – Zum Ursprung des europäischen Rechtsdenkens im antiken Griechenland (in Vorbereitung: 2005).
Das Recht und insbesondere das Privatrecht ist daher eine conditio sine qua non moderner Gesellschaften. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern, mag auch stets darauf zu achten sein, dass gerade das Privatrecht nicht zu egoistischen Zwecken missbraucht werden darf. Der akzelerierte soziale Wandel macht es zudem immer schwerer für die nötige Anpassung des Rechts zu sorgen. Manche Gesellschaftsbereiche enteilen ihrer Normierung und es ist oft schwer diese Entwicklungen erneut unter die Kontrolle des Rechts zu bringen. Politische Eitelkeiten und Dummheiten erschweren diesen Prozess zusätzlich. Es ist daher auch die verantwortungsvolle Aufgabe der Rechtspolitik, der in fast jeder Gesellschaft auftretenden sozialen Trägheit und Gleichgültigkeit entgegen zu wirken.
Recht in modernen Gesellschaften
nach oben
IV. Verrechtlichung – Evolution des Rechts?
In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wurde immer wieder die Frage nach den Grenzen des Rechts gestellt und nach Gegentendenzen zur Verrechtlichung gerufen. – Allein das Recht als Instrument staatlicher und gesellschaftlicher Steuerung ist unverzichtbarer denn je und es scheint Zusammenhänge zwischen dem Prozess der Verrechtlichung und den allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen moderner Gesellschaften zu geben. Eine (Hypo)These könnte lauten: Je mehr bestimmte gesellschaftliche Regulative wie Sitte, Moral und Religion an Bedeutung verlieren – und das ist in einem hohen Maße der Fall , desto mehr hat das Recht die entstandene „Lücke” zu füllen. Es geht daher nicht darum, diesen gesellschaftlichen Prozess zu beklagen, sondern ihn möglichst realistisch und optimal zu bewältigen.
Recht unverzichtbar
Diese Entwicklung hat in den letzten Jahrzehnten zu einem Verrechtlichungsschub in modernen Gesellschaften geführt, der beklagt, selten aber nach den dafür verantwortlichen Gründen hinterfragt wird. Dabei gilt es durchaus immer wieder die Qualität, Brauchbarkeit und Unverzichtbarkeit von Recht kritisch zu beleuchten, gerade auch von juristischer Seite. Denn der Zweck heiligt nicht schon die Mittel. – Als weiterer Grund der Verrechtlichung kann genannt werden, dass der Rechtsstaat moderner Prägung, ein hohes Maß an formeller, normativer Wertbegründung fordert und die internationale Entwicklung in die gleiche Richtung weist. Darüber hinaus wissen wir längst, dass der Ruf nach Deregulierung, oft nicht mehr meint, als mehr Freiheit für einige wenige, insbesondere ökonomisch potente „national and global player”, aber nicht mehr Freiheit und Sicherheit für die betroffenen Menschen bedeutet.
Verrechtlichungsschub
Verrechtlichung darf daher kein Selbstzweck sein, sondern muss ein stets kritisch zu prüfendes Mittel für das Wohl der Menschen bleiben, um sie gegen Partikularinteressen ebenso zu schützen wie gegen Übergriffe des Kollektivs. – Die aufgezeigte Entwicklung bedeutet natürlich nicht, dass nicht auch das Recht selbst einer evolutionären Entwicklung unterliegt und alles so bleiben muss, wie es ist. Neue, angemessenere Rechts- und Justizformen sind sogar zu erhoffen; vgl etwa die Tendenz alternative Formen der Streiterledigung zu forcieren: etwa die Mediation im Familienrecht, insbesondere bei Scheidung, aber etwa auch bei ärztlichen Behandlungsfehlern, im Arbeitsrecht oder bei Nachbarschaftsstreitigkeiten.
Kein Selbstzweck
Literaturquelle
nach oben
V. Das Recht lebt in seinen Fällen
Rechtswissenschaft kann eine schöne und lebendige Wissenschaft sein, muss nicht trocken und langweilig sein, wie sie manchmal eingeschätzt wird. – Wie jede andere Disziplin, setzt aber auch die Rechtswissenschaft Kenntnisse bei ihrer Anwendung voraus. Interessant und lebendig wird die Jurisprudenz mit dem Erlangen der Fähigkeit, Probleme und Fälle zu lösen: Das Recht lebt in seinen Fällen. Wir werden daher eine ganze Reihe von – zunächst noch einfachen – „Fällen” kennenlernen.
Problemlösung
Nicht damit zu verwechseln ist die mitunter gehandhabte steril-konstruktive dogmatische Falllöserei nach deutschem Vorbild, denen vor allem die Ausbildung des Strafrechts, mittlerweile aber auch übereifrige Zivilisten, nacheifern. – Allgemein zu Rechtsanwendung → KAPITEL 11: Die Rechtsanwendung.
Dabei ist nicht zu übersehen, dass das Recht und insbesondere die Rechtsanwendung auch mit Härten, Pflichten und überhaupt den negativen Seiten des Lebens konfrontiert; Mord, Totschlag, Verkehrsunfälle, bitteres Leid, Zwang, Gewalt in der Gesellschaft, aber auch in Ehe und Familie, Strafe, Schadenersatz, Gefängnis, Exekution sind einige Stichworte dazu. – So wichtig die Fallbehandlung für die Ausbildung auch sein mag, sie sollte (gerade am Anfang des Studiums) nicht übertrieben werden, denn sie ist nur ein Teil der Jurisprudenz und verbildet in Richtung domatischer Verengtheit. Das ist allerdings die übliche Ausrichtung der meisten Falllösungsbücher, die daher mit Vorsicht zu genießen sind. – Es ist allerdings wichtig, zu lernen, welche Probleme in den Fällen versteckt sind und worin die Schwierigkeiten ihrer Lösung liegen. Schon einfache „Fälle” dienen dazu, Studierenden die Schwierigkeiten praktischer Rechtsanwendung deutlich zu machen. Denn es ist nicht dasselbe, etwas zu lernen oder das Gelernte auf Lebenssachverhalte anzuwenden.
„Fälle”
Einen lesenswerten Versuch, Gerechtigkeit zu umschreiben, hat der Schöpfer unserer Bundesverfassung, Hans Kelsen, in seiner Broschüre „Was ist Gerechtigkeit?” (1953) unternommen; nunmehr Reclam-UB 18.076. – Eine interessante begleitende privatrechtliche Studienlektüre bietet das „Franz Gschnitzer Lesebuch” (1993), in dem sich neben Aufsätzen, Reden, Buchbesprechungen auch Entscheidungsanmerkungen finden.
Ab einem gewissen Kenntnisstand empfiehlt es sich höchstrichterliche Entscheidungen /En zu lesen, die in Fachzeitschriften, Entscheidungssammlungen und mittlerweile auch (Rechts)Datenbanken aufbereitet werden. – Wegen der didaktischen Bedeutung gerichtlicher En für die Ausbildung werden auch in diesem Lehrbuch zahlreiche En abgedruckt; und zwar so, dass man wenigstens erahnen kann, worum es geht. Bloße Fundstellen sind wohl doch zu wenig. – Das macht das Lernen praxisnäher und interessanter.
Höchstrichterliche Entscheidungen
nach oben
VI. Rechtspolitik
Man muss sich auch – frühzeitig! – damit abfinden, dass Recht und Rechtsanwendung Menschenwerk sind und sich daher immer wieder Schwächen und Fehler zeigen; in Gesetzen wie Urteilen oder Verträgen. Reform, Rechtspolitik und Rechtsfortbildung sind daher stets aktuell und gehören zum Recht, wie das Amen zum Gebet. Leider stellt Rechtspolitik bis heute kein Ausbildungsfach dar. – Gute Rechtspolitik eilt der sozialen Wirklichkeit gedanklich voraus oder begleitet diese angemessen. In der Praxis hinken Reformen der Entwicklung oft zu weit hinterher.
Recht ist Menschenwerk
Seit den Anfangssiebziger-Jahren wird zB das Familienrecht an den gesellschaftlichen Wandel angepasst; vgl etwa § 55a EheG: einvernehmliche Scheidung oder die mehrfachen Reformen des Kindschaftsrechts, ferner das FMedG 1992, das Eizellenspenden, Leihmutterschaft und Samenbanken verbietet → KAPITEL 16: Fortpflanzungsmedizin. Das BTVG 1997 hat sich das Ziel gesetzt, die schweren Missstände im Bereich der Eigentumsübertragung an Wohnungen auszuräumen → KAPITEL 15: Das Bauträgervertragsgesetz / BTVG. Immer wieder geändert wurden und werden das MRG 1981, das WEG (1948, 1975 und überflüssiger Weise 2002), das WGG 1979 oder – ein anderes Beispiel aus dem öffentlichen Recht – das ASVG, das häufig novelliert wurde, was grundsätzlich nicht bemängelt werden sollte.
Prominente Beispiele
Rechtspolitische Änderungen brauchen oft Jahre um zu reifen. So warten wir seit vielen Jahren auf ein zeitgemäßes UmwelthaftungsG und ebenso ein MedHG (das wirklich jene Lösungen bringt, die anstehen; nicht die verunglückte Lösung des § 27 a KAKuG → KAPITEL 10: § 27 a KAKuG: Patientenentschädigungsfonds) oder ein Bundes-HeimVG, für das nunmehr ein ministeriell verwässerten Entwurf existiert. – Andrerseits wird gerne leichtfertig und schlampig reformiert. Legistische „Schnellschüsse“ bleiben problematisch.
Rechtspolitik braucht Zeit
Literaturquelle • Barta: Entwurf eines Bundes-Heimvertragsgesetzes (B-HeimVG) mit Erläuternden Bemerkungen – vgl nunmehr HeimvertragG BGBl I 2004/12 und HeimaufenthaltsG BGBl I 2004/11
• Barta/Kalchschmid: Entwurf eines Transplantationsgesetzes (TPG) mit Erläuternden Bemerkungen
• Barta: Entwurf eines Medizinhaftungsgesetzes mit Erläuternden Bemerkungen (MS-word, Stand Mai 2002, Kufstein)
Abrufbar unter: http://www2.uibk.ac.at/zivilrecht/mitarbeiter/barta/index.html
Natürlich treten bei rechtspolitischen Diskussionen immer wieder gesellschaftliche Gegensätze in Erscheinung, die es aber zum Wohle der Gesellschaft auszuhalten und zu überwinden gilt; oft durch einen Kompromiss, der keineswegs immer ein „fauler” sein muss. Recht tendiert vielmehr – schon von seiner Aufgabe her – seit seinen Anfängen zur ausgleichenden Mittelmeinung; von Solon, Aischylos, Platon und Aristoteles (Nikomachische Ethik) wird der Richter als Mittler zwischen den Parteien gesehen. Goethe folgt diesem Vorbild, das bis heute aktuell geblieben ist.
Diskurskultur
Rechtspolitik vermag Phantasie in die Jurisprudenz zu bringen und kann eine Brücke schlagen zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit/status quo und konkreten Utopien. Sie begnügt sich nicht mit Gegenwärtigem, sondern will Zukunft gestalten. Zum Wohle des Ganzen, im Dienste des Gemeinwohls. – Daher sollte die juristische Ausbildung der Bildung nicht entraten und braucht die didaktische Pflege der (Teil)Fächer: Allgemeine Staatslehre, Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung sowie Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung und Legistik. – Auf Vertragsebene braucht es praxisnahe Kautelarjurisprudenz.
Konkrete Utopien
nach oben
VII. Rechtswissenschaft als praktische und handlungsorientierte Wissenschaft
Die Rechtswissenschaft ist demnach eine praktische Wissenschaft, die dem Leben dienen und nicht weltfremde, lebensverneinende und unverständliche Lösungen fördern soll. Hier gilt es immer wieder Fehlentwicklungen zu korrigieren, gleichsam den Sand aus dem Getriebe der Justiz und Rechtswissenschaft zu entfernen;
Literaturquelle
Dieselben Anforderungen sind an die praktischen Rechtsberufe (Justiz, Anwaltschaft, Notariat, Verwaltung / öffentlicher Dienst, Steuerberatung, Wirtschaft etc) zu stellen.
Wichtige Aufgabe des Rechtsdenkens und der Rechtspraxis ist es daher, schon unter Anwendung des geltenden Rechts (also de lege lata) auch Neues und Unorthodoxes zu ermöglichen und nicht immer gleich nach dem Gesetzgeber (also einer Lösung de lege ferenda) zu rufen.
de lege lata und de lege ferenda
nach oben
E. (Stoff)Einteilung: ABGB und modernes Privatrecht
I. Gaius als Vorbild
Wir haben gehört, dass es zwischen dem allgemeinen und dem Sonderprivatrecht zu unterscheiden gilt. Das ABGB folgt von Beginn an dieser Unterscheidung; vgl KdmPat alinea 7. Die in der Folge besprochene Stoff-Einteilung betrifft das allgemeine Privatrecht des ABGB:
Die Dreiteilung des Rechtsstoffs im ABGB geht auf das Institutionenlehrbuch des Gaius (~ 160 n. C.) zurück, der den Stoff in „personae“ (Personenrecht), „res“ (Sachenrecht) und „actiones“ (Zivilprozess) gliederte. Daher heißt dieses System: Institutionensystem.
Institutionensystem
Das Personenrecht des ABGB umfasst – wie bei Gaius – auch das Familienrecht. – Auch das Sachenrecht des ABGB folgt dem römischen Vorbild, das in seinen weiten Sachenrechtsbegriff ebenfalls schon das Sachenrecht ieS (ABGB = dingliche Sachenrechte, wozu das ABGB auch das Erbrecht zählt) und das Schuldrecht / Obligationenrecht (ABGB = persönliche Sachenrechte) einbezog.
Die römischrechtliche Einteilung (die wahrscheinlich wieder griechische Wurzeln besitzt) wirkt also in der des ABGB nach. Das hat sich insofern nachteilig ausgewirkt, als dadurch das Entstehen Allgemeiner Teile (Schuldrecht Allgemeiner Teil, Allgemeiner Teil schlechthin) erschwert wurde. – Erst die stärkere Differenzierung der Rechtsgebiete – nämlich die Trennung des Personen- und Familienrechts voneinander und des Schuld- und Erbrechts vom Sachenrecht – ließ im 19. Jhd das wissenschaftliche Bedürfnis eines „Allgemeinen Teils“ entstehen. Ansätze in diese Richtung kennen aber schon das ALR und das ABGB samt Kodifikationsgeschichte.


