Verfassungsrechtliche Grundlagen
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Von Peter G. Mayr
Literaturquelle
Das österreichische Verfassungsrecht, dessen Hauptquelle das Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 idF 1929 (B-VG, BGBl 1930/1) bildet, sieht eine Gewaltenteilung auf zwei Ebenen vor: Einerseits die Trennung der Gesetzgebung von der Gerichtsbarkeit und Verwaltung und andererseits die Trennung der Gerichtsbarkeit von der Verwaltung (Art 94 B-VG). Diese Trennung bedeutet, dass eine Behörde nicht gleichzeitig Verwaltungsbehörde und Gerichtsbehörde sein darf und dass ein wechselseitiger Instanzenzug zwischen diesen Behörden unzulässig ist.
Gewaltenteilung
Eine Ausnahme vom Prinzip der Trennung von Justiz und Verwaltung bildet die so genannte sukzessive Kompetenz (oder Zuständigkeit), wie zB im Leistungsrecht der Sozialversicherung; §§ 67 ff ASGG. Hier entscheidet über Leistungsansprüche zunächst ein Verwaltungsorgan, zB die TirGKK. Diese Entscheidung kann jedoch im Streitfall bei einem Gericht angefochten werden. Durch die Anrufung des Gerichts tritt die verwaltungsbehördliche Entscheidung außer Kraft und die Rechtssache ist vom Gericht neuerlich zu entscheiden. Ein anderer Anwendungsfall besteht in manchen Bereichen des Wohnrechts, in denen das ordentliche Gericht (im Außerstreitverfahren; ) erst angerufen werden kann, wenn zuvor die (wohnrechtliche) Schlichtungsstelle der Gemeinde (= Verwaltungsbehörde) mit der Angelegenheit befasst worden ist oder diese Behörde säumig geworden ist; vgl §§ 39 f MRG.
Sukzessive Kompetenz
Hinsichtlich der Gerichtsbarkeit enthält das B-VG in den Art 82 ff weder erschöpfende noch besonders systematische Regelungen. Insbesondere ist nicht geregelt, welche Angelegenheiten überhaupt den Gerichten und welche den Verwaltungsbehörden zuzuweisen sind. Hier ist freilich darauf hinzuweisen, dass die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in Österreich seit 1964 Verfassungsrang genießt (BGBl 1964/59) und sich aus deren Art 6 die Verpflichtung ergibt, die Entscheidung über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen” einem „unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht” zu übertragen.
Art 6 EMRK
Geregelt ist im B-VG etwa, dass alle Gerichtsbarkeit vom Bund ausgeht (Art 82 Abs 1 B-VG), was bedeutet, dass die Bundesländer keine Gerichte einrichten dürfen und die Regelung von Gerichtsverfassung und Zuständigkeit der Gerichte durch Bundesgesetz zu erfolgen hat (Art 83 Abs 1 B-VG). Obwohl Art 91 Abs 1 B-VG bestimmt, dass „das Volk an der Rechtsprechung mitzuwirken hat”, spielt die Beteiligung von Laien im Zivilverfahren nur eine sehr untergeordnete Rolle Verfassungsmäßig gewährleistet ist das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art 83 Abs 2 B-VG) und das Prinzip der festen Geschäftsverteilung (Art 87 Abs 3 B-VG). Danach ist nach objektiven Kriterien im Vorhinein festzulegen, welcher Richter über welche Rechtssachen zu entscheiden hat. Als höchste Instanz in Zivilrechtssachen wird der Oberste Gerichtshof (OGH) bestimmt (Art 92 Abs 1 B-VG); Rechtsmittelbeschränkungen, die seine Anrufbarkeit im Einzelfall ausschließen, sind jedoch zulässig Hinsichtlich der Richter ist im B-VG deren Unabhängigkeit sowie deren Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit festgeschrieben (Art 87 ff B-VG).
Verfassungsbestimmungen
Eine Bindung der Richter an Präjudizien (frühere Entscheidungen gleicher Rechtsfragen durch andere Gerichte) besteht nicht, faktisch orientieren sich jedoch freilich insbesondere die Untergerichte an der Vorjudikatur, insbesondere der Rechtsmittelgerichte. – Gerichtsverhandlungen müssen öffentlich und mündlich sein, jedoch kann ein (einfaches) Gesetz davon Ausnahmen festlegen (Art 90 B-VG). Da – wie bereits erwähnt – der Europäischen Menschenrechtskonvention Verfassungsrang zukommt, genießen auch alle Verfahrensgarantien der EMRK, insbesondere jene des Art 6, verfassungsrechtlichen Schutz.
Präjudizien
Zu beachten ist auch die EU-Grundrechte-Charta (ABl 2000 C 364 S 1), insbesondere deren Kapitel VI über „Justizielle Rechte” (Art 47 ff).
Die Wahrung verfassungsrechtlich geschützter Rechte obliegt dem Verfassungsgerichtshof (VfGH). Parteien eines Zivilverfahrens können jedoch die Verletzung solcher Rechte durch Gerichte nur innerhalb des im jeweiligen Verfahren offenstehenden Instanzenzuges geltend machen; eine Anrufung des VfGH durch sie ist nicht möglich. Hegt jedoch der OGH oder ein Gericht zweiter Instanz gegen die Anwendung eines Gesetzes wegen einer möglichen Verfassungswidrigkeit Bedenken, so hat es einen diesbezüglichen Prüfungsantrag an den VfGH zu stellen (Art 89 Abs 2 B-VG). Bei Verletzung von Rechten, die durch die EMRK geschützt sind, können außerdem die entsprechenden Straßburger Organe (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) angerufen werden.