Recht und Gerechtigkeit
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Nachdenken über Recht bedeutet, nachzudenken über den Menschen, seine Ziele, Wünsche und Hoffnungen, aber insbesondere auch über den Zusammenschluss der Menschen in Staat und Gesellschaft, was heute wie früher nur möglich ist, wenn das Individuum Rechte an diese übergeordnete Gemeinschaft abtritt und der Staat sich grundsätzlich als Rechts-Staat (→ KAPITEL 1: Der Rechtsstaat) versteht. Denn das Recht ordnet und vermittelt zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, den Einzelnen und der Gesellschaft.
Nachdenken über Recht
Interesse am Recht verlangt daher nach lebendiger Anteilnahme an Staat, Gesellschaft und Politik, was nicht gleichbedeutend damit ist, selbst politisch tätig zu sein. Diejenigen aber, die mit dem Staate und dem von und in ihm geschaffenen Rechte (beruflich) zu tun haben, sollten sich auch dafür interessieren, was das Recht (eigentlich) ist, wie es entsteht, sich wandelt, angewandt wird und vergeht; kurz: welche Aufgaben es im Staate wahrzunehmen hat und was es für die Einzelnen bedeutet. Mit diesem Hinterfragen von Recht sind wir bei der Rechtsphilosophie angelangt, die über diesem Kapitel steht und die nicht zufällig aus zwei Wortteilen zusammengefügt wurde: „RechtundPhilosophie”. Rechtsphilosophie ist nichts anderes, als Philosophie, die auf das Recht angewandt wird; ist logisches, analytisches, aber auch (rechts)historisches, (rechts)vergleichendes und – nicht zuletzt – rechtspolitisches (Nach)Denken über das Recht. Es ist ein Rechtsdenken in philosophischer Tradition, also einer Tradition von der die Rechtswissenschaft im antiken Griechenland ihren Ausgang genommen hat. Philosophie, als Liebe zur Weisheit und zur Erkenntnis von allem, was für den Menschen von Bedeutung ist, meint, auf das Recht angewandt, dessen Regeln und Abläufe, die „Gesellschaft” erst möglich machen, zu verstehen, zu hinterfragen und, wenn nötig, zu kritisieren, um sie verbessern und umgestalten zu können. Man könnte auch sagen: Rechtsphilosophie ist das Gewissen, das sokratische Daimonion, des Rechts; oder sollte es doch sein. Rechtsphilosophie hat sich nämlich immer wieder Klarheit darüber zu verschaffen, ob das Recht einer Gemeinschaft jene hohe Aufgabe erfüllt, auf die schon kurz hingewiesen wurde: Gesellschaft möglich zu machen, was stets auch bedeutet, die Einzelnen zu fördern, um ihre Menschwerdung, als Ziel unseres Menschseins, angemessen zu unterstützen. Sie hat aber auch Anteil zu nehmen an der rechtlichen Gestaltung der Gesellschaft und das wissenschaftliche Rechtsdenken als Ganzes zu leiten, wie uns das die Griechen der Antike als Begründer des europäischen Rechtsdenkens gelehrt haben. Rechtsphilosophie sollte sich daher auch zu aktuellem Geschehen äußern. Und zwar grundsätzlich zu allem, was in einer Gesellschaft geschieht, das von gewisser Bedeutung ist. Vor allem aber zu rechtlichen und politischen Vorgängen in einer Gemeinschaft. Zum Wohle des Ganzen und seiner Teile. Denn nahezu alles, was in einer Gesellschaft geschieht, wirkt auf jene Regeln ein, die eine Gesellschaft zusammenhalten, konstituieren, eben das Recht. Jüngste Entwicklungen erzwingen dies beinahe; Stichworte dazu müssen hier genügen: akzelerierter gesellschaftlicher Wandel und eine zunehmende Bedrohung der Umwelt, der Arbeitswelt, neue Möglichkeiten und Gefahren der Bio- und Informationstechnologie, aber auch Gefährdungen von Demokratie und Rechtsstaat durch eine rücksichtslose Machtpolitik auf nationaler wie auf internationaler Ebene uvam. Denn wir alle wissen, dass Entwicklungen nicht immer nur zum Guten führen (können), weil der Mensch nicht nur selbstlos und gemeinschaftsförderlich denkt und handelt, sondern auch selbstsüchtig persönliche oder Gruppenziele verfolgt. Macht, Einfluss, Geld, aber auch das Recht und seine Möglichkeiten, stellen für ihn (und alles was er geschaffen hat), immer wieder Verlockungen dar, die das Ganze, wie seine Teile gefährden und manipulieren können. Aufgabe der Sozialnormen in einer Gesellschaft, zu denen das Recht gehört (→ KAPITEL 1: Sitte / Brauch, Moral <-> Recht: Sozialnormen), ist es, diese gesellschaftlichen Gefährdungen von Teil und Ganzem zu erkennen und idF dagegen ankämpfen zu können. Vor einem solchen Hintergrund nimmt es sich anders aus, wenn ein Finanzminister von einer mächtigen und vermögenden Interessenvereinigung eine hohe Summe erhält, um damit seine Homepage zu finanzieren, mag dafür auch ein eigens gegründeter Verein zuständig sein.
Rechtsdenken und Philosophie
Was im alten Griechenland und in Rom, die uns in vielem immer noch als Vor-, aber auch als Zerrbild dienen können, noch selbstverständlich war – nämlich sich handelnd für die Gemeinschaft einzusetzen, ist es heute längst nicht mehr, weshalb es in Erinnerung gerufen werden soll. Denn von einem Rückzug in den privaten Schmollwinkel profitieren gerade jene, die meinen den Staat rücksichtslos für ihre Zwecke instrumentieren und ausbeuten zu können. – Ratsam für den Kontakt mit der nicht nur für Juristen/innen wichtigen Rechtsphilosophie erscheint auch die Lektüre von Primärliteratur. Daher die Hinweise auf Platon, Aristoteles, Kelsen und andere.