Einteilung des bürgerlichen Rechts
Abbildung 1.12:
Einteilung des bürgerlichen Rechts


Einteilung des Personenrechts
Abbildung 1.13:
Einteilung des Personenrechts
nach oben
II. Das Pandektensystem
Die moderne Stoffeinteilung des Privatrechts folgt dem stärker gliedernden Pandektensystem (des 19. Jhds), das aus dem Personenrecht das Familienrecht und aus dem (zu weiten römischrechtlichen) Sachenrechtsbegriff das Erbrecht und das Schuldrecht ausgliedert. Der verbleibende Rest des Personenrechts wird dem neugeschaffenen „Allgemeinen Teil“ zugeschlagen, sodass sich folgende Gliederung ergab: Allgemeiner Teil (schlechthin), Sachenrecht, Schuldrecht (es wird erneut in SchRAT und SchRBesT unterteilt), Familienrecht und Erbrecht. – Schuld- und Sachenrecht bilden zusammen das Vermögensrecht.


Allgemeines Privatrecht: Bürgerliches Recht – ABGB
Abbildung 1.14:
Allgemeines Privatrecht: Bürgerliches Recht – ABGB
Zum Inhalt des durch die Pandektistik neu geschaffenen „Allgemeinen Teils” → Stoffüberblick nach dem Pandektensystem: Stoffeinteilung nach dem Pandektensystem → Stoffüberblick nach dem Pandektensystem
Nicht alle Autoren folgen dieser Einteilung in allen Details, doch gilt sie im Großen und Ganzen. – Bei der Zuordnung der Rechtsobjekte / Sachen unterscheiden sich etwa Gschnitzer und Koziol / Welser. Konsequenter und didaktisch wertvoller erscheint Gschnitzers Lösung.
nach oben
III. Aufgaben eines „Allgemeinen Teils”
Man kann sagen: Der „Allgemeine Teil“ zieht das den einzelnen, besonderen Teilen (des bürgerlichen Rechts) Gemeinsame vor die Klammer, hebt das Allgemeine – wie in der Mathematik das Gemeinsame – heraus. Gschnitzer (AllgT1, Vorwort) macht die Aufgaben eines „Allgemeinen Teils“, aber auch die Schwierigkeiten, die er für Studierende mit sich bringt, deutlich:
„Der Allgemeine Teil stellt die Elemente dar, die in den besonderen Teilen ihre Anwendung finden. So kennzeichnet ihn eine starke Abstraktion; z. B. handelt er weder vom Kauf noch von der Eigentumsübertragung, noch vom Testament, noch von der Eheschließung, noch von der Adoption, wohl aber von der rechtsgeschäftlichen Willenserklärung, die allen diesen Akten wesentlich ist. Rechtsgeschäft und Vertrag sind in ihrer Abstraktheit schwerer anschaulich zu machen als ihre Konkretisierung im Kauf oder Testament. Andererseits steckt im Herausarbeiten gemeinsamer Grundelemente und in der Abstraktion von zusätzlichen Besonderheiten eine große wissenschaftliche Leistung. Sie verschafft eine tiefere Erkenntnis der inneren Zusammenhänge und erleichtert die Stoffbeherrschung. Der Allgemeine Teil ist gleichsam das Alphabet, dessen Buchstaben der Jurist zu den verschiedenen Worten kombiniert. Das [dt] BGB hat dem Allgemeinen Teil besondere Sorgfalt gewidmet, und die deutsche Lehre befasst sich mit ihm sehr ausführlich. Demgegenüber kennt das ABGB nach seiner Entstehungszeit einen Allgemeinen Teil noch nicht.”
Gschnitzers Umschreibung
nach oben
IV. Stoffüberblick nach dem Pandektensystem
Die in Klammer gesetzten Zahlen bedeuten das Kapitel, in dem der jeweilige Stoffteil hier im Buch behandelt wird. – Dieser „Stoffüberblick” soll die Stoffzuordnung zu den Teilen: Allgemeiner Teil, Sachenrecht, Schuldrecht etc. erleichtern. – Das Pandektensystem bietet allerdings heute auch längst keine sichere Orientierung mehr, zumal sich zu vieles geändert hat und viel Neues entstanden ist.
Recht im objektiven und subjektiven Sinn (1., 11.): Die Rechtsordnung (1.); öffentliches Recht und Privatrecht samt der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung (1.); Bedeutung, Eigenart und Einteilung des Privatrechts (1.); Zur Entstehung und Weiterentwicklung des ABGB (1.); die Lehre vom Rechtssatz (11.); Rechtsanwendung und Subsumtion (11.); Gesetzesauslegung und Lückenfüllung (11.); Konkurrenz von Rechtssätzen (7.); Rechtsquellenlehre (11.); Recht im subjektiven Sinn (1.); Rechtssubjekt / Person undRechtsobjekt / Sache (4.,8.): Natürliche Person (4.); Altersstufen (4.); juristische Person (4.); Persönlichkeitsrechte (4.); Rechtsobjekte und ihre Einteilung (8.); Das Rechtsgeschäft (5.,6.,11.,14.): Privatautonomie und Vertragsfreiheit (5.); Arten der Willenserklärungen (5.); Auslegung von Willenserklärungen und Rechtsgeschäften (11.); Arten der Rechtsgeschäfte (5.); Vertragsschluss (5.); AGB (6.); Vorvertrag (6.); Übereinstimmung von Wille und Erklärung (5.); Mängel des Rechtsgeschäfts; Irrtum (5.); List und Drohung (5.); Möglichkeit und Erlaubtheit (11.); Form der Rechtsgeschäfte (15.); Konversion und Heilung (15.); Stellvertretung und Vollmacht (14.); Die rechtliche Bedeutung der Zeit (13.): Verjährung, Ersitzung, Verschweigung, Verwirkung, Präklusion, Bedingung, Befristung, Auflage; Die Internationalisierung, Vereinheitlichung und Europäisierung des Privatrechts: IPR, UN-Kaufrecht, Intertemporales Recht (1.)
Allgemeiner Teil
Einführung ins Sachenrecht (8.): Wesen und Bedeutung des Sachenrechts, Prinzipien des Sachenrechts: Geschlossene Zahl der Sachenrechte / Typenzwang, Publizität, Spezialität, Priorität, dinglicher Charakter, Arten der Sachenrechte, Unterschied Sachenrecht – Schuldrecht. Besitz (2.,3.): Besitz und Innehabung, Sach- und Rechtsbesitz, Arten der Übergabe / Modus (2.), rechtliche Bedeutung des Besitzes, Besitzschutz / Besitzstörung(sverfahren). Eigentumsrecht (2.,8.): Begriff und Inhalt (8.), Beschränkungen im Interesse der Allgemeinheit (8.), Nachbarrecht samt Abwehr von Immissionen (8.), Arten des Eigentums (8.), Erwerb des Eigentumsrechts: Lehre vom Titel und Modus (2.), gutgläubiger Erwerb vom Nichtberechtigten (8.), Eigentumsschutz (8.); Eigentumserwerb beim Doppelverkauf (8.). Grundbuch (2.), bücherliche Eintragung, Prinzipien (2.); Pfandrecht, Zurückbehaltungsrecht (15.): Begriff und Funktion. Prinzipien, Hypothek, Schutz des Pfandrechts; Sonstige dingliche Sicherungen (8., 15.): Sicherungsübereignung, Eigentumsvorbehalt; Dienstbarkeiten / Servituten, Begriff, Prinzipien des Servitutsrechts, Grund- und Personalservituten, Schutz der Dienstbarkeiten (8.); Reallasten, Baurecht (8.) sowie Pfandrecht, Retentionsrecht, BTVG, Treuhand (alle 15.).
Sachenrecht
Allgemeines (6.,7.): Schuld und Forderung (7.), Schuld und Schuldverhältnis (7.), Schuld und Haftung (7.), Ziel- und Dauerschuldverhältnis (6.); Begründung von Schuldverhältnissen (2.,6.): durch Rechtsgeschäft und Gesetz; culpa in contrahendo (6.); Nebenabreden zur Verstärkung oder Abschwächung rechtsgeschäftlicher Pflichten (2.); Schuldinhalt (7.): Art der Leistung, Leistungszeit und –ort; Zug um Zug-Prinzip; Leistungstörungen (7.): (nachfolgende) Unmöglichkeit, Gläubiger- und Schuldnerverzug, Fixgeschäft, Gewährleistung, Produkthaftung, Verkürzung über die Hälfte, nachfolgende Unmöglichkeit; Erlöschen der Schuld (3.,6.,14.,15.): Erfüllung, Hinterlegung, Leistung an Zahlungs Statt, Aufrechnung, Vereinigung, Verzicht (3.), Kündigung (6.), Insolvenz (19.); Umänderung der Rechte und Verbindlichkeiten (7.): Novation, Schuldnerverzug, Vergleich, Anerkenntnis, Gläubigerwechsel / Zession, Faktoring, Schuld- und Vertragsübernahme; Mehrheit von Berechtigten und Verpflichteten: Gläubiger und Schuldnermehrheit (alle 7.), Verträge zu Gunsten und zu Lasten Dritter (15.), Bürgschaft (15.), Garantievertrag(15.), Anweisung(15.)
SchRAT
Vertragliche Schuldverhältnisse (2.,3.,12.): Kauf (2.), Tausch (2.), Abzahlungsgeschäft (2.); Schenkung (3.), Leihe (3.), Verwahrung samt Gastwirtehaftung (3.), Darlehen (3.), Trödelvertrag, Bestandvertrag, Dienstvertrag (12.), Werkvertrag (12.), Auftrag (12.), Glücksverträge: Wette und Spiel, Leibrentenvertrag (12.); Gesellschaft bürgerlichen Rechts (12.); Gesetzliche Schuldverhältnisse (5.,9.,10.,12.): Bereicherungsrecht (5.), Schadenersatzrecht (9.,10.); Gehilfenhaftung (10.); Arbeitnehmerhaftung (12.); Gefährdungshaftung (9.), Geschäftsführung ohne Auftrag (12.); Gläubigeranfechtung (3.); Konsumentenschutzgesetz (2.).
SchRBesT
Das Familienrecht wird generell in Kapitel 16 behandelt; dazu kommen: – Eherecht, Rechtsverhältnisse zwischen Eltern und Kindern; Vormundschaft, Kuratel, Sachwalterschaft (4.), Unterbringungsgesetz (4.).
Familienrecht
Das Erbrecht wird in Kapitel 17 behandelt: Erbfolge, Nachlass; letztwillige Verfügungen; Substitution; Erbvertrag; Bestimmung der Erbteile; Vermächtnis/Legat, Schenkung auf den Todesfall; Pflichtteilsrecht; Erbschaftserwerb; Die rechtliche Stellung des Erben, Erbschaftskauf, Erbschaftsschenkung, Erbschaftsklage, Erwerb vom Scheinerben.
Erbrecht
nach oben
F. Zur Entstehung des ABGB
Motto: Joseph Unger, in der Sitzung des österreichischen Herrenhauses vom 1. Juni 1891
I. Natur und Vernunftrecht und ABGB
Der Österreicher Joseph Unger, der das ABGB, als Vertreter der „Historischen Rechtsschule” und Gefolgsmann des großen Juristen und Rechtsideologen F. C. v. Savigny, vehement bekämpft hatte, gelangte am Ende seines wissenschaftlichen Wirkens doch zu der im Motto wiedergegebenen Einsicht.
Wir sind in Österreich in der glücklichen Lage eine der drei großen (klassischen) Privatrechtskodifikationen zu besitzen – und noch in Geltung zu haben, die an der Wende vom 18. zum 19. Jhd entstanden sind. Alle drei Gesetzbücher (ALR, Code Civil und ABGB) sind natur- und vernunftrechtlich beeinflusst. Den größten Teil des Inhalts dieser Gesetzbücher macht allerdings immer noch das Römisch-Gemeine Recht aus, das vom Naturrecht als ratio scripta betrachtet wird. Daneben existiert noch ein schwächerer deutschrechtlicher Einfluss.
Klassische Privatrechtskodifikationen
Das Naturrechtsdenken ist nur in seiner Einbettung in die allgemeine philosophische Entwicklung zu verstehen. Jede Trennung verbaut sich das eigene Verständnis.
Literaturquelle • Hugo Grotius (1583-1645): – De iure belli et pacis, 1625
Stammväter des modernen Naturrechts in Europa und Österreich
• Thomas Hobbes (1588-1679)*: – Elements of Law Natural and Politic, 1640; – Elementorum Philosophiae Sectio Tertia „De Cive”, 1642; – „De Corpore”, 1655; – „De Homine”, 1658. – Hobbes’ wichtige Methodenüberlegungen finden sich im ersten Teil von „De Corpore”; – Leviathan, 1651
• Samuel von Pufendorf (1632-1694)*: – Elementa iurisprudentiae universalis, 1660; – De iure naturae et gentium, 1672; – De officio hominis et civis, 1673
• John Locke (-1704)*: – Essay Concerning Human Understanding, 1690
• Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646-1716)*: Er vertrat ein ausschließlich aus der göttlichen Natur abgeleitetes Naturrecht.
• Christian Thomasius (1655-1728)*: – Institutiones iurisprudentia divinae, 1688; – Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrdheit, 1709; – Fundamenta iuris naturae et gentium, 1705; 1718 4; – Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1705; – De Crimine Magiae – Von dem Verbrechen der Zauber- und Hexerey, 1701; – Vom Ursprung und Fortgang des Inquisitions-Processes wider die Hexen, 1712
• Christian Wolff (1679-1754)*: Ius naturae methodo scientifico pertractum, 1740-1748; – Ius gentium, 1749; – Institutiones iuris naturae et gentium, lat 1750; dt 1754
• David Hume (1711-1776)*: – Treatise of Human Nature, 1739/40; – Essays Concerning Human Understanding, 1748; – Enquiry Concerning the Principles of Morals, 1751
• Paul Joseph Riegger (1705-1775): Lehrer Martinis
• Karl Anton von Martini (1726-1800): Vgl dazu verschiedene Beiträge, in: Barta / Palme / Ingenhaeff (Hg), Naturrecht und Privatrechtskodifikation (1999) und nunmehr: Barta / Pallaver / Rossi / Zucchini (Hg), Storia, Istitutioni e diritto in Carlo Antonio de Martini (1726-1800) – (2002) und insbesondere Hebeis, Karl Anton von Martini (1726-1800) – (1996).
• „Hobbes, Locke, Pufendorf und natürlich auch Leibnitz sowie Thomasius versuchen aus der Natur bzw. aus der Vernunft des Menschen ein natürliches Recht (ius naturale) abzuleiten, das den gemeinsamen Kern aller positiven Rechtsordnungen bildet und gegen das diese niemals verstoßen dürfen. Insbesondere die Betrachtung des Naturzustandes, der als eine bloße heuristische [= zu neuen Erkenntnissen führende] Fiktion eingeführt wird und nicht etwa eine historisch greifbare Entwicklungsstufe der Menschheit meint, scheint den genannten Autoren geeignet, die Gründe zu ermitteln, die zur Staatengründung führten, und die Zwecke festzusetzen, denen der Staat zu dienen hat. Freilich trägt das Konstrukt einer vorstaatlichen Lebensweise der Menschen je nach der vom Autor vorausgesetzten Anthropologie recht verschiedene Züge. Bei Hobbes, der den Menschen als einen letztlich materiellen und primär auf Selbsterhaltung ausgerichteten organischen Automaten betrachtet, herrscht im vorgesellschaftlichen Zustand ein „Krieg aller gegen alle” [Formel: „bellum omnium contra omnes” / Leviathan]. Von Pufendorf hingegen wird er als ein friedliches Miteinander konzipiert. Doch wie auch immer dieser Zustand gedacht wird: die dem Naturrecht zugrundeliegende Idee lautet, dass sich vom positiven Recht unabhängige, rational einsehbare Rechtsprinzipien aus der Natur des Menschen ableiten lassen, die zunächst eine friedliche Koexistenz der Mitglieder einer staatlichen Vereinigung garantieren, dann aber darüber hinaus auch die Konstituierung eines Völkerrechtes erlauben, durch das Kriege künftig ausgeschlossen werden.” – Aus: L. Kreimendahl, Einleitung, in: Kreimendahl (Hg), Philosophen des 17. Jahrhunderts 11 f (1999).
Naturrecht, Vernunftrecht ist eine spätere Entwicklungsstufe desselben, meint demnach, dass das Recht nicht nur eine willkürliche menschliche Satzung sei, sondern in der gesellschaftlichen Natur des Menschen angelegt, oder – wie man auch sagen kann – der menschlichen Vernunft vorgegeben, wenngleich dieser erkennbar ist. Es handelt sich dabei (wie bei anderem Recht) um Regeln, die das menschliche Zusammenleben leiten und fördern sollen; Regeln – und das wird vom Naturrecht betont, die dem menschlichen Streben nach Glück, Freiheit und Menschenwürde dienen sollen. (Dies sind die Ziele, die das Naturrechtsdenken seit Platon und Aristoteles leiten.) Nicht alles, was sich als Recht ausgibt, verdient daher, naturrechtlich betrachtet, die Bezeichnung „Recht”. Recht ist vielmehr nur das, „was an sich selbst gut ist, was nach seinen Verhältnissen und Folgen etwas Gutes enthält, oder hervorbringt, und zur allgemeinen Wohlfahrt beyträgt”; so I 1 § 1 des von K. A. v. Martini geschaffenen (West)Galizischen Gesetzbuchs, das 1798 in West- und Ostgalizien in Kraft getreten ist und den Kern des späteren ABGB bildet.
Vom Natur- zum Vernunftrecht
Nach Martinis Vorstellung – und nicht nur seiner, denn er steht auch in der Moderne in einer langen europäischen naturrechtlichen Tradition (→ Natur und Vernunftrecht und ABGB Übersicht: Stammväter des modernen Naturrechtsdenkens), wird das in einem Land geschaffene und geltende positive Recht, aus dem vor-positiven Naturrechtausgehoben”. Der jeweilige nationale Gesetzgeber entnimmt dem Naturrecht, das schliesslich zum Vernunftrecht wird „ ... die Regeln..., welche dem Menschen in seinem Thun und Lassen zur Richtschnur dienen sollen, und ihm seine Pflichten vorschreiben”; WGGB I (Teil) 1 (Hauptstück) § 2.
