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Inhaltsverzeichnis
SCHNELL GENAU UMFASSEND
Kapitel 19
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I. Rechtsdurchsetzung in Europa
Von Alexander Wittwer
Literaturquelle
I. Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft
Das Funktionieren des gemeinsamen Markts erfordert, daß die Römischen Gründungsverträge mehr sind als bloße Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten. Im Fall C-26/62, Van Gend & Loos, Slg 1963, 1 stellte der EuGH erstmals klar, dass die EG eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt (supranationales Recht oder Rechtsordnung sui generis) zu deren Gunsten die Staaten ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben. Überdies sind nicht nur die Mitgliedstaaten Rechtssubjekte dieser neuen Rechtsordnung, sondern sollen auch einzelnen Bürgern Rechte verliehen und Pflichten auferlegt werden. Bürger müssen sich vor nationalen Gerichten auf Gemeinschaftsrecht berufen können; unmittelbare Anwendbarkeit des EU-Rechts. Widersprechendem innerstaatlichem Recht geht zudem das Gemeinschaftsrecht – dazu zählt auch die EuGH-Rspr – vor; sog Anwendungsvorrang; EuGH C-6/64, Costa/ENEL, Slg 1964, 1141.
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II. Der Europäische Gerichtshof
1. Allgemeines
Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) hat seinen Sitz in Luxemburg. Er ist für „die Wahrung des Rechts und die Auslegung und Anwendung des Vertrags” zuständig. Er setzt sich aus 15 Richtern zusammen und wird von 8 Generalanwälten unterstützt. Die Regierungen der Mitgliedstaaten ernennen einvernehmlich ihre Richter und die Generalanwälte. Eine Wiederernennung ist möglich. Der EuGH tagt in Permanenz und fällt seine Urteile mit einfacher Mehrheit. Interne Arbeitssprache ist Französisch, während die mündlichen Verhandlungen in der Verfahrenssprache – abhängig vom beteiligten Mitgliedstaat – abgehalten werden. Die Entscheidungen – samt den Schlussanträgen der Generalanwälte – werden in alle elf (nach der Osterweiterung 21) Amtssprachen der EG übersetzt und in der „Sammlung der Rspr des EuGH und des Gerichts erster Instanz der EU” (Slg) veröffentlicht. Seit 1989 ist dem EuGH das ebenfalls mit 15 Richtern – aber ohne Generalanwälte – besetzte Gericht erster Instanz (EuG) beigeordnet; vgl Art 220 ff EGV.
Nicht zu verwechseln mit dem EuGH sind: – der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, der für die Wahrung der EMRK zuständig ist;
• der EFTA-Gerichtshof in Luxemburg, der die Einhaltung des EWR-Rechts in Liechtenstein, Island und Norwegen überwacht.
• der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag, der für völkerrechtliche Streitigkeiten zwischen Staaten zuständig ist. Dort sind auch Kriegsverbrechertribunale für Ex-Jugoslawien sowie neuerdings ein Internationaler Strafgerichtshof (ICC: International Criminal Court) eingerichtet.
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2. Verfahrensarten und Zuständigkeit
Unterschieden werden:
Verfassungsrechtliche Verfahren, d.s. Streitigkeiten zwischen Mitgliedstaaten oder zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorganen sowie zwischen Gemeinschaftsorganen;
Verwaltungsrechtliche Verfahren, d.s. Streitigkeiten zwischen Gemeinschaftsorganen und Individuen und zwischen den Gemeinschaften und Gemeinschaftsbediensteten;
Sonstige Verfahren, bspw Vorabentscheidungs- oder Amtshaftungsverfahren;
Das EuG ist zuständig für die wichtigen verwaltungsrechtlichen Verfahren, also für Streitigkeiten zwischen Individuen und Gemeinschaftsorganen; Art 230 Abs 4 EGV. Eine Restzuständigkeit besteht für den EuGH. Die restriktive Handhabung in der EuGH-Rspr, wann natürliche und juristische Personen individuell und unmittelbar betroffen und damit klagsbefugt sind, führte zu einem beträchtlichen Defizit an Rechtschutz; vgl Arnull, CMLRev 2001, 7 ff, 52 der von einem Schandfleck („blot”) in der Landschaft des Gemeinschaftsrechts spricht. Obwohl sich seit dem Urteil des EuG vom 3.5.2002 (T-177/01) ein Wende und damit eine großzügigere Handhabung des individuellen Rechtschutzes abzeichnete, beharrte der EuGH im Urteil vom 25.7.2002 (C-50/00P) bedauerlicherweise auf seiner restriktiven Rspr.