Sich für die „Gemeinschaft“ einsetzen
Wichtig erscheint es aber auch, die Anliegen der Rechtsphilosophie ins Privatrecht zu tragen und hier mehr als bisher über grundlegende Fragen des Rechts nachzudenken. Zu fordern ist daher eine „ Privatrechtsphilosophie“, denn auch das Privatrecht sollte sich nicht mit blosser Rechtsdogmatik und steriler Systematik zufrieden geben. Ein Schuss Ideologiekritik kann dabei ebensowenig schaden, wie – über die Philosophie hinaus, Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung und eine sozialwissenschaftliche Betrachtung privatrechtlicher Fragen. – Auch didaktisch wäre das von Vorteil, zumal dadurch die Relativität rechtlicher Lösungen oder gar von Theorie besser erkannt und dadurch Kritik und Diskussion gefördert werden können. Diskursives Denken wird in der juristischen Ausbildung ohnehin vernachlässigt. Nur auf die verba magistri zu schwören ist langweilig. Nicht nur für Studierende.
Privatrechts-Philosophie
A. Das Ziel des Rechtsdenkens – Was will Rechtsphilosophie?
I. Platon und Martini
Von Platon (Politeia 444c) stammt der schöne Vergleich, dass die Gerechtigkeit für die Seele das sei, was die Gesundheit für den Leib darstellt, und Ungerechtigkeit für die Seele das bedeute, was Krankheit für den Leib.
Recht und Gerechtigkeit haben aber auch zu tiefst mit den Grundwerten Freiheit, Gleichheit (vor dem Gesetz) und dem Schutz Schwacher zu tun. Erst ihr sinnvolles Verknüpfen weist den Weg zu einer zeitgemäßen Annäherung an Gerechtigkeit. Anwendung und Verständnis des Rechts leben zudem davon, dass eine korrekte Rechtsanwendung, unabhängig von der Person und der Sache, um die es geht, gesichert ist. Das meinte Karl Anton von Martini, wenn er – was nicht als Härte oder Unmenschlichkeit missdeutet werden darf – ausführte:
„Die Gesetze hingegen sind taub und unerbittlich; bey ihnen gilt kein Ansehen der Person; sie schützen den Schwachen gegen den Stärkern; von ihnen hat der Mächtigste keine Schonung zu erwarten.” (Allgemeines Recht der Staaten. Zum Gebrauch der öffentlichen Vorlesungen in den k. k. Staaten; Wien, 1799. Übersetzung der lateinischen Ausgabe aus dem Jahr 1773.)
Schon für die sehr staatstragend denkenden alten Ägypter diente der Staat vornehmlich dazu, um unter den Menschen Recht und Gerechtigkeit zu verwirklichen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Nur unsere Vergesslichkeit ist grösser geworden.
Dazu J. Assmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie (es 2157, 2000).
Heute wird in der juristischen Ausbildung zu wenig Wert auf diese grundlegenden Zusammenhänge gelegt, weil man glaubt, mit ökonomischem Wissen und Werten, die durchaus ihren Stellenwert in der Ausbildung haben sollen, das Auslangen finden zu können. Aber eine nur ökonomische Ausrichtung des juristischen Denkens verkennt die Aufgabe der Juris-Prudenz und verrät die Rechtsidee.
Juristen/innen brauchen mehr als „Ökonomie“
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II. Rechtsphilosophie
Das Vorwort des anregenden Bändchens von Theo Mayer-Maly, „Rechtsphilosophie” (2001), beginnt mit der Feststellung:
Rechtsdenken – eine unendliche „Geschichte“
„In der Rechtsphilosophie geht es um die Frage, warum Recht gilt und weshalb ein bestimmter Satz als Rechtssatz gelten soll. Sie ist Nachdenken über Rechtliches. Ihr Argumentationshorizont wird nicht einem bestimmten geltenden Recht, sondern der Vernunft und der Erfahrung entnommen.”
Das lässt erahnen, dass das Thema Rechtsphilosophie eine unendliche Geschichte” ist. Was aber nicht entmutigen sollte, mag man sich dabei auch wie in dem von Augustinus stammenden Vergleich als kleiner Junge fühlen, der, am Meeresstrande sitzend, das Meer ausschöpfen will. – Das Kapitel will Interesse für grundlegende Fragen des Rechts wecken, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nach Einsteins Zielsetzung soll dabei alles so einfach wie möglich gesagt werden, aber eben nicht einfacher. Rechtsphilosophie verlangt Hingabe an das Rechtsdenken und als Teil der Philosophie, auch Liebe zu deren Fragestellungen. Damit aber auch zur Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung, Rechtstatsachenforschung und Rechtspolitik, also Disziplinen aus denen die europäische Rechtswissenschaft im antiken Griechenland entstanden ist.
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B. Gerechtigkeit und Gesellschaft – Die ‚Idee’ der Gerechtigkeit als ‚Rechtsidee’
I. Zum Gerechtigkeitsverständnis
Gerechtigkeit spielt wenigstens dem Namen nach in allen möglichen Bereichen moderner Gesellschaften eine mehr oder minder wichtige Rolle: Die Ökonomie spricht – oder sollte es tun – von Verteilungsgerechtigkeit oder einem gerechten Steuersystem; auch in der Gesundheitspolitik wäre Gerechtigkeit gefordert; zB keine Zweiklassenmedizin, ein Recht auf Gesundheit für alle, nicht nur für Zusatzversicherte und Reiche. Und überhaupt wird, wenn auch immer seltener, gesellschaftspolitisch soziale Gerechtigkeit eingemahnt. Auf die Gerechtigkeit zurückgegriffen wird mitunter auch in den Debatten um eine angemessene Entwicklungshilfepolitik zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden, zwischen Jung und Alt (sog Generationenvertrag, Renten- und Arbeitsmarktproblematik) oder im Rahmen der Bemühungen um Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern.
Erscheinungsformen der Gerechtigkeit
Gerechtigkeit ist daher nicht nur eine „Frage” der Rechtswissenschaft, sondern ein gesamtgesellschaftliches Anliegen, wenngleich viele dieser Fragestellungen darauf hinauslaufen, die jeweils eingeforderte Maßnahme mittels rechtlicher Programme umzusetzen. – Darin liegt eine besondere wissenschaftliche Verantwortung der Rechtswissenschaft als „Umsetzungsdisziplin“ für die Gesellschaft.