Positives Recht
Die älteren Vertreter des Naturrechts waren noch – wie etwa auch Aristoteles – der Meinung, dass seine Regeln ewig und unwandelbar wären. Als wissenschaftliches Vorbild dienten dieser Epoche der Rechtswissenschaft die allgemeinen und ewig gültigen Gesetze der Mathematik, die wiederum aus der Natur Gottes abgeleitet wurden; so G. W. Leibniz: 1646-1716 und Ch. Wolff. Aber das änderte sich um die Mitte des 18. Jhd.
Ältere Vertreter des Naturrechts
Wichtig für diese zum Entstehen von Kodifikationen nötige Relativierung war das Werk Montesquieus (1689-1755) der 1748 „De l‘ esprit de lois” schrieb und darin griechischen Vorbildern nacheiferte. Montesquieu vertritt eine legislative Milieutheorie, die auch Martini seinen Gesetzgebungsarbeiten (zwischen 1790 und 1796) zugrunde legte. Diese Lehre, die eigentlich schon von Platon stammt, besagt, dass jeder Gesetzgeber die Besonderheiten seines Landes zu berücksichtigen habe; Land, Leute, Geschichte, Geographie, Klima etc. – Damit wurden (national) unterschiedliche Kodifikationen möglich. (Bis dorthin bestand die Idee einer Reichs-Kodifikation: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation mit dem Kaiser an der Spitze.)
Legislative Milieutheorie
Alle wichtigen Vertreter des Naturrechts vertraten die Meinung, dass nicht alle Rechtspositionen staatlicher Regelung oder gar der Willkür anheimgestellt wären. Insbesondere die angeborenen Rechte (iura connata) – vgl § 16 ABGB – nicht, also jene Rechte, die alle Menschen in gleicher Weise mit der Geburt unwiderruflich erlangten. Diese Menschenrechte stünden nicht zur Disposition. Diese naturrechtlichen Forderungen werden schließlich wichtiger Bestandteil der Französischen Revolution. – Martinis diesbezügliche Rechtspositionen sind aber sowohl vor-revolutionär, als auch vor-kantianisch und vor-preussisch.
iura connata
Die Frage nach den Menschenrechten ist nach wie vor aktuell, weil historische Entwicklungen bis heute und vor allem in der Geschichte des 20. Jhds gezeigt haben, wie wichtig ein solches – absolutes – Verständnis der Menschen- und Persönlichkeitsrechte ist. Man denke etwa an die Verbrechen des Nationalsozialismus, des Kommunismus, Francos, Pinochets, Pol Pot’s oder in jüngster Vergangenheit in Bosnien oder dem Kosovo.
Menschenrechte
Den schönsten dichterischen Ausdruck eines möglichen Widerspruchs zwischen dem Naturrecht und dem staatlich-positiven Gesetz hat Sophokles in seiner Tragödie „Antigone” geschaffen, indem er den Konflikt zwischen dem Gehorsam gegenüber dem menschlichen Gesetz und jenem überpositiven (Natur)Recht darstellt, das menschliche Satzung nicht zu beseitigen vermag. Wir lesen in den Versen 449 ff:
Sophokles’ „Antigone”
„Für Menschensatzung gibt es eine Grenze Und Dein Gebot hat nimmermehr die Macht, Dass es das ungeschriebne Recht der Götter, Das unerschütterliche brechen könnte.”
Antigone begräbt – gegen ein Verbot von König Kreon – den Leichnam ihres (zum Staatsfeind gewordenen) Bruders Polyneikes und wird dafür mit der vollen Härte des menschlichen Gesetzes bestraft, von Sophokles aber als Siegerin gezeigt.
G.W.F. Hegel merkte dazu an: „Antigone verletzt das Recht des Staates, Kreon das der Familie. Die Antinomie zweier gleichberechtigter Prinzipien macht das Wesen der Tragödie aus.”
Sophokles und idF Platon und Aristoteles sowie die Naturrechtslehre der Neuzeit gehen von der Höherwertigkeit des Naturrechts aus, Hegel spricht von gleichwertigen Prinzipien. Der (Rechts)Positivismus – in Österreich insbesondere Kelsen – besteht auf der absoluten Dominanz des staatlichen Gesetzes. Er leugnet die Existenz von nicht gesatztem Recht.
Der Begriff Rechtspositivismus hat etymologisch nichts mit „positiv” zu tun, sondern ist vom lateinischen ponere (= setzen, stellen, legen) abgeleitet und bedeutet nichts anders als: Wissenschaft vom gesatzten (iSv menschlich gesetztem) Recht.
Literaturquelle
Martini, der rechtstheoretisch keinen Unterschied zwischen dem öffentlichen und privaten-bürgerlichen Recht erblickte, verstand die Menschenrechte (die wir heute dem öffentlichen Recht zuzählen) und die Persönlichkeitsrechte (die nunmehr zum Privatrecht gehören) modern als die beiden Seiten ein und derselben Münze „Recht”. Er hat für dieses Verständnis in Österreich früh gekämpft, konnte sich aber noch nicht durchsetzen. Sein überschätzter Schüler F. v. Zeiller wollte sogar den späteren § 16 ABGB, als Rest von Martinis berühmter „Einleitung”, die eine Art Grundrechtskatalog und protorechtsstaatliche Prinzipien enthielt, streichen.
Menschenrechte – Persönlichkeitsrechte
Literaturquelle
Unter Monismus wird rechtstheoretisch verschiedenes verstanden; einerseits wird damit ein Wesensunterschied von Normen – insbesondere zwischen Privat- und öffentlichem Recht – geleugnet. H. Kelsen ist bspw Monist. Er verwendet diesen Begriff aber auch iSd von ihm vertretenen Rechtsquellen-Monismus: „Die Reine Rechtslehre ist... eine monistische Rechtslehre. Ihr zufolge gibt es nur ‚ein’ Recht, das positive Recht.” – „Die Naturrechtslehre ist eine dualistische Rechtslehre; denn es gibt ihr zufolge neben dem positiven Recht ein Naturrecht”; H. Kelsen, Reine Rechtslehre 443 (19672).
(Rechts)Monismus
Martinis Einfluss auf unser ABGB kann nicht hoch genug eingeschätzt werden: Er hat den reichen Fundus der seit 1753 aufbereiteten Kodifikationsbemühungen (Codex Theresianus, Entwurf Horten, Josephinisches Ehe- [1783] und Erbfolgepatent [1786] sowie das Josephinische Gesetzbuch 1786, das bereits als Erster Teil eines allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs gedacht war,) gesichtet, weiterentwickelt und daraus die qualitativ hochwertige legistische Grundlage für das ABGB geschaffen. Aufgenommen in seinen (1796 fertig gestellten) Entwurf und dann in das von ihm geschaffene WGGB 1797 hat Martini (wie später Zeiller) manch’ vorbildliche Norm des Preußischen Landrechts (AGB/ALR), das eine großartige Leistung darstellte und legistisch in vieler Hinsicht Maßstäbe gesetzt hat; und zwar normativ-inhaltliche wie legistisch-rechtssprachliche. Martini hat sich zeitlebens um die deutsche Rechtssprache – die damals entstanden ist – bemüht, und seine Schüler (Horten, Keeß, Froidevo, Sonnenfels, Zeiller) haben sein Anliegen wenigstens teilweise weitergetragen.
Martinis Einfluss
Wichtig war für Martini auch das Konzept eines Volksgesetzbuchs für das zu schaffende bürgerliche Gesetzbuch, dem Zeiller und die ABGB-Redaktoren nicht mehr gefolgt sind. Kern dieses fortschrittlichen Gedankens waren Martinis Vorstellungen vom Volk als Normadressaten. Martini dachte hier sehr griechisch! Das Gesetz sollte sich danach nicht nur – wie später von Zeiller vertreten – an die gebildeten Schichten, also den sog Rechtsstab (Gerichte, Behörden, Notare, Anwälte) richten, sondern an alle oder doch möglichst viele; also auch an jene, die vielleicht gar nicht lesen und schreiben konnten, und das waren viele, die aber durchaus über eine natürliche Intelligenz und Merkfähigkeit verfügten. Vorlesen war nicht nur auf dem Lande üblich! Dafür musste ein Gesetzbuch klar, einfach und da und dort mit Beispielen und Erklärungen versehen sein, ohne deshalb zu „lange” zu werden; ein Vorwurf, der zu recht das Preußische Gesetzbuch traf. Martini meinte dagegen 1773/1799:
Konzept eines Volksgesetzbuchs
„[Gesetze] sollen... deutlich und kurz, wie die 10 Gebote Gottes geschrieben seyn, damit sie auch Leute von geringen Geistesgaben fassen und im Gedächtnis behalten können.”
Es war Martini, der die Bedeutung des legistischen Prinzips einer angemessenen Generalisierung und Verdichtung von Normen – ohne einem übertriebenen Perfektionismus zu verfallen – erkannt hatte; Abkehr von der Kasuistik. Martini hatte darin auch klar die Chance eines österreichischen bürgerlichen Gesetzbuchs im Vergleich mit dem von ihm sonst hoch eingeschätzten Preußischen Gesetzbuch (AGB/ALR) erkannt. – Das ABGB bedeutet in mancher Hinsicht bereits einen Rückschritt, verglichen mit Martinis Entwurf und dem (W)GGB. Vor allem die beispieldurchsetzte und bildhafte Sprache Martinis, die dennoch nicht auf die nötige Verdichtung verzichtete, fiel unergiebigen Kürzungsüberlegungen weitgehend zum Opfer; vgl das folgende Beispiel: Tabelle § 292 ABGB.
Martinis „legistische Maximen“
Literaturquelle
§ 292 ABGB
II 1 § 12 WGGB ~ Entwurf Martini II 1 § 12§ 292 ABGB
„Körperliche Sachen sind diejenigen, welche in die Sinne[n] fallen, z. B. Häuser, Wiesen, Thiere; unkörperliche sind diejenigen, welche nur durch menschliche Begriffe bestehen, z. B. das Recht zu jagen, zu fischen und alle andern Rechte.”
„Körperliche Sachen sind diejenigen, welche in die Sinne fallen; sonst heißen sie unkörperliche; z. B. das Recht zu jagen, zu fischen und alle andere Rechte.”
Was hat Martini inhaltlich in unserem Gesetzbuch geschaffen? – Wir verdanken ihm viel, quantitativ wohl an die 80-90 Prozent des ABGB und qualitativ nahezu alle Schlüsselstellen; insbesondere die §§ 1 ff ABGB, aber auch die §§ 6 und 7 sowie 16, 17, 19, 21 f, 23 f, 285 ff, die bahnbrechenden naturrechtlichen Irrtumsregeln der §§ 871 ff ABGB, die Strohal schon 1891 als „originell und kühn gedacht” charakterisiert hatte, und die, wenn es dazu kommen sollte, in ein europäisches Gesetzbuch eingehen sollten! Dazu kommt der Großteil des Schadenersatzrechts uvam. Martini ist der Vater (oder besser die Mutter) unseres Gesetzbuchs. – Er ist auch – weltweit – nicht nur der Erfinder der modernen, generalisierenden Legistik (Abkehr von der Kasuistik des ALR, noch vor dem frCC), sondern auch des modernen Lückenschließungskonzepts in seiner triadischen Analogie-Staffelung: Gesetzes- und Rechtsanalogie sowie natürliche Rechtsgrundsätze; dazu → KAPITEL 11: Rechtsanwendung und Fallösung. Das preußische Landrecht (1794) hatte eine allfällige Lückenschließung noch nicht dem Richter, sondern einer eigenen „Gesetzes-Commission” übertragen.
Martini – Vater (oder besser Mutter) des ABGB
Zu Art 4 frCC (1804) und Art 1 des SchwZGB → KAPITEL 11: § 7 ABGB: Die Lückenschließung.
Alles Recht dient der Umsetzung gesellschaftlicher Werte. Martinis zentrale (Rechts)Werte, die in der Folge ins ABGB gelangten, waren (und sie sind noch heute aktuell!): Freiheit und Menschenwürde. Politische Freiheit war bereits im Josephinischen Gesetzbuch (JosephGB) allgemein rechtlich verbürgt worden; vgl 2 § 1 JosephGB:
Freiheit und Menschenwürde
„Unter dem Schutze, und nach der Leitung der Landesgesetze geniessen alle Unterthanen [!?] ohne Ausnahme die vollkommene Freiheit.”
Darin war auch schon die Gleichheit (vor dem Gesetz) angelegt, was der Adel Joseph II schwer verübelte; freilich zunächst nur eine privatrechtliche Gleichheit. Joseph II wollte sogar den Adel abschaffen, was uns, wäre es gelungen, vieles erspart hätte. – Martini führt diese unverzichtbaren Josephinischen Grundlagen für eine moderne Kodifikation – zu deren Entstehung er selber wesentlich beigetragen hatte – näher aus (insbesondere Freiheit des Eigentumserwerbs, der Eheschließung und allgemeine Vertragsfreiheit, die wiederum die Formfreiheit nach sich zieht) und fügt Neues hinzu; zB den Schutz angeborener Rechte. Der Vater dieses für unsere Kodifikation so wichtigen und charakteristischen Schutzes der Persönlichkeitsrechte (Privatrecht) sowie des späteren verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechtsschutzes war demnach K. A. v. Martini.
Gleichheit
Martinis zentrale Rechtswerte (Freiheit und Menschenwürde, wozu nach Martini und im Gegensatz zu Zeiller auch die soziale Billigkeit des Gesetzgebers gehörte), die vom ABGB grundsätzlich übernommen wurden, stammen weder – wie immer wieder behauptet wird – aus der Französischen Revolution, noch aus der Philosophie Kants; sie sind vielmehr vor-revolutionär, vor-kantianisch und zudem vor-preußisch. Sie sind das Ergebnis des europäischen Naturrechtsdenkens, das in Martini einen genialen Gestalter und talentvollen Legislator gefunden hatte.
Literaturquelle
nach oben
II. Die drei großen Kodifikationen
An der Wende vom 18. zum 19. Jhd entstehen drei bedeutende Privatrechtskodifikationen / Gesetzbücher. Auslöser dafür war – neben naturrechtlichen Ideen – vor allem die als misslich empfundene starke Rechtszersplitterung in den einzelnen Territorien der Habsburgermonarchie (wie anderswo), die den Wunsch nach Rechtssicherheit (ius certum) immer stärker werden ließ.
Die drei großen Kodifikationen sind: das ALR, der Code Civil und das ABGB.
Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 (ALR) fasste sowohl das allgemeine und Sonderprivatrecht, als auch das öffentliche Recht in über 18.900 Paragraphen zusammen. Es handelte sich, was immer wieder übersehen wird, um eine Gesamtkodifikation. Wichtigster Redaktor ist C. G. Svarez (1746-1798); dazu kommen Großkanzler Carmer (1721-1801) und E. F. Klein (1744-1810): Preußisches Reformerdreigestirn. – Das ALR stellte eine großartige legistische Leistung dar und war für die Entstehung und inhaltliche Gestaltung unseres ABGB – insbesondere auch die Entwicklung seiner Rechtssprache – von großer Bedeutung. Martini und Zeiller übernahmen zudem manche Regelung des ALR.
ALR 1794
• 1746: Auftrag Friedrich des Großen (1712-1786) an Samuel Cocceji (1679-1755) ein „deutsches allgemeines Landrecht” zu schaffen – Dieser Reformversuch scheitert.
Kodifikation in Preußen
• 1779: Müller Arnold Prozess – „Machtspruch” Friedrichs (Inhaftierung und Amtsenthebung mehrerer hoher Richter, Entlassung des Großkanzlers).
• 1780: Neuer Beginn der Kodifikationsarbeiten unter Großkanzler Johann Heinrich Casimir Graf v. Carmer (1721-1801), Carl Gottlieb Svarez (1746-1798) und Ernst Friedrich Klein (1744-1810).
• 1784-1788: Erster Entwurf des geplanten Allgemeinen Gesetzbuchs/ AGB für Preußen 1789-1791: Überarbeitung des AGB-Entwurfs.
• 1791 – Publikationspatent v. 20.3.1791: Allgemeines Gesetzbuch für die Preußischen Staaten / AGB
• 1794: Statt – wie geplant – am 1.6. 1792 trat das Gesetzbuch nunmehr als Allgemeines Landrecht/ ALR und nicht mehr als AGB, am 1.6. 1794 (mehrfach geändert) in Kraft, was für die großen und verdienstvollen preußischen Reformer eine Demütigung darstellte. – Die Zeiten hatten sich geändert!
Literaturquelle
Der Code Civil (Code Napoléon) von 1804 (frCC). Er beschränkt sich bereits auf das bürgerliche Recht und ist inhaltlich ebenfalls von hoher Qualität und Präzision. Er umfasst nur mehr ca. 2.300 Artikel und erlangt durch Napoleons Eroberungspolitik in vielen europäischen Ländern Geltung.
Code Civil von 1804