Rechtsschutzdefizit
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3. Vorabentscheidungsverfahren
Das reibunglose Zusammenwirken von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht wird durch das Vorabentscheidungsverfahren nach Art 234 EGV gewährleistet. Die konkrete Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Einzelfall bleibt danach dem nationalen Richter überlassen; dem EuGH obliegt es aber, das Gemeinschaftsrecht auszulegen und damit entscheidungserhebliche Vorfragen für alle Mitgliedstaaten einheitlich abzuklären. Vom nationalen Richter formulierte Fragen zum Gemeinschaftsrecht werden vom EuGH verbindlich entschieden. Das Verfahren vor dem nationalen Gericht wird bis zur EuGH-Entscheidung unterbrochen; § 90a GOG.
Letztinstanzliche Gerichte müssen bei einer Auslegungsfrage vorlegen; sog obligatorische Vorlage. Jedes andere Gericht ist dazu berechtigt; sog fakultative Vorlage. Auslegungsfragen bestehen immer dann, wenn Anwendung und/oder Auslegung von EG-Recht nicht offenkundig sind. Dabei sind alle (!) elf Sprachfassungen des EG-Rechts zu berücksichtigen; grundlegend EuGH C-283/81, CILFIT, Slg 1982, 3415 (sog acte clair-Doktrin). Dies wird von nationalen Gerichten oft verkannt; verfehlt etwa OGH (15.7.1999, 6 Ob 123/99b) zur gesellschaftsrechtlichen Sitztheorie gem § 10 IPRG. Der OGH hätte mE diesen Fall an den EuGH vorlegen müssen. Vgl zur dieser IPR-Problematik nun das bahnbrechende Urteil vom 5.11.2002 (C-208/00, Überseering, Slg 2002, I-9919).
Obligatorische und fakultative Vorlage
Was ein Gericht iSd Art 234 EGV darstellt und damit vorlageberechtigt ist, wird vom EuGH autonom interpretiert. Nicht darunter fallen bspw die österreichischen Grundbuchs- (C-178/99, Salzmann I, Slg 2001, I-4421) und Firmenbuchgerichte (C-182/00, Lutz und C-447/00, Holto), da deren Tätigkeit keine Rechtsprechung sei; dazu Wittwer, ELR 2002, 114 ff und Burgstaller, ecolex 2002, 219 ff.
Rechtssprechungsbeispiel
Der EuGH befasste sich schon mehrere Male mit der Frage, inwieweit das Grundverkehrsrecht österreichischer Bundesländer gegen die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art 56 EGV verstößt. In den Urteilen Konle (Slg 1999, I-3099) zum Tiroler und Reisch (Slg 2002, I-2157) zum Salzburger und in der Rechtssache Salzmann II (15.5.2003, C-300/01) zum Vorarlberger Grundverkehrsrecht war der EuGH der Ansicht, dass das Genehmigungsverfahren für den rechtsgeschäftlichen Erwerb von Baugrundstücken der Kapitalverkehrsfreiheit widerspricht; dazu Wittwer, Quo vadis österreichisches Grundverkehrsrecht?, ELR 2003, 242 ff. Zum Grundverkehr mit land- und forstwirtschafltichen Grundstücken in Vorarlberg jüngst EuGH vom 23.9.2003, C-452/01, Ospelt.
Der EuGH (C-168/00, Leitner, Slg 2002, I-2631) entschied auf Vorlage des LG Linz, dass „entgangene Urlaubsfreude” als immaterieller Schaden – obwohl in Österreich bislang gesetzlich nicht vorgesehen – zu ersetzen ist. Das LG Linz ZVR 2002/69 hat daraufhin EUR 400,- zugesprochen, während in einem anderen Verfahren das HG Wien einen Ersatzanspruch wegen entgangener Urlaubsfreude ablehnte. Diese E verkennt das Gebot europarechtskonformer Auslegung; vgl Wittwer, ELR 2002, 285 ff und M.M. Karollus, JBl 2002, 566 ff.
§ 2 Abs 1 UVG bestimmt, dass staatliche Vorschüsse auf den Unterhalt von Kindern nur dann gewährt werden dürfen, wenn die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichischer Staatsbürger oder staatenlos sind. Alle anderen Kinder (ausländische oder österreichische, die im Ausland leben) fallen nicht darunter, weshalb österreichische Gerichte solche Begehren stets abgewiesen haben. Nach zwei Vorlageverfahren des OGH hat der EuGH entschieden, dass sowohl Kinder deutscher Staatsangehörigkeit, die in Österreich leben, Anspruch nach dem UVG haben (C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261), als auch ein österreichisches Kind, das mit seiner Mutter in Frankreich lebt (C-255/99, Humer, Slg 2002, I-1205). Der EuGH erblickte in diesen Fällen einen Verstoß von § 2 UVG gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die VO 1408/71 zur sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer.
Statistik: Österreichs Gerichte sind überaus vorlagefreudig. Von den 237 Vorabentscheidungsverfahren im Jahre 2001 stammten die meisten – nämlich 57 – aus Österreich. Aus der BRD kamen 53, aus Italien 40, aus Großbritannien 21 und aus Frankreich gar nur 15. Im Durchschnitt dauert ein Vorabentscheidungsverfahren 22,7 Monate.