Auch andere Disziplinen interessieren sich für die Gerechtigkeit
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II. „Rechtsidee” und „Rechtsbegriff”
Wenn wir heute von der „Rechtsidee” sprechen und damit die Orientierung des Rechts(denkens) am hohen Ziel der Gerechtigkeit meinen, sollten wir uns des Umstandes bewusst sein, dass diesem Denken Platons Ideenlehre zugrunde liegt, die in diesem Feld ihre Aktualität bewahren konnte. Auf das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit passt in der Tat Platons bildhafter Vergleich im 7. Buch seiner „Politeia” (Höhlengleichnis) gut, wonach sich „Idee” und ihr „reales Abbild” in der Wirklichkeit unterscheiden und das Abbild, das Urbild nie zu erreichen vermag. – So verhält es sich auch mit dem Recht und der Rechtsidee: Menschliches Recht vermag bestenfalls gute Annäherungswerte an die Rechtsidee zu erreichen, nicht aber diese selbst, denn das würde bedeuten, eine absolute Gerechtigkeit verwirklichen zu können. Das aber erscheint – jedenfalls bis auf weiteres – unmöglich. Denn wie G. Radbruch formulierte:
Rechtsidee und Rechtswirklichkeit
„Recht ist Menschenwerk und kann wie jegliches Menschenwerk nur aus seiner Idee begriffen werden”; Rechtsphilosophie 11.
Gustav Radbruch (1878-1949), ein noch heute interessanter und bedeutender Rechtsdenker, schloss daraus, dass „eine zweckblinde, d. h. wertblinde Betrachtung eines Menschenwerks … unmöglich, und so auch eine wertblinde Betrachtung des Rechts oder irgendeiner einzelnen Rechtserscheinung” ausscheide; ebendort. – Radbruch geht auch auf den Rechtsbegriff ein, der im Zusammenhang mit der Rechtsidee von Bedeutung ist und meint, dass er „nicht anders bestimmt werden [könne] denn als die Gegebenheit, die den Sinn hat, die Rechtsidee zu verwirklichen. Recht kann ungerecht sein (summum ius – summa iniuria), aber es ist Recht nur, weil es den Sinn hat, gerecht zu sein.” Die Rechtsidee selber sei das „konstitutive Prinzip” und zugleich „der Wertmassstab für die Rechtswirklichkeit”; aaO 12. Die Rechtsidee sei eine Schöpfung menschlich „bewertenden Verhaltens”. – Damit wird die Rechtsidee geschickt von praepositiven-transzendentalen Bezügen freigehalten, ohne sie deshalb einem positivistischen Verständnis auszuliefern.
Rechtsidee und Rechtsbegriff
Andere verstehen unter Rechtsidee, die Lehre vom „richtigen Recht”; vgl K. Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit (1971), der dabei auf älteres Denken zurückgreift. Es geht dabei um die „Suche nach Maßstäben, anhand derer wir beurteilen können, ob das positive Recht (das heutigentags meist als Gesetzesrecht in Erscheinung tritt und in ‚Geltung’ steht) gut oder schlecht, bewahrungs- oder verbesserungswürdig, überhaupt ‚wahres’ Recht und nicht vielmehr bitteres Unrecht, ja darum womöglich null und nichtig ist”; Engisch, aaO 187. Aus einer negativen Beurteilung wäre wenigstens – so Engisch – eine Reformforderung ableitbar, die dann ebenfalls der Rechtsidee zugehörte:
Lehre vom „richtigen Recht”
„Nur ein extremer ‚Positivismus’, wie er heute kaum noch anzutreffen ist …, wird die Frage nach der Rechtsidee, … als müßig, sinnlos, für den Juristen uninteressant und höchstens den Politiker angehend betrachten.”
Engisch meint auch, dass die Geschichte des philosophischen Nachdenkens über das richtige Recht mit der Geschichte der Rechtsphilosophie identisch sei; aaO 189. Allein es geht wohl heute zu weit, ein solches Denken nur der Rechtsphilosophie zu überlassen und das einfache juristische Denken davon zu dispensieren.
Schon Studierende der Rechtswissenschaften sollten daher diese beiden – wertungs- und erwartungsmäßig stark aufgeladenen – Begriffe, die nicht nur für die Rechtsphilosophie von Bedeutung sind, kennen, um sie im Bedarfsfall argumentativ verwenden zu können. Das gilt für die (Rechts)Politik ebenso, wie für das praktische Rechtsleben als Verwaltungsbeamter, Anwalt, Notar oder Richter. Und selbstverständlich ist auch die Rechtswissenschaft gefordert, immer wieder Überlegungen zur Rechtsidee anzustellen. – Das lehrt uns, dass die Rechtsphilosophie auch einen praktisch-argumentativen Anwendungsbereich besitzt. Auch in der Politik und der Rechtspraxis vermag uns das Begriffspaar „Rechtsidee” und „Rechtsbegriff” eine Orientierungshilfe zu sein. Beide Begriffe helfen auch dabei, die Zielsetzungen und die funktionale Umsetzung des Rechtsdenkens einer Epoche zu ergründen; etwa den Rechtsbegriff und die Rechtsidee im antiken Griechenland oder in Rom oder zur Zeit der großen Privatrechtskodifikationen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Praktisch-argumentativer Anwendungsbereich der Rechtsphilosophie
Die antike griechische Rechtsidee ist Teil eines bereits reifen Menschen- und Weltbildes und im Spannungsfeld zwischen Einzelnem und Gemeinschaft angesiedelt. Sie kann weder als idealistisch überhöht, noch als bloß positivistisch nüchtern angesehen werden. Vielmehr versteht sie den Menschen als Teil der Gemeinschaft und ist bestrebt, diese um des Menschen willen zu stärken. Gegründet wird die griechische Rechtsidee seit Solon auf der unverrückbaren Freiheit aller (Polis)Bürger, zu der sich früh – nämlich schon seit Solon – für den Bereich des Privatrechts die bürgerliche Rechtsgleichheit ( Isonomia) gesellt; und in der Folge die Weichen in Richtung politische Gleichheit und Teilhabe am politischen (Staats)Geschehen stellt. Das Recht duldet seit dieser Zeit weder Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit, noch der Ehre ( Hybrisklage!), zumal ein solches Verhalten nicht nur für den Einzelnen nachteilig, sondern auch für die Gemeinschaft der Polis gefährlich und zerstörerisch ist. Ein Aspekt der heute kaum mehr verstanden wird. Der Schutz der Menschenwürde ist seit der Mitte des 5. Jahrhunderts v. C. (Perikles) weit entwickelt und umfasst, anders als meist kolportiert, alles Menschliche (!): Freie wie Sklaven, Frauen und Männer, Kinder und Alte, Griechen und Fremde sowie Arm und Reich. Mögen vielleicht auch noch Anspruch und Wirklichkeit noch nicht zur Deckung gelangt sein. Die junge athenische Demokratie benötigte diesen egalitären Schutz, mag er auch schon nur wenige Jahrzehnte später zunächst ins Wanken geraten und in der Folge vorübergehend wieder fast ganz verloren gegangen sein. – Und die griechische Idee vom Recht erfasst bspw nicht nur den Ehrenschutz lebender Personen, sondern auch den Verstorbener; latinisiert: De mortuis nihil nisi bene. Das ist bereits solonisch. Schon die griechische Rechtsidee sichert somit die fundamentalen Rechtswerte Freiheit und Gleichheit, wozu früh die politische Teilhabe am Staatsgeschehen kommt, die schließlich Demokratie ermöglichte. – Bereits damals standen Weltbild, Menschenbild und Menschenwürde in enger Beziehung zur Rechtsidee und diese Bereiche beeinflussten sich gegenseitig. Auch heute sollten wir auf diese Zusammenhänge achten.