Kodifikation in Frankreich
Abbildung 1.15:
Kodifikation in Frankreich
Literaturquelle
Schließlich das Österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811 (ABGB). Es regelt in nur 1502 Paragraphen das allgemeine Zivilrecht. Auch das ABGB beschränkt sich auf das Privatrecht; vgl aber zB noch §§ 28 ff aF: Staatsbürgerschaftsrecht. – Als geistige Väter des ABGB gelten vor allem Karl Anton v. Martini (1726–1800) und Franz Anton v. Zeiller (1751–1828). Die entscheidenden Grundlagen für unsere Privatrechtskodifikation stammen von Martini, der in Wien seit 1754 als Professor für Naturrecht wirkte und einige berühmte Schüler hervorbrachte, über die er seine Ansichten verbreitete: Sonnenfels (1732-1817), Horten (1735-1786), Froidevo (1735-1811), Keeß (1747-1799) und Zeiller (1751-1828).
ABGB 1811
Die drei „klassischen” Privatrechtskodifikationen des Naturrechts bewegen sich historisch in zeitlichem Gleichklang mit der Klassik in Dichtung (zB für den deutschen Sprachraum: Lessing, Schiller, Goethe, Kleist etc) und Musik (Bach, Haydn, Mozart, Beethoven), aber auch von Philosophie (Kant, Fichte, Schelling, Hegel; in Frankreich: die Enzyklopädisten mit Diderot an der Spitze sowie J. J. Rousseau und Voltaire) und der Nationalökonomie (A. Smith: 1723-1790, D. Ricardo: 1772-1823, Robert Malthus: 1766-1834); zeitlich etwas verschoben publiziert Adam Smith schon 1759 seine „Theorie der ethischen Gefühle” und 1776 „Der Wohlstand der Nationen”. – Insgesamt eine rundum bemerkenswerte Zeit der Klassik, die auch berühmte politische Figuren hervorgebracht hat; in Österreich Maria Theresia und Joseph II, in Preußen Friedrich den Großen, in Frankreich Napoleon.
Zeit der „Klassik”
• Codex Maximilianäus Bavaricus Civilis 1756: Wiguläus Xaver Aloys Kreittmayr (1705 – 1790)
Privatrechts-Kodifikationen des 18. und 19. Jhd
• Josephinisches Gesetzbuch 1786: Horten
• ALR 1794: C.G. Svarez / Klein/Carmer
• (West)Galizisches Gesetzbuch 1797: Martini
• Code Civil 1804: Napoleón
• ABGB 1811
• Sächsisches BGB 1865
• Deutsches BGB 1900
Hinzuweisen ist darauf, dass mit der Fertigstellung von Martinis Entwurf (1796), der weitgehend mit dem (West)Galizischen Gesetzbuch von 1797 (Inkrafttreten am 1.1.1798) übereinstimmt, die österreichischen Kodifikationsbemühungen ein Niveau erreicht haben, das deutlich über dem der Vorentwürfe liegt. Damit ist der Grundstock für das spätere ABGB gelegt. Zwischen dem Beginn der österreichischen Kodifikationsarbeiten 1753 und dem sog Ur-Entwurf (= Westgalizisches Gesetzbuch) liegt nicht nur fast ein halbes Jahrhundert, sondern auch eine Entwicklung der Rechtswissenschaft, „wie sie bis dahin nicht in Jahrhunderten stattgefunden hatte”; Charmatz, Zur Geschichte und Konstruktion der Vertragstypen im Schuldrecht 178 (1937).
Martinis Entwurf und das (W)GGB
Martinis Entwurf brachte die österreichischen Kodifikationsbemühungen nicht nur juristisch, sondern auch sprachlich entscheidend voran. Wir müssen nämlich bedenken, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nur die moderne deutsche (Hoch)Sprache insgesamt, sondern vor allem auch die deutsche Rechtssprache weithin erst geschaffen wurde; durch Übersetzungen aus dem Lateinischen und Wort(neu)schöpfungen. Wichtige Vorarbeiten und Hilfe leisteten dabei die Redaktoren des ALR.
Rechtssprache
Literaturquelle • Codex Theresianus (1766);
Vorarbeiten zum ABGB
• Entwurf Horten (1776) und das noch von Horten konzipierte
• Josephinische Gesetzbuch 1786 (JGS 591): Es enthielt nur Personenrecht.
• Entwurf Martini (1796) woraus das
• West- und Ostgalizisches Gesetzbuch (1797, JGS 337 und JGS 373) entsteht = sog Ur-Entwurf des ABGB.
Die Reformgesetzgebung Joseph II (1765/1780-1790) schuf unverzichtbare Grundlagen für eine aufgeklärte Kodifikation des bürgerlichen Rechts: – 1781 Aufhebung der Leibeigenschaft; – 1781 Toleranzpatent (vgl noch § 39 ABGB); – 1783 Erbfolgepatent, das für alle Stände und Erbländer eine gleiche gesetzliche Erbfolgeordnung schuf; – 1783 Ehepatent, womit die bislang kirchliche Ehegesetzgebung und Ehegerichtsbarkeit dem Staat zugewiesen wurde; – auch Freiheit und Gleichheit (vor dem Gesetz) garantiert Joseph II seinen „Unterthanen” im Josephinischen Gesetzbuch 1786. – Zu beachten ist, dass alle diese Regelungen vor der Französischen Revolution getroffen wurden. Auf diesen Grundlagen – die er mitgeschaffen hat – baut Martini in der Folge auf.
Reformgesetzgebung Joseph II
• 1753: Maria Theresia setzt eine Kompilationskommission ein – Preußen (Friedrich II, der Große; Cocceji) war 1746 vorausgegangen
Zeitlicher Ablauf der österr Privatrechtskodifikation
• 1766: Fertigstellung des Codex Theresianus (unter Azzoni, gest 1761, und Zencker)
• 1771-1776: Arbeit am Entwurf Horten (K. A.v. Martini ist seit 1773 Kommissionsmitglied)
• Aus dem Entwurf Horten entstehen die Ehepatente v. 16.1.1783 (JGS 117) und 3.5.1786 (JGS 543) und das Erbfolgepatent v. 11.5.1786 (JGS 548) und schließlich das
Josephinisches Gesetzbuch Patent v. 1.9.1786, JGS 591; in Kraft ab 1.1.1787
• 1790: Neuer Anlauf unter Kaiser Leopold II; Vorsitzender und führende Persönlichkeit K. A. v. Martini (1726-1800)
• 1796: Fertigstellung des Entwurfs Martini
• 1797: Kundmachung des sprachlich noch von Keeß überarbeiteten Entwurfs Martini als Gesetzbuch für West- (Patent v. 13.2.1797, JGS 337) und Ostgalizien: sog WGGB (Patent v. 18.9.1797, JGS 373)
• 1.1.1798: Einheitliches Inkrafttreten in Galizien
• 1797-1810: Redaktion des ABGB – Martinis Entwurf idFd (W)GGB wird als sog Urentwurf bezeichnet und überarbeitet; zunächst unter Keeß; nach seinem Tod (1799) wird F. v. Zeiller Referent
• 21.12.1801 – 22.12.1806: Erste Lesung; 132 Sitzungen
• 4.5.1806 – 14.1.1808: Zweite Lesung – „Revision”; 28 Sitzungen
• 13.11.1809 – 22.1.1810: Dritte Lesung – „Superrevision”; 14 Sitzungen
Kaiserliche Sanktion und Kundmachungdes ABGB durch Patent v. 1.6.1811, JGS 946; am 1.1.1812: Inkrafttreten des ABGB
nach oben
III. Zur Bezeichnung: Allgemeines / Bürgerliches / Gesetzbuch
So heißt das ABGB primär deswegen, weil das Sonderprivatrecht im Gesetzbuch nicht enthalten war, „sondern nur solche Privatrechtsnormen, welche die allen Bürgern zustehenden Rechte und Pflichten betreffen”; S. Adler. Handels- und Wechsel-, See-, Lehen- und Privatkirchenrecht wurden nicht im ABGB geregelt, sondern sollten einer Spezialgesetzgebung überlassen bleiben; vgl das KdmPat zum ABGB alinea 7. – Allgemeines heißt das ABGB aber auch, weil es gleiches Recht für alle – und nicht wie bisher üblich für bestimmte, idR bevorzugte Stände – schaffen wollte. Gleichheit im Privatrecht – im Bereich des bürgerlichen Rechts – war sein Ziel! Eine zentrale Forderung auch der Französischen Revolution und der Aufklärung war es gewesen, die „Privilegienwirtschaft” (also Vorrechte bestimmter Stände) abzubauen.
„Allgemeines”
Dieses Gesetzbuch verdient seinen Namen „bürgerliches” in doppelter Hinsicht: Es verdankt seine Entstehung dem Emporsteigen des dritten Standes, dem Bürgertum (neben Adel und Geistlichkeit) und legt dessen Rechtsideen nieder, ist also bürgerlich ieS. Von den Vorrechten der Geburt / des Adels und der Geistlichkeit will es nichts mehr wissen. – Andrerseits wird es den Bedürfnissen des vierten Standes, der Arbeiterschaft, die von ihrer Hände Arbeit lebt und kaum Eigentum besaß, nicht gerecht; konnte ihm nicht gerecht werden, da zur Zeit der Vorbereitung des ABGB diese Probleme noch nicht jene Sprengkraft besaßen, die sie wenige Jahrzehnte danach erlangen sollten. Die großen Probleme, der durch die Industrielle Revolution (→ Industrielle Revolution) ausgelösten „Sozialen Frage”, waren für das ABGB noch ohne Bedeutung. (Die englische Entwicklung und Literatur – A. Smith! – hätte allerdings schon manches aufgezeigt.)
„bürgerliches”
Vgl die Entwicklung des römischen Rechts: Vom geheimen Priesterrecht zum öffentlich zugänglichen und schriftlich niedergelegten Zwölf-Tafel-Gesetz; um 450 v. Chr. Gesetz und Kodifikationsgedanke (Drakon, Solon, Demetrios von Phaleron) sind griechischen Ursprungs und wurden auch von den Römern übernommen. – Ähnlich war es hier, galt es doch die Rechte der Bürger fasslich, nachlesbar und verständlich niederzulegen und damit obrigkeitlicher Willkür zu entziehen: Möglichkeit der Rechtskenntnis, Rechtsklarheit, Rechtssicherheit (ius certum).
Gesetzbuch
Vgl auch dazu das KdmPat zum ABGB: „Aus der Betrachtung, dass die bürgerlichen Gesetze, um den Bürgern volle Beruhigung über den gesicherten Genuss ihrer Privatrechte zu verschaffen, nicht nur nach den allgemeinen Grundsätzen der Gerechtigkeit, sondern auch nach den besonderen Verhältnissen der Einwohner bestimmt, in einer ihnen verständlichen Sprache bekannt gemacht, und durch eine ordentliche Sammlung in stetem Andenken erhalten werden sollen”.
KdmPat zum ABGB
Das Mittel dazu war das Gesetzbuch, das den Bürgern ihr Recht übersichtlich zusammenfasste; Kodifikation.
Literaturquelle • ~ 1700 Hammurapi: Babylon
Berühmte frühe Gesetzgebungen v. C.
• ~ 750 Lykurg: Sparta – nicht historisch
• ~ 663/2 Zaleúkos: Lokri / Epizephyros (Unteritalien) – Erste Gesetzgebung Europas für die aristokratisch regierte Polis
• ~ 624/3 Drakon: Athen
• 594/3 Solon: Athen
• ~ 550 Charóndas: Katane / Sizilien
• ~ 500 Gortyn: Kreta
• 451/450 Zwölftafel-Gesetz / Rom
nach oben
IV. Die Französische Revolution
Die Französische Revolution (14.7.1789: Sturm auf die Bastille) begünstigt letztlich das Entstehen und Inkrafttreten der großen Kodifikationen, bereitet aber den Kodifikatoren in Preußen und Österreich auch beträchtliche Schwierigkeiten, zumal sich in den konservativen Monarchien geradezu eine Revolutionshysterie ausbreitete; Martini hatte darunter sehr zu leiden! (Auch sein wenig dankbarer Schüler Zeiller unterstellte ihm unbegründet eine Förderung von revolutionärem Gedankengut.) – Das treibende Motiv der Herrschenden war nunmehr die Angst, andere Länder könnten dem Beispiel Frankreichs folgen. In Preußen wie Österreich war die Revolution in Frankreich aber auch Anlass dafür, progressive Passagen in den jeweiligen Gesetzbüchern oder Entwürfen (AGB/ALR in Preußen; in Österreich betraf dies Martinis „Einleitung” für ein bürgerliches Gesetzbuch) zu modifizieren oder zu streichen. In Österreich war es Franz von Zeiller, der diese – nicht nur rechtlich für nötig erachteten, sondern auch politisch erwünschten – Anpassungen vornahm.
Behinderung des Reformprozess
Mit der Aufhebung der Standesprivilegien (4.8.1789) und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen – 26.8.1789) werden in Frankreich rechtshistorische Marksteine gesetzt und damit auch die Grundlagen eines auf Rechtsgleichheit beruhenden bürgerlichen Rechts geschaffen. Die „Déclaration” bildete nicht nur die philosophische Grundlage für das revolutionäre Frankreich, sondern legt auch die programmatische Grundlage für die künftige Entwicklung der Grund- und Freiheitsrechte. In Österreich war diese Entwicklung schon durch Joseph II eingeleitet und wenigstens zum Teil durchgeführt worden.
Aufhebung der Standesprivilegien
Als Staatszwecke werden in der französischen Erklärung der Menschenrechte zB die Bewahrung von Freiheit, EigentumSicherheit, Widerstand gegen Unterdrückung, Gewaltenteilung oder die Verantwortlichkeit öffentlicher Beamter sowie der Grundsatz, dass Enteignung nur gegen angemessene Entschädigung erfolgen dürfe (Art 17), genannt. – Ein Großteil dieser Forderungen war in Österreich durch die Reformer Joseph II (insbesondere das Josephinische Gesetzbuch 1786, das Toleranzpatent 1781) und Martinis „Einleitung” zum WGGB bereits vorweggenommen oder sogar schon gesetzlich festgeschrieben worden.
Französische Erklärung der Menschenrechte
nach oben
V. Industrielle Revolution
Die großen europäischen (Naturrechts)Kodifikationen sind zudem wichtige Voraussetzungen und wirken als Schrittmacher und Katalysatoren der bald darauf einsetzenden industriellen und überhaupt der ökonomischen Entwicklung im 19. Jhd, die anschaulich mit dem Begriff Industrielle Revolution (I.R.) bezeichnet wird. Denn ein Wirtschaften über kleine geographische Einheiten hinaus verlangte auch nach sicheren Rechtsgrundlagen (Rechtssicherheit) und großflächigeren rechtlichen Regelungen. Die Voraussetzungen boten die großen Kodifikationen, die als einheitliche und starke Rechtsordnungen auch dem entstehenden (National)Staate Rückhalt und (Selbst)Sicherheit geben konnten. Markt und Privatrecht stehen in einem funktionalen inneren Zusammenhang, was das „späte” dtBGB – beschlossen 1896, in Kraft getreten 1900 – noch deutlicher zeigt, als die klassischen Kodifikationen.
Soziale Frage / Pauperismus und Privatrechtskodifikation
Die I.R. beginnt bald nach der Mitte des 18. Jhd in England (von niemandem besser umschrieben als von Friedrich Engels, Die industrielle Revolution in England, MEW II 237 [1970]; dieser Prozess setzt sich mit einer zeitlichen Phasenverschiebung in Frankreich fort und erreicht in den deutschen Landen, nochmals zeitlich versetzt – etwa um die Mitte des 19. Jhd – ihren Höhepunkt. Österreich hinkt zeitlich nochmals nach. – Die in ihren Anfängen manchesterliberal, also sozialdarwinistisch ausgerichtete I.R. bringt die sog Soziale Frage (Pauperismus) hervor, die als ein zentrales Problem das 19. Jhd durchzieht. 1848 veröffentlichen Karl Marx und Friedrich Engels das Kommunistische Manifest. Erst im letzten Viertel des 19. Jhd setzt eine nennenswerte Sozialgesetzgebung in Europa ein; ab 1883: Bismarcks Arbeiterversicherung als bahnbrechendes Konzept der modernen Sozialversicherung; vgl zur Entwicklung meine Habilitationsschrift: Kausalität im Sozialrecht (1983).
Die Entwicklung beginnt in England
Literaturquelle
nach oben
VI. Die drei Teilnovellen des ABGB
(I. TN), 1915 (II. TN) und 1916 (III. TN) kommt es zu umfangreichen Novellierungen des ABGB unter Justizminister Franz Klein (1854-1926), zuständiger Referent war Josef Schey (1853-1938). Sie sind stark von dem 1900 in Kraft getretenen dtBGB beeinflusst. – Damit wird das ABGB – 100 Jahre nach seinem Inkrafttreten – an die neuen gesellschaftlichen Bedürfnisse angepasst.