Rechtstatsachen
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III. Europäisches Zivilprozessrecht
Literaturquelle
1. Allgemeines
Das Brüsseler Übereinkommen (EuGVÜ) aus dem Jahre 1968 stimmt im wesentlichen mit dem in den EFTA-Staaten geltenden Lugano Übereinkommen (LGVÜ) aus dem Jahre 1988 überein. Mit dem Amsterdamer Vertrag 1997 bekam die EG die Kompetenz, einheitliche Regelungen im internationalen Zivilprozess- und Privatrecht zu erlassen; Art 65 EGV. Eine auf dieser Grundlage erlassene und am 1.3.2002 in Kraft getretene Verordnung (EuGVO) ersetzte das EuGVÜ samt einigen Neuerungen.


Rechtsakte zum Europäischen Zivilprozessrecht (Auswahl)


• VO 44/2001/EG über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (sog „Brüssel I”-VO = EuGVO, ersetzt das EuGVÜ), ABl 2001 L 12/1, in Kraft seit 1.3.2002
• VO 1347/2000/EG über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Volltreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder (sog „Brüssel II”-VO), ABl 2000 L 160/19, in Kraft seit 1.3.2001
• VO 1346/2000/EG über Insolvenzverfahren, ABl 2000 L 160/1, in Kraft seit 31.5.2002
• VO 1206/2001/EG über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- und Handelsachen, ABl 2001 L 174/1, in Kraft seit 1.7.2001
• VO 1348/2000/EG über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten, ABl 2000 L 160/37, in Kraft seit 31.5. 2001
• Entscheidung 2001/470/EG des Rates über die Errichtung eines Europäischen Justiziellen Netzes für Zivil- und Handelssachen, ABl 2001 L 174/25
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2. Grundregeln der Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung (EuGVO)
Diese VO regelt
• einerseits die Zuständigkeit von Gerichten im Erkenntnisverfahren in grenzüberschreitenden Zivil- und Handelssachen (Kapitel II der VO)
• und anderseits die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen (Kapitel III der VO).
Grundsätzlich ist das örtlich zuständige Gericht am Wohnsitz des Beklagten zuständig; Art 2 EuGVO.
Beispiel
Davon gibt es zahlreiche Ausnahmen:
• Die Parteien vereinbaren die Zuständigkeit eines anderen Gerichts; Art 23 EuGVO.
• Die EuGVO kennt auch besondere Zuständigkeiten (Wahlgerichtsstände): bspw den Erfüllungsort des Vertrages (Art 5 Z 1), den Wohnsitz des Unterhaltsberechtigten bei Unterhaltssachen (Art 5 Z 2) oder den Ort des schädigenden Ereignisses bei deliktischen Klagen (Art 5 Z 3).
• In Versicherungs-, Verbraucher- und Arbeitsrechtssachen soll die schwächere Partei dadurch geschützt werden, dass grundsätzlich die Gerichte an deren Wohnsitz zuständig sind; Art 8 – 21 EuGVO.
• Eine ausschließliche Zuständigkeit besteht bspw bei Streitigkeiten an Immobilien; Art 22 EuGVO
Das Vorabentscheidungsverfahren gem Art 234 EGV an den EuGH steht – zur einheitlichen und übernationalen Auslegung der EuGVO – nur solchen nationalen Gerichten offen, deren Entscheidungen nicht mehr angefochten werden können; Art 68 EGV.
Rechtssprechungsbeispiel
Der OGH legte dem EuGH die Frage vor, ob die Unterlassungsklage des Vereins für Konsumenteninformation nach den §§ 28, 29 KSchG als deliktische Klage iSd Art 5 Z 3 EuGVÜ (entspricht Art 5 Z 3 EuGVO) anzusehen ist. Im Urteil vom 1.10.2002 C-167/00, VKI/Henkel, Slg 2002, 8111 bejahte dies der EuGH. Daher können nun auch Unterlassungsklagen von Verbänden iSd §§ 28, 29 KSchG gegen Ausländer in Österreich eingebracht werden.
Der OGH fragte den EuGH, ob der Anspruch aus § 5j KSchG (Gewinnzusagen) gegen ein dt. Versandhandelsunternehmen am Wohnsitz des Verbrauchers in Österreich geltend gemacht werden kann, was der EuGH im Hinblick auf Art 13 Z 3 EuGVÜ bejahte (C-96/00, Gabriel, Slg 2002, I-6367). Im Vergleich zu Art 13 Z 3 EuGVÜ geht der neue Art 15 Abs 1 lit c EuGVO noch viel weiter und lässt schon bei jeder Geschäftstätigkeit eines Unternehmers im Wohnsitzstaat des Verbrauchers eine Klage an dessen Wohnsitz zu.
Ein weiteres Verfahren wegen § 5j KSchG ist vom OLG Innsbruck im Hinblick auf Art 5 Z 3 EuGVÜ anhängig gemacht worden (C-27/02 Petra Engler/Janus Versand).
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