Zur antiken griechischen Rechtsidee
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III. Gerechtigkeit und Gesellschaft
Gerechtigkeit zielt letztlich darauf ab, Gesellschaft – und zwar für alle (!) – möglich zu machen, was heißt: Wo nötig auszugleichen und immer wieder nach Neuem und Besserem Ausschau zu halten, weil gerade moderne Gesellschaften sich rasch wandeln und ein solcher Wandel neue (System)Verlierer und Gewinner hervorbringt. – Als Juristin oder Jurist kann man sich daher nicht auf vermeintlich Endgültigem ausruhen. Die Jurisprudenz verlangt vielmehr nach ständiger Bewegung und Achtsamkeit. Dabei erscheint es gerade im Bereich des Rechtsdenkens und der Jurisprudenz mitunter sinnvoll, strukturkonservativ zu denken und zu handeln; dies iS eines Bestehenlassens alter und vertrauter Formen, ohne dabei den inneren Wandel zu vernachlässigen.
Gesellschaft durch Recht möglich machen
Der us-amerikanische Philosoph Richard Rorty sprach anschaulich davon, dass die gesellschaftlichen Werte Freiheit, [Gleichheit?], Gerechtigkeit und Demokratie für uns zur Zivilreligion werden müssen, soll es gelingen unsere Gesellschaften zu stabilisieren. ME könnte auch eine nur menschlich begründete Rechts-Ethik zu einem wichtigen Bestandteil der Rechtsidee werden. – Daraus wird deutlich: Gerechtigkeit ist nicht nur ein rechtlicher, sondern ein (gesamt)gesellschaftlicher Wert. Aufgabe des Rechts ist es, zur Erreichung dieses wichtigen gesellschaftlichen Ziels, Umsetzungs-Hilfe zu leisten. Das ist heute nicht anders als zur Zeit der alten Griechen. Ein gesellschaftsfernes Rechts- und Gerechtigkeitsdenken ist demnach ein Widerspruch in sich. Mag es auch für alle rechtlich Tätigen wichtig sein, die innere wie äußere Unabhängigkeit zu bewahren. Geld und Macht versuchen nämlich immer wieder, Recht und Gerechtigkeit für ihre Zwecke zurechtzubiegen. Und man muss zugestehen: Sie sind dabei zur Zeit „erfolgreich“.
Zivilreligion?
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IV. Die Idee der Gerechtigkeit
Juristen – freilich nicht nur sie (vgl etwa auch N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft: 1993) – reagieren eher befremdet, oft gelangweilt, wenn sie ein Buch über die Gerechtigkeit in die Hand bekommen, was übrigens selten vorkommen dürfte. Und seien es hochkarätige, wie die der Amerikaner John Rawls, Michael Walzer oder Ronald Dworkin. Bei uns existiert keine Literaturgattung dieser Art und das Studium stellt dafür keine Weichen. Die Vorbehalte gehen häufig in die Richtung, dass derlei Bücher letztlich nichts brächten, weil sie zu allgemein gehalten seien und kaum jemand an derart abstrakten Themen interessiert sei. – Stimmt das, oder handelt es sich hier um eine berufliche Schutzbehauptung, die davor bewahren soll, eingefahrene Denkmuster verlassen oder doch in Frage stellen zu müssen?
Eingefahrene Denkmuster verlassen
Andererseits wird immer wieder versucht, die Idee der Gerechtigkeit als ewig und allgemeingültig hinzustellen, was „so” unzutreffend ist, mag das auch für manche (Einzel)Fragen (eher) zu bejahen sein; zB grundsätzliches Tötungsverbot, Schutz Schwacher, faires Verfahren, Notwehrrecht, pacta sunt servanda. – Aber warum wird immer wieder der transitorische Charakter von Recht und Gerechtigkeit verkannt? Es lohnt, darüber nachzudenken.
Gerechtigkeit – ein Ewigkeitswert?
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V. Michael Walzer und John Rawls
Das Amerika der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weist große Vertreter des Rechts- und Gerechtigkeitsdenkens auf, von denen zwei hier kurz vorgestellt werden sollen, zumal sie uns immer noch manches zu sagen haben. – Dass die USA die Heimat dieser Denker ist, hat vielleicht auch damit zu tun, dass dieses große und mächtige Land noch weiter als wir in Europa von der Idee der Gerechtigkeit entfernt ist, was uns nicht dazu verleiten sollte, uns auf unseren Lorbeeren auszuruhen. Zudem ist nicht zu übersehen, dass derzeit bei uns in Österreich wie in anderen Ländern Europas die Regierungen drauf und dran sind, vieles – und zwar ohne Verständnis für Erreichtes – zu zerstören. Aber auch politische Lausbubenstücke und Dummheiten wie wir sie derzeit in Österreich erleben, sind schwer auszubügeln. – Zusammen mit R. Dworkin (* 1931) haben die Amerikaner J. Rawls und M. Walzer den Rechtspositivismus intellektuell gehörig in die „Mangel” genommen – was freilich von seinen österreichischen Vertretern kaum zur Kenntnis genommen wurde – und dadurch der „Rechtsidee” erneut einen breiteren Entwicklungsraum eingeräumt.