Literaturquelle
nach oben
VII. Andere europäische Kodifikationen
Das Deutsche bürgerliche Gesetzbuch (dtBGB)von 1900.
Deutschland
Eine Einführung in das Zivilrecht unseres Nachbarlandes Deutschland bietet Wolfgang Däublers: Das Zivilrecht [1 und 2]. Ein Leitfaden durch das deutsche BGB (rororo-aktuell, 1997: jeder Bd 196,? S; TB); – Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch (200059), der klassische Kurzkommentar zum dtBGB!
Das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB von 1907 und das Schweizerische Obligationenrecht (OR von 1911; Schöpfer war Eugen Huber (1849-1923).
Schweiz
Codice Civile (1942): Italienisches Zivilgesetzbuch – Codice civile: Zweisprachige Ausgabe (19922), übersetzt und hg von Bauer / Eccher / König / Kreuzer / Zanon.
Italien
Das neue Niederländische Bürgerliche Gesetzbuch/ Burgerlijk Wetboek (1992).
Holland
nach oben
VIII. Zur Weiterentwicklung des ABGB
Literaturquelle
Franz Gschnitzer unterscheidet in seinem Nachruf auf Josef Schey (JBl 1938, 69 f = FGL 371 ff) „fünf Generationen unter der Herrschaft des ABGB”, von denen jede am Gesetzbuch gearbeitet habe und jede „die unvergeßlichen Züge großer Männer” trage. – Mittlerweile sind zwei weitere Generationen hinzugekommen. Ich folge wo möglich Gschnitzers Ausführungen. Wir wissen heute aber historisch und kodifikationsgeschichtlich deutlich mehr, als 1938. Die Generationeneinteilung wird aber – cum grano salis – beibehalten.
„Fünf“ Generationen unter der Herrschaft des ABGB
Für sie, die von 1796-1828 reicht, stehen Martini und Zeiller. Diese Phase umfasst die Jahre des Abschlusses der Kodifikation in schwerer Zeit und ihrer ersten Anwendung. – Höhepunkt dieser Phase ist das Inkrafttreten des ABGB am 1. Jänner 1812. Eine wichtige Hilfe stellt idF Zeillers „Commentar” dar.
Erste Generation
„Nach ewiger Ordnung folgt dem Aufschwung die Ermattung, der Glanzzeit eine ‚traurige zweite Periode (etwa 1828-1858). ‚Die Concentrierung auf das neue Gesetzbuch führt zur Abschliessung gegen alle anderen Quellen des juristischen Wissens, zum Buchstabendienst geistloser Exegese – dem Niveau der Commentare Nippel’s, Ellinger’s u. A’.”
Zweite Generation
„So hält [Joseph] Unger der ihm vorangehenden Epoche den Nachruf und leitet damit die viel hoffnungsvollere dritte Periode (etwa: 1858-1888) ein, deren Vorkämpfer er ist. Dem entspricht es, dass Schey in der Festschrift zu Ungers 70. Geburtstag auf diese dritte Periode zurückblickt und gleich Unger aus den Fehlern der abgelaufenen Zeit die Aufgaben der eigenen entwickelt. Die drittePeriode habe das Verdienst, der Stagnation ein Ende gemacht zu haben, indem sie die Verbindung mit der Theorie des gemeinen Rechtes, mit der historischen Schule Deutschlands aufnahm. Sie habe aber in unzulässiger Weise die Sätze der romanistischen Lehre zum Massstab der Kritik am ABGB genommen und durch dieses Vorurteil nicht selten die Einsicht in den wahren Inhalt des Gesetzbuches getrübt. Ihre Zeit sei abgelaufen. ‚Befreiung von den Fesseln romanistischer Schuldoktrin, unabhängigere Auffassung und freiere Darstellung des positiven modernen Rechtes’ laute die Losung; Unger selbst gebe sie aus und beweise damit, dass wahrhaft grosse Geister niemals stehen bleiben, auch dort nicht, wo bereits das Denkmal ihre Ruhmes errichtet ist. Nichtsnatürlicher, als dass bei dieser Auffassung der Gedanke der Reform auftauche, auch er schon von Unger verkündet.”
Dritte Generation
„Würdigung der Kodifikationen des 18. Jahrhunderts nach dem Masse der heutigen sozialen, ethischen und ökonomischen Bedürfnisse, so zeichnet [Josef] Schey die Leistung dieses vierten Zeitraumes (etwa: 1888-1918), und wir können sie nicht besser zeichnen! Auch diese Periode drängt zu einem Höhepunkt: es ist das Jahr der Jahrhundertfeier des ABGB. Das nun allgemein als Meisterwerk anerkannt ist; zugleich ist es das Jahr seiner Wiedergeburt: Vor Weihnachten 1912 verabschiedet das Herrenhaus die Bestimmungen, die bald als die drei Teilnovellen Gesetz werden. Josef Schey formt als Gelehrter, als Lehrer, als Gesetzgeber das österreichische Privatrecht dieses Zeitraumes nach seinem Bilde. Wir sahen, wie er Unger folgend, das Programm umriss. Sein wissenschaftliches Hauptwerk, die Obligationsverhältnisse (1890-1907), führt in seinem Bereich das Programm mustergültig durch. Zur Erfüllung seiner selbstgestellten Aufgabe gehört es, dass Schey 1892 als Mitherausgeber der Glaser-Ungerschen Entscheidungssammlung an Ungers Stelle tritt und die Manz-Ausgabe zum ABGB besorgt, die den Praktiker mit der Spruchpraxis vertraut macht. – 25 Jahre lehrt Josef Schey an der Universität Wien […] Die drei Teilnovellen sind vorzüglich sein Werk, und sein Verdienst ist es, die ganz andersartigen Gedanken des DBGB so übernommen zu haben, dass Inhalt und Ausdruck sich dem Geist des ABGB. Anpassen. Der von ihm verfasste Herrenhausbericht ist zugleich die erste mit fast authentischer Kraft bekleidete Kommentierung.” […]
Vierte Generation
„Unter solchen Vorzeichen, in lebensgefährlicher Krisis [nämlich der Krise Österreichs nach dem Zerfall des Kaiserreichs] trat das österreichische Privatrecht in den [fünften Abschnitt: 1918-1938] seiner Entwicklung: die Amtliche Sammlung der Entscheidungen des OGH [SZ] stellte ihr Erscheinen ein; ebenso die Glaser-Ungersche Sammlung, deren Mitherausgeber Schey bis zum Schlusse geblieben war; der Kommentar von Stubenrauch brachte keine neue Auflage mehr heraus; das monographische Schrifttum lag darnieder. Einzig das System von Krainz-Pfaff, besorgt von Ehrenzweig, erhielt in dem Jahrzehnt nach dem Zerfall Österreich-Ungarns der österreichischen Zivilrechtswissenschaft Ansehen in Europa und Einfluss in den Nachfolgestaaten. Dann sammelte sie sich wieder, die notwendigen Behelfe kamen neu heraus, die Zusammenarbeit mit den deutschen Juristen der Tschechoslowakei ward aufgenommen und der von Klang herausgegebene Kommentar bearbeitete das österreichische Zivilrecht entsprechend den wissenschaftlichen Forderungen der Gegenwart. [….]”
Fünfte Generation
Im Nachruf auf Heinrich Klang und „seine Bedeutung für das österreichische Privatrecht” schreibt Gschnitzer, 16 Jahre nach dem Tode von J. Schey und kein Jahrzehnt nach Beendigung der Hitlerherrschaft (JBl 1954, 157 ff = FGL 515 ff) seine Generationenbetrachtung zum ABGB fort und präzisiert die bereits angesprochene fünfte Periode des ABGB dadurch, dass er sie in zwei Abschnitte unterteilt:
Unterteilung der 5. Generation
„Sie teilt sich deutlich in zwei Abschnitte, deren erster [Armin] Ehrenzweig [5a], deren zweiter [Heinrich] Klang [5b] zum Vertreter hat.”
Ehrenzweigs Verdienst ist es, die schwere Krise des österreichischen Privatrechtes nach 1918 überwunden zu haben (ZBl 1935, 769). Allein die Ereignisse nach 1938 schienen das ABGB wieder mit dem, diesmal unvermeidlichen Tode zu bedrohen.
[Heinrich] Klang’s persönliches Schicksal wird hier zum Symbol! Und der Zusammenbruch von 1945 lässt die österreichische Rechtsordnung in einer womöglich noch schlimmeren, verwirrteren und hilfloseren Lage zurück als der von 1918. Ihre Überwindung dankt das Zivilrecht Klang.”
„Auch sonst stehen die beiden Persönlichkeiten in reizvoller Wechselwirkung; nicht als Gegner oder gar Feinde, sondern als Partner wissenschaftlicher Diskussion. Ehrenzweig verfasst ‚das’ System, Klang gibt ‚den’ Kommentar heraus. Beide stellen die, lange Zeit hindurch unterbrochene Verbindung von Theorie und Praxis in idealer Weise wieder her. Ehrenzweig reicht von der Theorie aus der Praxis die Hand. Klang kommt aus der Praxis und bleibt ihr sein Leben lang verbunden, verzichtet aber nicht darauf, ihr eine saubere theoretische Grundlage zu geben. Während jedoch Ehrenzweig, der Tendenz seiner Zeit, die schon in den Teilnovellen zum Ausdruck kommt, verhaftet, das österreichische Recht dem deutschen anzugleichen bestrebt ist, manchmal auch auf Kosten der Eigenart des ABGB, lässt Klang trotz gleichgerichteter Grundanschauung dem ABGB sein volles Recht zuteil werden. Darin liegt ein Vorzug gegenüber Ehrenzweig […].”
„So tritt Klang in die Reihe der Meister des österreichischen Zivilrechts. Wie alle grossen Leistungen fliesst auch die seine – gewiss nicht bewusst – aus vielen Einzelleistungen zusammen und es ist von hohem Interesse zu beobachten, wie das Wirken seinen Anfang nimmt, wie sich bald die Grundlinien zeigen, wie es an Macht und Fülle gewinnt und zuletzt über das Fachgebiet hinaus ins Allgemein-rechtliche und –menschliche ausstrahlt. 776 Nummern zählt das Heft, in welchem Klang, sorgfältig, wie es seiner Art entsprach, alle seine Publikationen verzeichnet hat. Es beginnt im Jahre 1903 und endet 1954, auch noch die letzte Veröffentlichung umfassend.” – Auf die weiteren lesenswerten Ausführungen Gschnitzers über Klang muss hier verwiesen werden, sie nachzulesen, lohnt sich!
Franz Gschnitzer (1899-1968) war es, der bis zu seinem Tode im Jahre 1968 die Arbeit von Unger, Schey, Ehrenzweig und Klang am ABGB fortgesetzt und das Privatrechtsdenken – wie seine großen Vorgänger – auf nicht nur einem Felde bereichert hat; vgl FGL 19 ff. Sein Rektorsbild, Gschnitzer war in den Studienjahren 1946/47 und 1947/48 Rektor der Universität Innsbruck, gibt darüber Auskunft: „Franciscus Gschnitzer Tirolensis iura docuit, dixit, dedit”. Gschnitzer schreibt bereits in der ersten Auflage des Klang Kommentars wichtige Passagen, wozu zahlreiche Aufsätze und Vorträge kommen. Nach Klangs Tod übernimmt Gschnitzer die Herausgabe der zweiten Auflage des Klang Kommentars, bespricht wichtige OGH- Entscheidungen, schreibt die wichtigsten Buchrezensionen und fügt dem zahlreiche Aufsätze in den JBl hinzu. Er ist unter anderem zweimal nach 1945 Redner auf Österreichischen Juristentagen. In den 1960er-Jahren beginnt er mit der Veröffentlichung seines vorbildlichen sechsbändigen Lehrbuchs des österreichischen bürgerlichen Rechts, das eine empfindliche Lücke im Nachkriegsösterreich schliesst. Von 1945 bis zu seinem Tode ist er Präsident des Fürstlich Liechtensteinischen Obersten Gerichtshofes; dazu K. Kohlegger, in: FGL 1051 ff. Als Parlamentarier nach 1945 trägt er nach 1945 ua auch wichtige Zivilgesetze mit. Seine Qualität als Hochschullehrer reicht über Österreichs Grenzen hinaus. – Wir tun gut daran, die sechste Periode des ABGB von Klangs Tod bis zu Gschnitzers Tod (1954-1968) reichen zu lassen und Gschnitzer als ihren wesentlichen Vertreter anzusehen.
Sechste Generation
Die Periode seit etwa 1970 kann erneut unterteilt werden. Von ~ 1968/70-1983: Die Reformphase der Regierung Kreisky und BMfJ Broda drückt dieser Entwicklungsphase des ABGB ihren Stempel auf und wirkt lange nach. Die Familienrechts- und Erbrechtsreform holen lange Versäumtes nach. Dazu kommen KSchG, WEG 1975 uam. – Und von ~ 1985-2000: Wachsende Europäisierung des Privatrechts und schliesslich der EU-Beitritt Österreichs lassen sich nicht mehr einzelnen Personen zuweisen. Als wichtige Wissenschaftspersönlichkeit des Zivilrechts ist Franz Bydlinski zu nennen. – Der „Wert” des ABGB wird bedauerlicherweise immer mehr verkannt. Die Dogmatik des Zivilrechts wird nicht nur unnötig komplizierter, sondern auch immer narzistischer. Der mächtige Atem und Geist des ABGB wird spürbar schwächer. Alles andere, als ein Auf- und Eingehen des ABGB in eine Gesamteuropäische Privatrechtskodifikation, die auch in Teilschritten erfolgen kann, wäre ein schmerzlicher Verlust.
Siebte Generation
nach oben
G. Zur Abgrenzung: Privatrecht – öffentliches Recht
Nicht nur das österreichische Recht, auch die kontinentaleuropäische Rechtswissenschaft unterteilt die Rechtsordnung in Privatrecht und öffentliches Recht. Diese Einteilung geht auf das griechische Rechtsdenken (Demosthenes, Platon) zurück, von dem es das römische (Ulpian!) übernommen hat.
Das griechische Vorbild war moderner als die römische Übernahme und Unterscheidung, zumal jenes bereits nach der Behördenzuständigkeit differenzierte. Die griechische Lösung stammt von Platon oder Demosthenes (~ 350 v. C.), ist also um mehr als 500 Jahre älter als die römische.
Griechisches Vorbild
Verschiedene „Theorien” haben versucht, eine plausible Grenze zu ziehen. Bei Ulpian (D I, 1, 1, 2) findet sich die Formulierung der sog
• „Interessentheorie“: Publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem. (Das öffentliche Recht behandelt Belange / Interessen des römischen Staates, das Privatrecht dient dem Nutzen der einzelnen Bürger.)
Abgrenzungsversuche
• Die „Subjektstheorie trifft die Unterscheidung danach, wer – dh welche Rechtssubjekte – an einem Rechtsverhältnis beteiligt ist; am öffentlichen Recht ist immer ein Rechtsträger mit Hoheitsgewalt / Imperium beteiligt.
• Die „Subjektions- oder Subordinationstheorie erblickt das Charakteristikum des öffentlichen Rechts in der Über- und Unterordnung der beteiligten Parteien, während im Privatrecht Gleichordnung herrsche.
Keine dieser „Theorien” befriedigt vollständig, jede erfasst aber wenigstens ein Kriterium der Unterscheidung. So spielen bspw entgegen der Interessenstheorie auch im öffentlichen Recht Privat- oder Einzelinteressen eine Rolle – man denke nur an die Grundrechte – und auch das Privatrecht achtet auf das Allgemeininteresse / Gemeinwohl; vgl etwa § 365 ABGB oder §§ 16 f ABGB. Von grösster Bedeutung ist heute die Unterscheidung nach der Behördenzuständigkeit.
Unbefriedigende Theorien
P. Koschaker, Europa und das Römische Recht (1966 4); – D. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter (1982); – W. Seagle, Weltgeschichte des Rechts (19677); – Codex Justinianus, hg von G. Härtel / F-M. Kaufmann (Reclam-Leipzig, 1991); – Behrends / Knütel / Kupisch / Seiler, Corpus Iuris Civilis. Die Institutionen (UTB / C.F. Müller, Heidelberg, 1993); – P.G. Stein, Römisches Recht und Europa. Die Geschichte einer Rechtskultur (Fischer TB, 1996); – H. E. Troje, Europa und griechisches Recht (1971).


Zur Abgrenzung von PrivatR und öffentlR
Abbildung 1.16:
Zur Abgrenzung von PrivatR und öffentlR


Was regelt das öffentliche Recht?
Abbildung 1.17:
Was regelt das öffentliche Recht?
I. Mehr zu dieser Abgrenzung
Wir wissen bereits: Privatrecht und öffentliches Recht zusammengenommen bilden die Gesamt-Rechtsordnung. – Die Einteilung in öffentliches und Privatrecht ist eine Haupteinteilung unseres Rechts:
Das öffentliche Recht ordnet zu aller erst und vor allem – wenngleich nicht nur – die Rechtsverhältnisse der öffentlichen Gemeinwesen; der Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Gemeinden), Kammern, Sozialversicherungsträger oder Kirchen. Und zwar jeweils für sich und zueinander.
Öffentliches Recht
Die vom öffentlichen Recht geregelten Rechtsverhältnisse umfassen:
Geregelte Rechtsverhältnisse
• einerseits die innere Organisation dieser (einzelnen) Gemeinwesen: zB die Staats- / Bundes- oder die Landesverfassungen sowie deren Zusammensetzung und Aufbau (Behördenorganisation etc);
• andrerseits das Verhältnis der einzelnen öffentlichrechtlichen Körperschaften zueinander: von Staaten zu Staaten (Völkerrecht); vom Bund zu den Ländern (Art 15a Abs 1 B-VG); der (Bundes)Länder untereinander (Art 15a Abs 2 B-VG) etc;
• aber auch das Verhältnis der verschiedenen öffentlichrechtlichen Körper zu den (Mit)Gliedern der jeweiligen Gemeinschaft; zB das Wahlrecht (zum Nationalrat, Landtag, Gemeinderat, Kammern etc), die Besteuerung der Bürger (Steuerrecht), die (Zwangs)Mitgliedschaft in Berufsvertretungen (zB Kammern) usw.
Zum Bereich des öffentlichen Rechts gehören alle Vorgänge, an denen ein mit Hoheitsgewalt / imperium ausgestattetes Rechtssubjekt in Ausübung dieser Hoheitsgewalt teilnimmt; zB der Gesamtstaat / Bund, die Länder, ein Bezirk, eine Gemeinde oder ein Sozialversicherungsträger.
Das Privatrecht dagegen umfasst all jene Rechtsverhältnisse, in denen einzelne Rechtssubjekte grundsätzlich gleichgeordnet ohne prinzipielle Über- und Unterordnung zueinander stehen; vgl § 1 ABGB: „unter sich”. Etwa im Rahmen der Familie, als Käufer oder Verkäufer oder überhaupt als Vertragsschließende.
Das Privatrecht regelt …
nach oben
II. Zur Bedeutung der Unterscheidung
Für die idF angeführten Unterscheidungskriterien gilt es zu bedenken, dass die Unterschiede in der Rechtswirklichkeit nicht so klar erkennbar sind, wie es hier idealtypisch ausgeführt wird.
So sind im Bereich der Behördenzuständigkeit auch für bestimmte Bereiche des öffentlichen Rechts – etwa das Strafrecht – ordentliche Gerichte zuständig. Das gleiche gilt für das Arbeits- oder Sozial(versicherungs)recht: Zuständigkeit der Arbeits- und Sozialgerichte (ASGG 1985). – Dennoch besitzt die angeführte Unterscheidung nicht nur didaktischen Wert!


Gliederung der Staatstätigkeit
Abbildung 1.18:
Gliederung der Staatstätigkeit
Generell lässt sich sagen, dass die Teilbereiche der Rechtsordnung, das öffentliche und das Privatrecht, durch ein unterschiedliches Ausmaß an Rechtsautonomie gekennzeichnet sind. Das öffentliche Recht enthält grundsätzlich zwingendes Recht, im Privatrecht dagegen spielt das nachgiebige Recht eine zentrale Rolle (vor allem im Schuldrecht!), wenngleich auch das Privatrecht weite Bereiche mit zwingendem Recht kennt: So insbesondere das Sachen-, Familien- und Erbrecht, das Schuldrecht bei Schutzgesetzen: zB MRG, KSchG, PHG, EKHG.
Rechtsautonomie
Die wichtigste Konsequenz der Unterscheidung liegt in der unterschiedlichen Behördenzuständigkeit bei der Rechtsdurchsetzung; also der Frage, welche staatliche Behörde zur Entscheidung einer Rechtssache zuständig ist. Man spricht von Rechtswegszulässigkeit; zB ordentliche Gerichte oder Verwaltungsbehörden. Unsere Verfassung kennt nämlich zwei verschiedene Typen von Organen / Behörden, die der Durchsetzung von (Rechts)Ansprüchen dienen: Gerichte und Verwaltungsbehörden.
Behördenzuständigkeit
Für den Bereich des öffentlichen Rechts (Verwaltung) sind Verwaltungsbehörden zuständig (Verwaltungsrechtsweg), für die Durchsetzung privatrechtlicher Angelegenheiten (sog „bürgerliche Rechtssachen”, § 1 JN) dagegen ordentliche Gerichte; ordentlicher oder Zivilrechtsweg. – Ansprüche aus hoheitlichem Handeln können nicht mit den Mitteln des Zivilrechts, sondern nur nach dem AHG durchgesetzt werden.
Faustregel
Rechtssprechungsbeispiel
SZ 19/155 (1937): § 1 JN, WRG 1934 – Zur Entscheidung über den Bestand und den Umfang einer Dienstbarkeit des Wasserbezugs- und Wasserleitungsrechts sind die ordentlichen Gerichte zuständig.
OGH 27. 3. 2001, 1 Ob 71/01z, JBl 2001, 580 = EvBl 2001/158: Eine Gemeinde fasste den Gemeinderatsbeschluss, einer Verkehrsfläche einen neuen Namen zu geben. Dieser entsprach der internationalen Marke eines Unternehmens, welches daraufhin auf Unterlassung klagte. – OGH: Das Benennen einer Verkehrsfläche durch den Gemeinderat ist ein Akt der Hoheitsverwaltung. Ein zivilrechtlicher Unterlassungsanspruch unter Berufung auf das Namensrecht oder wettbewerbsrechtliche Vorschriften (UWG) können dagegen nicht geltend gemacht werden. Ansprüche aus hoheitlichem Handeln können nur nach AHG geltend gemacht werden, was hier nicht erfolgt ist. (Vgl auch den Sri Chimnoy-Fall. – Was der OGH nicht sagt ist, dass auch das AHG keine Unterlassungsansprüche kennt, was eine bedenkliche Lücke bedeutet, die dringend geschlossen werden sollte, und er selbst bisher nicht bereit ist, diese Lücke trotz der Möglichkeiten des § 7 ABGB zu schliessen.)
Gerichte sind Organe der staatlichen Vollziehung, in denen unversetzbare, unabsetzbare und weisungsunabhängige (Art 82 ff B-VG insbesondere Art 87 B-VG) RichterInnen entscheiden, die nur zur Einhaltung der Gesetze verpflichtet sind. – Zweck ist der möglichste Schutz des Freiraums der privatrechtlichen Verhältnisse der Bürger vor Eingriffen des Staates, aber auch vor anderen – vielleicht mächtigern – (Privat)Personen.
Gerichte
Die ordentlichen Gerichte sind grundsätzlich für alle privatrechtlichen Ansprüche zuständig; sie entscheiden (in der Sache) durch Urteil.