Rechtspositivismus als Allheilmittel?
Es sei wenigstens darauf hingewiesen, dass diese wichtigen Kontroversen zwischen Vertretern naturrechtlicher und rechtspositivistischer Positionen in Österreich teilweise bereits vor etwa 200 Jahren in der Auseinandersetzung zwischen K.A.v. Martini und F.v. Zeiller einen Vorläufer hatten, was bis heute nicht anständig (privat)rechtsphilosophisch aufgearbeitet wurde. Vgl dazu wenigstens kurz: Barta, in: Barta/ Palme/ Ingenhaeff (Hg), Naturrecht und Privatrechtskodifikation 54 ff (1999). – Zeillers Überschätzung ist ebenso weit verbreitet wie das Nichterkennen des historischen Umstands, dass er einer der Wegbereiter des Positivismus in Österreich war. Martinis rechtsphilosophisch wesentlich fundierterer Position entspricht weithin die der ebenso griechisch inspirierten Amerikaner, insbesondere der R. Dworkins, der übrigens auch starke (bisher offenbar unbemerkte) Parallelen zu Eugen Ehrlich aufweist.
Zeiller versus Martini
Der Amerikaner M. Walzer holt die „Idee” der Gerechtigkeit in griechischer Manier aus dem sehr oft zu abstrakten kontinentaleuropäischen Ideen-Himmel herunter auf die Erde und macht dadurch ihren zeit- und situationsgebundenen, aber dennoch hohen praktischen Wert bewusst. Das Rezept ist einfach: Es werden verschiedene Facetten der Gesellschaft – zB Einwanderung, Einkommen/Verdienst, Ansehen, öffentlicher Dienst, Schule, medizinische Versorgung, Soziales uam – behandelt und idF diskutiert, wie diese Felder der Gerechtigkeit gesellschaftlich sinnvoll organisiert und gelebt werden können. Und das Ergebnis dieser Diskussionen, gleichsam das überschießende Ganze, ergibt mehr als seine Teile, nämlich die Idee der jeweiligen – gegenwärtig gelebten, lebbaren und konkreten – gesellschaftlichen Gerechtigkeit, die es also für sich alleine genommen, als Abstraktion, gar nicht gibt und die ständig in Bewegung ist. – Wir können daraus lernen: Gerechtigkeit muss immer wieder konkret werden. Sterilität des Rechtsdenkens und auch der Rechtsphilosophie ist die Folge, wenn diese Maxime nicht beachtet wird.
Gerechtigkeit muss „konkret“ werden
Walzer wird auch in der Theorie immer wieder konkret, denkt transitorisch, während wir Europäer gerne abstrakt und damit unverbindlich bleiben, Ewigkeit anstreben und dadurch den Bezug zu den drängenden Lebensproblemen leicht verfehlen. Auch Interesse und Verständnis lassen sich europäisch-ewig-abstrakt nur schwer vermitteln. Ganz anders der konkret, bildhaft-ruhige und beispielreiche Zugang Walzers. Walzer ist Sozialwissenschaftler, sein US-Herausforderer in Sachen Gerechtigkeit, John Rawls, Philosoph. – Wo bleiben, so lässt sich fragen, die Juristen? Glauben die nicht an die Gerechtigkeit oder zweifeln sie bloß an der Sinnhaftigkeit sich mit ihr auseinandersetzen zu können? Oder verhindert das Aufgehen im juristischen Alltag die Hinwendung zu den höchsten Fragen des eigenen Fachs? Walzer macht erneut deutlich – was schon die alten Griechen vorgelebt haben, dass das eigentliche Fragen nach den Grundlagen der Gerechtigkeit nicht nur eines der Juristen ist, als vielmehr auch der Philosophen, Ökonomen, Soziologen und anderer.
Europäer denken gerne „abstrakt“
J. Habermas übernimmt in seinem Buch „Geltung und Faktizität” (1992) diesen Gedanken aus der anglo-amerikanischen Diskussion. Als – rechtlich – gerecht angesehen werden kann daher nur etwas, was zuvor von diesen vorgelagerten Sphären als gerecht und das heißt auch gemeinschaftskonstituierend aufbereitet und erkannt wurde. Offensichtlich kommt heute dem Rechtsdenken auch in dieser zentralen – und nur scheinbar ureigensten juristischen – Frage bloß noch eine vermittelnde „Umsetzungsfunktion” zu. Aber das müsste nicht so sein.
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Läßt sich mit Gerechtigkeit experimentieren? – Zu John Rawls und seinem berühmten rechtsphilosophischen Werk soll hier nur so viel angemerkt werden: Versuchen Sie einmal das gedankliche Gerechtigkeitsexperiment nachzuvollziehen, das dieser amerikanische Rechts- und Gesellschaftsphilosoph in seinem berühmten Buch „Eine Theorie der Gerechtigkeit” (1971, 20012) angestellt hat.
Aber zuvor sei noch eine konkrete Rawlssche Frage vorausgeschickt: Ist es als gerecht anzusehen, wenn Kozernchefs 4 Mio ı jährlich und – wie die Tiroler Tageszeitung schon vor mehreren Jahren berichtete – manche Medizinprofessoren in Innsbruck (neben ihrem Professorengehalt, ihren Einnahmen aus betriebener Privatpraxis und zum Teil aus namhaften zusätzlichen Einkommen aus der Betreuung von Patienten/innen aus Südtirol etc) etwa 2 Mio ı (~25 Mio S) verdien(t)en, während die Gehälter von Jungmedizinern/innen (ähnliches gilt für Juristen/innen) bei 1000 ı und oft noch darunter liegen? Sind Manager wirklich so gut und andere gesellschaftlich so uninteressant? – Wir können daraus entnehmen, dass Fragen der Gerechtigkeit nicht nur weltferne und abgehobene Fragen sind, sondern Fragen, die in unseren Gesellschaften immer wieder zu beantworten und zu stellen sind. Und es muss auch erwähnt werden, dass die Antwort auf diese Fragen schwieriger ist, als es scheinen mag.