Rechtsdurchsetzung in der RO (1)
Abbildung 1.19:
Rechtsdurchsetzung in der RO (1)


Rechtsdurchsetzung in der RO (2)
Abbildung 1.20:
Rechtsdurchsetzung in der RO (2)
Nach Art 94 B-VG ist die Justiz von der Verwaltung in allen Instanzen getrennt; danach ist es zB nicht gestattet einen Instanzenzug von einer Verwaltungsbehörde an ein Gericht und umgekehrt einzuräumen. – Beim Geltendmachen eines Anspruchs ist daher stets zu überlegen, ob er privatrechtlicher (Gericht) oder öffentlichrechtlicher Natur (Verwaltungsbehörde) ist. – Art 82 B-VG bestimmt zudem, dass alle Gerichtsbarkeit vom Bund ausgeht.
Verwaltungsbehörden sind (ebenfalls) Organe der staatlichen Vollziehung, in denen (überwiegend) weisungsgebundene Beamte entscheiden. – Sie sind ebenfalls an die Gesetze (Art 18 Abs 1 B-VG: Legalitätsprinzip), aber auch an die Weisungen der Behördenleiter und übergeordnete Behörden gebunden. – Verwaltungsbehörden sind grundsätzlich zur Erlassung öffentlichrechtlicher Rechtsakte zuständig. Sie entscheiden (in der Sache) durch Bescheid (= individueller Verwaltungsakt).
Verwaltungsbehörden
Es ist seit langem geplant, auch für die Rechtsdurchsetzung von Verwaltungsangelegenheiten – wie in Deutschland – auch in den unteren Instanzen Verwaltungsgerichte zu schaffen; als Höchstinstanz fungiert der VwGH. Eine Vorstufe zu einer durchgehenden Verwaltungsgerichtsbarkeit bilden die unabhängigen Verwaltungssenate (UVS) der Länder.
Eine weitere Konsequenz der Unterscheidung liegt in der Gesetzgebungskompetenz: Gemäß Art 10 Abs 1 Z 6 B-VG ist (nur) der Bund (= Gesamtstaat) und nicht die Länder zuständig zur Gesetzgebung in privatrechtlichen Angelegenheiten; „ Zivilrechtswesen”. Davon gibt es allerdings kleine Ausnahmen! Vgl Art 15 Abs 9 B-VG. – Zuständig für die Rechtssetzung von Privatrecht ist also der Bund (als Hoheitsträger). Demgegenüber ist die Rechtssetzungskompetenz für das öffentliche Recht zwischen Bund und Ländern geteilt.
Gesetzgebungskompetenz
Art 10 Abs 1 B-VG: Bundessache ist die Gesetzgebung und die Vollziehung in folgenden Angelegenheiten: 6. „Zivilrechtswesen ...”
Eine weitere Konsequenz der Unterscheidung zwischen öffentlichem und Privatrecht ist die Amtshaftung nach dem AHG 1948. Sie betrifft die Haftung des Staates in all seinen Erscheinungsformen (zB Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherungsträger) für seine Organe, wenn diese bei ihrem hoheitlichem Handeln rechtswidrig und schuldhaft Schaden zufügen. – Mehr zur Amtshaftung → KAPITEL 12: Die Amtshaftung ¿ AHG 1948.
Amtshaftung
Rechtssprechungsbeispiel
Beamter erlässt einen rechtswidrigen Bescheid (JBl 1987, 244); – Sparer einer (Privat)Bank erleiden Schaden, weil Bank in Konkurs geht und dabei die staatliche Finanzaufsicht des BMF Fehler gemacht hat; – oder: Polizei vergisst Inhaftierten im Gemeindearrest (JBl 1982, 263); – Sturz von Gendarmen beim Schifahren (SZ 55/82: hier wird Amtshaftung abgelehnt, weil die Verletzung einer anderen Person durch einen Gendarmen nur „gelegentlich” seiner Übung erfolgte); – Zolllagerdiebstahl (EvBl 1982/39); – Bundesheer: Handgranatenfall (EvBl 1976/233).
OGH 29. 1. 2002, 1 Ob 168/01i, JBl 2002, 390 = EvBl 2002/108: Gemeinnützige Bauvereinigung erwirbt eine Liegenschaft in der Nähe einer Chemiefabrik und räumt einer anderen gemeinnützigen Siedlungsgesellschaft ein Baurecht gegen einen jährlichen Bauzins ein. Auf Grund extremer Geruchsbelästigung wurde jedoch keine Wohnbauförderung gewährt, weshalb der Baurechtsvertrag aufgelöst wurde. Bauvereinigung klagt die Republik aus Amtshaftung auf Ersatz des entgangenen Bauzinses. – OGH: Unterlässt die Gewerbebehörde rechtswidrig und schuldhaft die Herstellung des auflagengemäßen und gesetzmäßigen (bewilligungsgemäßen) Gewerbebetriebs, dann entsteht Amtshaftung für die dadurch verursachten Schäden (auch Vermögensschäden) von Anrainern. OGH bejaht aber auch den Rechtswidrigkeitszusammenhang für Sekundärschäden; GewO als Schutzgesetz (§ 1311 ABGB) für mittelbare Vermögensschäden.
Geruchsbelästigung
nach oben
III. Die sog Privatwirtschaftsverwaltung
Öffentliche Gemeinwesen – zB Bund, Länder oder Gemeinden – handeln aber nicht immer hoheitlich, sie können sich auch auf die Ebene des Privatrechts begeben und sind dann wie andere Privatrechtssubjekte zu behandeln; vgl schon § 20 ABGB. Man spricht dann von Privatwirtschaftsverwaltung und grenzt diese von der Hoheitsverwaltung ab.
Ebene des Privatrechts
Die Unterscheidung ist wiederum wichtig für die Rechtsdurchsetzung / Zuständigkeit. Bei Akten der Privatwirtschaftsverwaltung unterliegen auch öffentliche Gemeinwesen etc der ordentlichen Gerichtsbarkeit. – Hier besteht grundsätzlich „Gleichheit” vor dem Gesetz! Allein manche Frage dieses Bereichs ist umstritten.
Zuständigkeit
Beispiel Beachte
nach oben
IV. Die „Grenzziehung” ist nicht immer klar
Privatrecht und öffentliches Recht treten im Rechtsleben vielfach verschachtelt auf, was klare Grenzziehungen erschwert.
Ein Gemisch aus öffentlichem und privatem Recht enthalten zahlreiche Gesetze, die als Sonderprivatrecht zu qualifizieren sind. Etwa das KartellG (als Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen), das UWG (als Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb), das BankwesenG (BWG) und BörsenG als Keimzellen eines sich bildenden Kapitalmarktrechts, Teile des Versicherungsrechts insbesondere das VersicherungsaufsichtG) und natürlich das Arbeitsrecht. – Übergänge zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht gibt es aber bspw auch beim einfachen Liegenschaftskauf: Zunächst Errichtung des Kaufvertrags (= Privatrecht) und der Aufsandungserklärung (= Privatrecht), der Käufer braucht für die Verbücherung aber auch eine Unbedenklichkeitsbescheinigung (des Finanzamtes), allenfalls eine grundverkehrsbehördliche Genehmigung, vielleicht auch (Liegenschafts)Teilungspläne, alles öffentlichrechtliche Akte / Bescheide. Auch der grundbücherliche Eintragungsbeschluss, überhaupt das Grundbuchsverfahren gehört – wie alles Verfahrensrecht – zum öffentlichen Recht. – Die nach erfolgtem (privatrechtlichem) Erwerb der Liegenschaft zu entrichtende Grundsteuer ist ebenfalls öffentliches Recht. – Die Paketbeförderung durch die Post gehörte früher zur Hoheitsverwaltung (EvBl 1969/391), nicht dagegen der Kauf von Briefmarken am Schalter oder die Personenbeförderung mit dem (Post)Bus. – Vertragsbedienstete des Staates stehen in einem privaten, Beamte in einem öffentlichrechtlichen Dienstverhältnis. Begründet wird das Rechtsverhältnis im ersten Fall durch Vertragsschluss (nach VBG 1948: neues Gesetz geplant), im zweiten durch öffentlichrechtlichen, also hoheitlichen Akt (Ernennung nach BDRG 1979). – Die Enteignung (vgl § 365 ABGB und Art 5 StGG 1868) ist ein Akt des öffentlichen Rechts; für die Festsetzung der privatrechtlichen Entschädigungshöhe ist aber der ordentliche Rechtsweg vorgesehen. – Die pflegschaftsgerichtliche Zustimmung (zB nach § 154 ABGB) ist ein öffentlichrechtlicher Akt, wenngleich die ordentlichen Gerichte dafür zuständig sind.
Beispiele
Beispiel
Wir trennen also heute das Privatrecht vom öffentlichen Recht und das hat – wie wir gesehen haben – gute Gründe. Aber das war nicht immer so. Mittelalterliche Rechtsquellen stellen eine mehr oder weniger intensive Mischung aller Rechtsbereiche dar; vermengt werden bspw Privatrecht, Strafrecht, Verfahrens- und Verwaltungsrecht etc. Sie bilden einen kaum zu trennenden Rechts-Mix; Beispiel: Sachsenspiegel ~ 1230.
nach oben
H. Stufenbau der Rechtsordnung
I. A. J. Merkls Stufenbaulehre
Die Lehre des öffentlichen Rechts hat die staatlichen Rechtsnormen nach ihrem „Rang” eingestuft und dabei eine vertikale Gliederung aller staatlichen Rechtsnormen – genereller wie individueller – vorgenommen. Dabei muss die jeweils rangtiefere Norm in einer ranghöheren Norm ihre Grundlage und Deckung finden.
Diese rein rechtliche und säkularisierte (also weltlich rationale) Stufenbautheorie A. J. Merkls hat sehr alte historische Vorläufer, die noch religiös-sakral vermittelt sind. In der Neuzeit ist das die Lehre des grossen Theoretikers des französischen Königtums Jean Bodin, dessen Vorläufer in der Legitimationslehre von Herrschaft (und idF von Recht) zurückreichen bis zur Emanationslehre des ägyptischen Sonnenmythos Echnatons. Dabei wurde der eigene Herrschaftsanspruch unmittelbar aus der göttlichen Spähre abgeleitet und nur der Herrscher war danach in der Lage, diese Kräfte an das Volk weiterzuvermitteln.
Vorläufer
E. Voegelin, Die politischen Religionen (19962).
Im Rahmen dieser Normeneinstufung sind drei „Zusammenhänge” zu unterscheiden:
Drei „Zusammenhänge”
• Die ranghöhere Norm regelt einerseits die (formale) Erzeugung / Entstehung der rangtieferen Norm; das ist der Entstehungs- oder Erzeugungszusammenhang
• und ist zudem inhaltliche Bedingung – iSv inhaltlicher / materieller Ausgestaltung – für rangtiefere Normen: Bedingungs- oder Inhaltszusammenhang;
• dazu tritt der Derogationszusammenhang: das betrifft das Abändern oder Aufheben niedrigerer oder zeitlich älterer Normen durch höhere oder zeitlich später erlassene. – Mehr zur Derogation → KAPITEL 11: Formelle und materielle Derogation.