Lebensnahe Fragen zur Gerechtigkeit
Doch nun zu Rawls’ Gerechtigkeitsexperiment, das von Th. Assheuer in der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit” vorbildlich knapp und verständlich zusammengefasst wurde:
Rawls’ Gerechtigkeitsexperiment
„Angenommen, eine Gruppe von Menschen könne noch einmal ganz von vorn anfangen und sich gemeinsam die Prinzipien einer gerechten Gesellschaft ausdenken – also ohne zu wissen, ob der Einzelne später als Konzernchef oder Tellerwäscher, Glücksritter oder Pechvogel seinen Platz in der Gesellschaft finden wird. Auf welche idealen Gerechtigkeitsgrundsätze könnte sich die Gruppe im ‚Urzustand’ wohl verständigen?” – Kurz: „Rawls war überzeugt, hinter dem ‚Schleier des Nichtswissens’ würden sich alle Beteiligten auf eine Gesellschaft einigen, in der jeder, ob reich oder arm, eine faire Chance besitzt, seine Begabung und seine Interessen zu verwirklichen. Diese wohl geordnete Gesellschaft wird die Grundgüter – berufliche Stellung und Vorrechte, Einkommen und Besitz – gerecht verteilen und Ungleichverteilung nur dann als legitim erachten, wenn der Schlechtestgestellte daraus einen Vorteil bezieht. Der Einkommensunterschied zwischen einem Pförtner und einem Manager wäre also nur dann gerecht, wenn die ungleiche Entlohnung den Pförtner besser stellt. Die bessere Bezahlung ist für den Manager ein Anreiz, und so haben am Ende alle mehr Geld zur Verfügung, als es der Fall wäre, wenn alle gleich entlohnt würden.”
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VI. Gerechtigkeit (und Rechtsphilosophie) als ‚Prozess’
um GerechtigkeitNur ein Verständnis der Gerechtigkeit als kontinuierlicher sozialer und vernunftorientierter ‚Prozess’– zu dem iSv Hans Kelsen auch gesellschaftliche Toleranz gehört – wird ihrer Auf­gabe, als Grundlage von Gemeinwesen zu dienen, gerecht. Jede Zeit muss erneut darum ringen. Hier berühren sich modernes Rechtsdenken und das vernunftrechtliche Denken des aufklärerischen Naturrechts sowie der philosophische Aufbruch der Griechen im 5. und 4. Jahrhundert v. C. Naturrecht sollte nämlich heute weder ontologisch (dh: im Sein begründet, zB der Natur des Menschen), noch eschatologisch (insbesondere religiös, von Gott ausgehend) begründet werden, sondern nur voraussetzungslos vernunftrechtlich iS eines (weithin, wenngleich nicht ausschließlich) relativen Naturrechts. – Gerechtigkeit ist demnach nicht ein für allemal vorgegeben, sondern wandelbar in Raum und Zeit und ein Produkt echten gesellschaftlichen Bemühens.
Ständiges Bemühen
In der griechischen Mythologie sind Dike (Recht / Gerechtigkeit), Eunomia (die gute gesellschaftliche Ordnung oder Gerechtigkeit) und Eirene (Frieden) Schwestern. Als Töchter des Zeus und der Themis (Göttin von Sitte und Ordnung) sind sie die drei Horen.
Themis, Dike etc
Die historische Dimension rechtsphilosophischen Denkens ist deshalb so wichtig, weil das Entstehen von Ideen, Konzepten und Grundhaltungen sonst nicht richtig verstanden werden kann. – Vor allem das griechische Rechtsdenken ist unverzichtbar, zumal es bis heute nachwirkende Grundlagen gelegt hat. So entsteht mit Solon das Rechtssubjekt als autonomer Träger subjektiver Rechte, einer normativen „Beziehung”, die bis heute nichts an Bedeutung verloren hat. Mit Solon beginnt der Schutz der Menschenwürde, beruhend auf der von ihm geschaffenen unverbrüchlichen Freiheit der Bürger und (!) der von ihm bereits weithin, wenn auch politisch noch nicht vollständig geschaffenen politischen Gleichheit/Isonomia. Dieser Rechtsschutz seit Solon ist bereits ein institutioneller und eine Einschränkung der genannten Grundrechte Freiheit und Gleichheit zu der noch die privatrechtliche Vertragsfreiheit und Privatautonomie trat, ist nur noch durch die konkurrierenden Rechte anderer Bürger möglich. Das lehrt uns, das das von Kelsen zu Unrecht so bekämpfte Konzept der subjektiven Rechte aus dem öffentlichrechtlichen Bereich stammt und erst in der Folge auf das Privatrecht übertragen wurde.
Das moderne Gewaltverbot, die Ablöse der Blutrache und Selbsthilfe, die noch Gewalt mit Gegengewalt, Mord und Tötung vergelten, war gesellschaftlich und rechtlich ein enormer Fortschritt; vgl damit noch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der griechischen Tragödie, etwa der „Elektra” des Sophokles, wo Agamemnons Kinder – Elektra und Orestes, den von der Mutter (Klytaimnestra) ermordeten Vater durch die Tötung der Mutter und ihres Liebhabers Aigisthos sühnen. Aischylos merkt dazu in seiner Orestie aber schon fragend an:
Modernes Gewaltverbot
„Wo hört es wohl auf, wo endet der Lauf, besänftigt, das Wüten des Unheils?”
Zu den Gesellschaftsfunktionen von Recht, insbesondere zu seinem Verständnis als organisierter gesellschaftlicher Zwang, der die Privatrache ablöst → KAPITEL 1: Frieden und Ordnung als Rechtsfunktionen.
Das lehrt uns, dass es rechtlich darum „geht”, dem durch eigenes erlittenes Unrecht entstandenen Bedürfnis nach Rache durch die Idee der Gerechtigkeit Grenzen zu setzten und nicht erneut Unrecht durch weiteres – selbst begangenes – Unrecht zu vergelten. Hier steht uns die sokratisch-platonische Formel zur Verfügung nach der es besser ist, Unrecht zu erleiden, als (selber) Unrecht zu tun.
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C. Arten der Gerechtigkeit
Epikur, der das Glück des Einzelnen ins Zentrum seines Denkens rückte und auch nicht mehr an die alten Götter glaubte, dachte auch realistisch über Recht und Gerechtigkeit, wenn er – gegen Platons Ideenlehre gerichtet – meinte:
„Gerechtigkeit an sich hat es nie gegeben. Alles Recht beruhte vielmehr stets nur auf einer Übereinkunft zwischen Menschen, die sich in jeweils verschieden großen Räumen zusammenschlossen und sich dahin einigten, dass keiner dem anderen Schaden zufügen oder von ihm erleiden soll.”
Heute unterscheiden wir, um die Schattierungen des Gedankens der Gerechtigkeit zu veranschaulichen, zwischen verschiedenen Arten der Gerechtigkeit, die idF angesprochen werden sollen.
I. Absolute und relative Gerechtigkeit
Recht und Gerechtigkeit sind demnach nicht identisch. Das macht auch Hans Kelsens vorangestelltes Motto deutlich. Anzustreben gilt es aber immer wieder Annäherungswerte an die Gerechtigkeit. Das ist jeder Epoche zur Aufgabe gestellt. Gustav Radbruch etwa meinte:
„Die Idee des Rechts kann nun keine andere sein als die Gerechtigkeit.”
Kurz: Absolute Gerechtigkeit erscheint unerreichbar; realistisch dagegen ist eine Orientierung an relativer Gerechtigkeit, die sich mit Zeit und Ort ändern kann und bereit ist (gewisse) Kompromisse zu machen; vgl schon → Gerechtigkeit und Gesellschaft – Die ‚Idee’ der Gerechtigkeit als ‚Rechtsidee’
Was ist Gerechtigkeit?
Verschiedene Vertreter des Naturrechts, etwa G. W. Leibnitz oder Christian Wolff (→ KAPITEL 1: Zur Entstehung des ABGB), vertraten noch die Ansicht eines absoluten Naturrechts, das göttlichen Ursprungs sein sollte. Diese Meinung, die schon griechische Vorläufer hat, wurde zu Recht aufgegeben, zumal die Abhängigkeit des Rechtsdenkens von Zeit und Raum immer mehr erkannt wurde. Schon im Altertum. – Auf der anderen Seite müssen wir konzedieren, dass gewisse Rechts- und damit auch Gerechtigkeitspositionen zumindestens in die Nähe einer absoluten Geltung zu rücken sind: zB das Tötungsverbot, heute wohl auch die Menschenrechte mit der Menschenwürde in ihren Zentrum, aber auch das Notwehrrecht und vielleicht auch noch andere Rechts-Werte.
Absolutes Naturrecht?
Die seit dem Altertum anhaltenden Debatten um die Richtigkeit von Naturrechts- und rechtspositivistischen Positionen lehren uns vielleicht eines, mag das auch als persönliche Formel zu verstehen sein: Die Frage nach einem „Entweder-Oder” dieser beiden rechtsphilosophischen Positionen erscheint falsch gestellt. Müssen wir uns nicht eingestehen, dass wir heute selbstverständlich zu 90-95 Prozent Positivisten sein müssen, dass aber auf der anderen Seite der verbleibende Teil eines naturrechtlichen Korrektivs, das dem Positivismus inhaltlich-materiale Grenzen setzt, ebenso selbstverständlich sein sollte?
Naturrecht oder Rechtspositivismus?
Hier, im Bereich der relativen Gerechtigkeit, schließt sich auch der Kreis zur Anthropologie, Sozialpsychologie und Psychoanalyse:
Interdisziplinäre Einsichten
„Freud hat darauf hingewiesen, dass ... Triebregungen – die Triebregungen des Menschen wie natürlich auch diejenigen jedes anderen Lebewesens – an sich weder gut noch böse sind, sondern dass sie als gut oder böse nur erlebt werden können im Kontext eines Kulturverhaltens. Es ist also in verschiedenen Kulturen das, was als gut und was als böse angesehen wird, etwas sehr Verschiedenes. Es gibt kein Absolutum in dieser Hinsicht.” – A. Mitscherlich, Massenpsychologie (1972)
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II. Materielle und formelle Gerechtigkeit
Dazu kommt, und deshalb finden sich diese Ausführungen im folgenden Kapitel 19 (Rechtsdurchsetzung), dass „Recht haben” (nach dem materiellen Recht) und „Recht bekommen /erlangen” (im Prozess und überhaupt in rechtlichen Verfahren) zweierlei sind. – Kann ich nämlich mein Recht nicht beweisen, erhalte ich es auch nicht zugesprochen, mag sich auch alles tatsächlich so zugetragen haben, wie von mir behauptet. Das verletzt zwar die materielle Gerechtigkeit, nicht aber notwendigerweise die formelle oder Verfahrensgerechtigkeit. Denn auch Rechtsanwender sind keine Hellseher und können nur zusprechen, was beweisbar ist. Viele Rechtsakte werden daher nur durch ein korrektes Verfahren legitimiert; N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969). Das bedeutet zwar eine Einbusse in Bezug auf die materielle Gerechtigkeit, muss aber als Folge der menschlichen Unzulänglichkeit hingenommen werden.
„Recht haben” und „Recht bekommen”
Recht, Moral und Sitte (→ KAPITEL 1: Normen als ¿Wegweiser¿ ¿ Recht, Sitte, Moral) bestimmen für jede Gesellschaft, was in ihr „gut und gerecht” (= erlaubt), und was „schlecht” (= unerlaubt) ist. Dabei lassen sich von Land zu Land Übereinstimmungen wie Differenzen feststellen. Das ist die Erklärung für Michel de Montaignes (1533-1592) berühmten Satz: „Was ist das für eine Wahrheit [Gerechtigkeit], die bei diesem Bergzug endet und für die Welt dahinter Lüge [also Unrecht] ist”, der Blaise Pascal (1623-1662) zu seinem Ausspruch animierte:
Sozialnormen als Kulturnormen
„Verité en decà des Pyrénées, erreur au delà.”