Stufenbau der RO mit Landesrecht
Abbildung 1.21:
Stufenbau der RO mit Landesrecht
Die obersten Rechtsnormen (= Pyramidenspitze) machen das Verfassungsrecht aus (B-VG + sonstige Verfassungsgesetze oder einzelne Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen), dessen Zustandekommen ua eine 2/3-Mehrheit des Parlaments oder eines Landtags erfordert. – Den inneren Kern der Verfassung bilden jene leitenden Grundsätze, deren Abänderung zwingend einer Volksabstimmung bedürfen (Art 44 Abs 3 B-VG); sog Baugesetze der Verfassung: zB das demokratische, bundesstaatliche oder rechtsstaatliche Prinzip.
Verfassungsrecht


Verfassung als rechtliche Grundordnung (1)
Abbildung 1.22:
Verfassung als rechtliche Grundordnung (1)


Verfassung als rechtliche Grundordnung (2)
Abbildung 1.23:
Verfassung als rechtliche Grundordnung (2)


Verfassung als rechtliche Grundordnung (3)
Abbildung 1.24:
Verfassung als rechtliche Grundordnung (3)


Die Baugesetze der Verfassung
Abbildung 1.25:
Die Baugesetze der Verfassung
Lesen Sie auch den Beitrag: Die Verfassung und ihre Funktionen
 
Einfache Gesetze dürfen nur auf Grund eines verfassungsgemäßen Verfahrens erlassen werden und auch inhaltlich nicht dem Verfassungsrecht widersprechen; zur mittelbaren Einwirkung der Grundrechte auf das Privatrecht → KAPITEL 4: Was bedeutet ¿mittelbare¿ Einwirkung?. Dasselbe gilt für Staatsverträge. – Nur auf der Grundlage ordnungsgemäß zustandegekommener Gesetze können dann wiederum in der Normenhierarchie tieferstehende Rechtsakte „gesetzt” werden; dh: Verordnungen ergehen bspw in Ausführung gültiger Gesetze, wobei das Gesetz der Verordnung auch den inhaltlichen Rahmen vorzugeben hat, sonst liegt eine sog formalgesetzliche Delegation vor. – Gerichtliche Urteile und Bescheide von Verwaltungsbehörden (zB eine Verhaftung) ergehen dann wieder auf gesetzlicher oder Verordnungsgrundlage. Urteile und Bescheide werden auf ihre Gesetzmäßigkeit überprüft.
Einfache Gesetze etc
Auch individuell im Rahmen der Privatautonomie ausgehandelte Verträge (→ KAPITEL 5: Vertragsfreiheit und Privatautonomie) bewegen sich innerhalb des (gesetzlich) vorgegebenen oder zulässigen Rahmens (vgl § 879 ABGB) und können, wenn sie von einem Vertragspartner nicht eingehalten werden (pacta sunt servanda!), mit staatlicher Zwangsgewalt durchgesetzt werden (Zwangsvollstreckung/Exekution zB aufgrund eines rechtskräftigen Urteils), wodurch der dem Recht entsprechende Zustand hergestellt wird. Damit ist die unterste Stufe der Norm-”Pyramide” erreicht.
Verträge
Verstöße gegen diese Hierarchie, etwa gesetzwidrige Verhaftungen oder verfassungswidrig erlassene Gesetze oder gesetzwidrige Verordnungen, können mit eigenen Rechtsbehelfen bei den Höchstgerichten des öffentlichen Rechts bekämpft und vernichtet werden: zB Rechtsmittel zum Verwaltungs- (Art 129 ff B-VG) oder Verfassungsgerichtshof (Art 137 ff B-VG) oder Antrag des OGH auf Normenkontrolle an den VfGH; Rechtsschutz gegen individuelle Verwaltungsakte durch den VwGH; Instanzenzug der Gerichte. – Verträge oder Rechtsgeschäfte, die gegen ein Gesetz verstoßen, werden von den Gerichten kontrolliert und korrigiert; vgl § 879 Abs 1 ABGB → KAPITEL 11: ¿Gesetzliches Verbot¿.
Verstöße gegen diese Hierarchie
Literaturquelle
nach oben
II. Modifikationen der Stufenbaulehre: Supranationales Recht (EG) und österreichische Rechtsordnung
Literaturquelle
Österreich ist seit 1.1.1995 Mitglied der EU. Am 12.6.1994 hat das österreichische Volk den Beitrittsvertrag mit großer Mehrheit durch Volksabstimmung genehmigt und damit die von der Verfassung berufenen Organe ermächtigt, den Beitritt durch Staatsvertrag zu vollziehen.
Mit diesem Schritt wurde die bereits seit Österreichs Beitritt zum EWR (1.1.1994) bestehende Teilmitgliedschaft in eine Vollmitgliedschaft umgewandelt.
1. EU-Mitgliedschaft
Für das österreichische Staatsrecht und insbesondere auch für den Stufenbau der Rechtsordnung hatte die EU-Mitgliedschaft wichtige Folgen; so enthält unser B-VG seit der B-VG-Nov, BGBl 1994/1013 die neuen Art 23a–23f B-VG mit der Überschrift: „Europäische Union”.
Die folgenden Folien versuchen das Zusammenspiel zwischen nationalen und supranationalen Normen optisch einzufangen.


Detailstudie: EU-Recht im Stufenbau der RO
Abbildung 1.26:
Detailstudie: EU-Recht im Stufenbau der RO


EU-Recht im innerstaatlichen Stufenbau
Abbildung .26:
EU-Recht im innerstaatlichen Stufenbau
Der Stufenbau der österreichischen Rechtsordnung wurde durch den EU-Beitritt verändert: Die Spitze der Stufenpyramide stellen nach wie vor die Baugesetze (= Grundprinzipien) unserer (österreichischen) Bundesverfassung dar Zwischen die Baugesetze und das einfache (österreichische) Verfassungsrecht schiebt sich nunmehr das Primäre und Sekundäre EU-Gemeinschaftsrecht. Darauf folgt der Stufenbau in der bisherigen Ordnung.


Aufbau des EU-Rechts
Abbildung .26:
Aufbau des EU-Rechts
Primäres Gemeinschaftsrecht:
- Besteht aus den Gründungsverträgen (EG: Verträge von Rom und EU; Maastricht-Vertrag und neue Verfassung), späteren vertraglichen Änderungen und Ergänzungen, Beitrittsverträgen; zB Österreich 1994, Osterweiterung 2003
- Funktion: Verfassung der EU
Sekundäres Gemeinschaftsrecht:
- Verordnungen : schaffen für jeden EU-Bürger unmittelbar geltendes Recht
- Richtlinien : enthalten an die EU-Mitgliedstaaten gerichtete verbindliche Vorgaben
Richtlinien (RL) verpflichten demnach nicht einzelne Staatsbürger von Mitgliedsstaaten und ebensowenig existiert eine unmittelbare Wirkung nicht umgesetzter RL im Verhältnis zwischen Privatpersonen. Der EuGH lehnt in stRspr eine unmittelbare Wirkung staatlicherseits nicht umgesetzter RL zwischen europäischen Bürgern ab (keine sog horizontale Wirkung von RL), verweist aber die Bürger zum Ausgleich auf Schadenersatzansprüche gegen den säumigen Mitgliedsstaat. Dieser Ersatzanspruch ist sogar verschuldensunabhängig: Nachweise bei Krimphove, ÖJZ 1999, 321.
Literaturquelle
nach oben
2. Nationale, internationale, supranationale RechtsO
Neben der eigenen, nationalen Rechtsordnung, gehörte Österreich schon bisher der internationalen oder Völkerrechtsordnung an. Mit dem EU-Beitritt sind wir nunmehr auch Teil der supranationalen Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft / EU geworden. – Für das Privatrecht brachte die EU-Mitgliedschaft ua Anpassungsbedarf in verschiedenen Rechtsbereichen, etwa im Verbraucherrecht; zum KSchG: → KAPITEL 2: Verbraucherrecht ¿ Konsumentenschutz.
Die Verpflichtung der EU-Mitglieder, Richtlinien zeitgerecht und inhaltsgetreu / vollständig umzusetzen, führt zu Amtshaftungsansprüchen (auch Staatshaftung genannt) Geschädigter, wenn dies unterbleibt und daraus Schäden entstehen. Dies ist ständige Rspr des EuGH. Auch gegen Österreich wurden bereits Klagen anhängig; zB verspätete Umsetzung der Insolvenzsicherung bei Reiseveranstaltungsverträgen → KAPITEL 12: Der (Pauschal)Reiseveranstaltungsvertrag.
Mehr zur (Privat)Rechtsvereinheitlichung und der Europäischen Rechtsangleichung .
nach oben
I. Der Rechtsstaat
Motto: Aischylos, Fragment aus einem verlorenen Stück (5. Jhd v. C.)
Eine wichtige Aufgabe des Rechts ist es der Hybris der Macht Einhalt zu gebieten. Eine Einsicht, die Aischylos in seinen „Persern” ausgedrückt hat. Dabei läuft das Recht ständig Gefahr, von der Macht missbraucht zu werden, worauf M. Foucault (1926-1984) anspielt, wenn er sagt, dass „die Sprache der Macht das Recht” sei. Und es ist eine traurige Tatsache, dass das Recht vor der Macht immer wieder kapituliert und mit ihr gemeinsame Sache gemacht hat.
Aufgabe des Rechts
Was demokratische Gesellschaften und der Rechtsstaat nicht verkraften, ist jede Form von Gewalt, liegt doch der Hauptzweck des Rechts darin, ein gewaltsames Austragen sozialer Konflikte und überhaupt von Eigenmacht zu vermeiden. – Hier bestehen bislang kaum erkannte strukturell-alte Ligaturen zum Besitz(recht) des bürgerlichen Rechts, dessen Regeln, wie nichts anderes (im bürgerlichen Recht), Gewalt, Eigenmacht und Selbsthilfe schon auf tatsächlicher Ebene unterbinden wollen → KAPITEL 3: Missbilligung von Selbsthilfe und Eigenmacht. Die Besitzregeln erscheinen demnach (gemeinsam mit dem Sühnevertrag bei der Ablöse der Blutrache) als Vorläufer oder vielleicht besser, rechtliche Wegbereiter gewalteindämmender und damit proto-rechtsstaatlicher Strukturen. Und dies noch zu Zeiten, in denen demokratische Staatsformen realpolitisch noch in weite Ferne gerückt waren.
Kein gewaltsames Austragen sozialer Konflikte
Sowohl die Idee des Rechtsstaates, als auch das Eindämmen der Fehde / Blutrache und der Besitzschutz, letzterer entstanden als Gebot, während eines schwebenden Verfahrens keinerlei eigenmächtige Handlungen zu setzen oder Veränderungen – auch keine bloß faktischen – vorzunehmen, stammen aus dem alten Griechenland, von dem es die Römer übernommen haben.
Idee des Rechtsstaates
Ein erschütterndes Dokument der Auseinandersetzung zwischen Recht und Macht enthält der berühmte „Melierdialog” des Thukydides, in: Der Peloponnesische Krieg, V. Buch 85-116 (Reclam UB 1808, 2000). Die Athener vertreten dabei einen reinen Machtstandpunkt, das „Recht des Stärkeren”:
Melierdialog
Im Sommer 416 v. C. nehmen sie mit gewaltiger Übermacht die Insel Melos ein, und im Winter 416/415 ergeben sich die Verteidiger der bis dorthin gehaltenen Inselhauptstadt bedingungslos den Athenern. „Diese töteten alle erwachsenen Männer, die sie ergreifen konnten, die Kinder und Frauen verkauften sie in die Sklaverei. Sie selbst gründeten den Ort neu und schickten etwas später 500 Siedler dorthin.”
In der auch noch für uns lehrreichen Auseinandersetzung um Macht und Recht vertreten die Athener (aaO 89) den Standpunkt, dass das „Recht im menschlichen Verkehr nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Macht Stehende durchsetzen und die Schwachen sich fügen” müssen. Die im Dialog enthaltenen menschlich-weisen Warnungen der Melier an die Athener – Vers 98: „Damit [sc: mit einer solchen Argumentation] stärkt ihr doch nur eure bisherigen Feinde, und die, die es nie werden wollten, treibt ihr dazu, es gegen ihren Willen zu werden.” – sollten sich im Laufe des Peloponesischen Krieges, den Athen (gegen Sparta) verlor, noch bewahrheiten.
Recht – so verstanden – ist kein Instrument des Friedens und des gesellschaftlichen Ausgleichs, was schon Solon vorgelebt hatte, sondern eines brutaler Macht. Es ist bloß das „Recht des Stärkeren”, das sich an der Hybris orientiert, aber nicht mehr an dem zu tiefst griechischen Gedanken des Rechts als „Mitte”, was allein als gerecht empfunden wird.
„Recht des Stärkeren”
Literaturquelle
Rechtsstaat meint: Zähmung von Macht, Herrschaft und Politik durch das Recht(Hans Albert). Das ist eine niemals abgeschlossene Aufgabe. – Macht bedeutet nach Max Weber, „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen”. Im Rechtsstaat darf dies nur nach den Regeln des Rechts erfolgen. Rechtsstaat meint also: Herrschaft des Rechts, nicht aber von Gewalt oder Willkür. Diese „Herrschaft” des Rechts/rule of law muss eine kalkulierbare Herrschaft sein, deren Ergebnis voraussehbar ist, also Rechtssicherheit vermittelt. Sie steht im Gegensatz zur Willkürherrschaft, die legibus solutus, also losgelöst von Gesetz und Recht erfolgt. Rechts- und Verfahrenssicherheit und der Schutz individueller Rechte sind Grundwerte der europäischen Kultur.
Zähmung von Macht, Herrschaft und Politik
Die Idee des Rechtsstaates ist mit jener der „Verfassung” eng verbunden, beide stammen aus dem alten Griechenland. → KAPITEL 1: Verfassung als rechtliche Grundordnung (1).
Verfassung


Zum Begriff des Rechtsstaates
Abbildung 1.27:
Zum Begriff des Rechtsstaates
Erste Schritte in der Neuzeit in Richtung einer Proto-Rechtsstaatlichkeit wurden in Österreich und Preußen in der zweiten Hälfte des 18. Jhd gesetzt; ALR 1794 und WGGB 1797: Martinis „Einleitung”!.
Literaturquelle
Die Idee des Rechtsstaats wird auch dadurch gekennzeichnet, dass die BürgerInnen eines Staates auch gegen den Staat Rechte besitzen, also gegen ihn geschützt werden (zB Grundrechte, Amtshaftung) und nicht nur unter- und gegeneinander. – Der Staat soll auch seine Gewalt nur in rechtlicher Form und gestützt auf Gesetze ausüben, also nicht ohne gesetzliche / rechtliche Deckung handeln; Legalitätsprinzip: Art 18 Abs 1 B-VG. – Dazu kommen ein gesetzlich geregelter Instanzenzug, die Gewaltentrennung, die sog Richterprivilegien, die Kontrollfunktionen der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (VfGH, VwGH) ua rechtliche Errungenschaften.
Rechte gegen den Staat
Die Idee des Rechtsstaates ist eine europäische – genauer eine griechische – „Erfindung” und ein wesentlicher Teil der europäischen Demokratie. Der Rechtsstaat und die durch ihn erreichte Stärkung der politischen und bürgerlichen Rechte, ja der menschlichen Freiheit und der Gleichheit vor dem Gesetz, ist eine unverzichtbare abendländische Errungenschaft. – Heute ist es uns zur Aufgabe gemacht, über die Verbesserung und Aktualisierung nationaler Grund- und Freiheitsrechte hinaus, auch die Anerkennung von Menschenrechten weltweit durchzusetzen, zumal nationale Entwicklungen nicht mehr isoliert erfolgen können. Wir alle müssen nicht nur EuropäerInnen, sondern WeltbürgerInnen / Kosmopoliten werden, was nichts mit einem Verleugnen der Heimat zu tun hat.
Europäisches Erbe
Th. Öhlinger, Verfassungsrecht (20035); – B.-Ch. Funk, Einführung in das österreichische Verfassungs- und Verwaltungsrecht (200311); – H. Albert, Kritische Vernunft und menschliche Praxis (Reclam, Stuttgart, 1984); – St. Shute / S. Hurley (H), Die Idee der Menschenrechte (1993); – H. Hausmanninger, The Austrian legal system (1998); – Brand / Hattenhauer, Der Europäische Rechtsstaat. 200 Zeugnisse seiner Geschichte (UTB, 1994).