Dennoch existieren wichtige und weitläufige rechtliche Gemeinsamkeiten: Für das Privatrecht bspw die Persönlichkeitsrechte, aber auch zugefügten Schaden ersetzen und Verträge zuhalten zu müssen; für das öffentliche Recht etwa die Grund- und Menschenrechte; für das Verfahrensrecht die Ausrichtung an einem fairen Verfahren, wie es in Art 6 EMRK gefordert wird oder das schon Aischyleische Prinzip des audiatur et altera pars; und für das Strafrecht die ebenfalls auf griechische Wurzeln zurückgehende Regel des in dubio pro reo.
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III. Austeilende und ausgleichende Gerechtigkeit
Literaturquelle
1. Zwei Arten der Gerechtigkeit
Die Rechtsphilosophie unterscheidet seit Aristoteles (5. Buch der Nikomachischen Ethik) zwei Arten der Gerechtigkeit:
• die austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva), gewährt jedem, was ihm zusteht;
• die ausgleichende Gerechtigkeit (iustitia commutativa) versucht, das Gleichgewicht rechtlich wieder herzustellen, wenn es gestört wird. Sie verfolgt damit ein Ziel, das für jede Gesellschaft von Bedeutung ist: Recht soll Gesellschaft möglich machen. – Wer andere schädigt, muss dies wieder gutmachen; dh Schadenersatz leisten oder Strafe hinnehmen. Wer sich ungerechtfertigt bereichert, hat das dabei Erlangte herauszugeben.
Die ausgleichende Gerechtigkeit – deren Göttin in der griechischen Mythologie Nemesis, die Rache, war – wird im Strafrecht durch die Strafe charakterisiert, im bürgerlichen Recht etwa durch das Schadenersatzrecht; die austeilende Gerechtigkeit durch die berühmte Ulpian-Formel des „Suum cuique”. – Es stellt einen unüberbietbaren Zynismus dar, dass die Nationalsozialisten die Gerechtigkeitsformel Ulpians – „Jedem das Seine” – als Aufschrift über dem Eingang des KZ-Buchenwald anbrachten.
Beispiele
Kant (Rechtslehre, Methaphysik der Sitten) ordnet die austeilende Gerechtigkeit dem öffentlichen Recht, die wechselseitige / erwerbende oder ausgleichende dem Privatrecht zu und zählt zu letzterer auch die beschützende Gerechtigkeit (iustitia tutatrix); dies iSv Schutzgesetzen: vgl heute MRG, KSchG, WEG, Arbeitsrecht, BTVG etc. – Dieser Ansatz erscheint aus heutiger Sicht nicht unwichtig.
iustitia tutatrix
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D. Gerechtigkeit als Tugend
I. Die Kardinaltugenden
Die Gerechtigkeit (iustitia) bildet mit der Klugheit (prudentia), der Selbstbeherrschung / Mäßigkeit (temperantia) und der Tapferkeit/Seelengröße (fortitudo) die vier Kardinaltugenden, die es für jedes Individuum – und wie Platon (von dem diese Überlegungen stammen) in seiner „Politeia” klarstellt – aber auch für den Staat zu erstreben gilt. (Die lateinischen Begriffe sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Lehre griechischen Ursprungs ist.) – Gerechtigkeit ist danach das Ergebnis des Gelingens und Erreichens der anderen, vorgelagerten Tugenden, was später immer wieder verzeichnet wurde.
Die platonische Lehre von den Kardinaltugenden wurde im Rahmen der griechischen Philosophieentwicklung vor allem von der Stoa aufgegriffen und modifiziert. Eine Schrift des Panaitios von Rhodos (~180-100 v. C.), er bildet mit seinem berühmten Schüler Poseidonios die mittlere Stoa (~150-0), diente Cicero als Vorlage für dessen Schrift „De officiis”/„Über die Pflichten”. Die politische Propaganda der Augustuszeit übernimmt die Lehre der Kardinaltugenden ebenso wie später das Christentum (Ambrosius, Augustinus, Thomas von Aquin).
Gerechtigkeit ist also nach der ursprünglichen Lehre nicht nur ein individuell-persönlicher, sondern auch ein kollektiv-staatlicher, also ein Gemeinschaftswert, ohne den kein Gemeinwesen auf Dauer bestehen kann. Gerechtigkeit ist zudem kein statischer Zustand, sondern kontinuierlich in Entwicklung begriffen, kurz: dynamisch angelegt. – Das Recht ist dabei jenes Mittel, das – einem Transmissionsriemen vergleichbar – die Strebungen von kollektiven und individuellen Gerechtigkeitsbemühungen verbindet und so – vor allen andern Mitteln – den Bestand des Staates und das Wohl und Glück der Einzelnen (Eudaimonia) sichert.
Gerechtigkeit gilt für Staat und Individuum
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II. Gerechtigkeit – keine Domäne des Rechtsdenkens
Dieser – hohe wie tiefe – Stellenwert der Gerechtigkeit und damit des Rechts erklärt auch, warum sich nicht nur die Rechtswissenschaft mit der Frage der Gerechtigkeit befasst, sondern auch zahlreiche andere Disziplinen, allen voran die Philosophie. Das beginnt bei Platon und seinen Schülern, insbesondere Aristoteles, und reicht bis Rawls, Habermas, Walzer uam; vgl schon oben → Gerechtigkeit und Gesellschaft – Die ‚Idee’ der Gerechtigkeit als ‚Rechtsidee’
Ein solches Verständnis der Gerechtigkeit macht zudem klar, wie wichtig in einem Staate ein breiter politischer und wissenschaftlicher Diskurs ist. Persönlicher Ehrgeiz und politisch-ideologisches Machtstreben haben aber noch nie ausgereicht, um einen Staat politisch glücklich zu führen. Dabei wissen wir seit den alten Griechen wie wichtig es für politische Fragen ist, sie „nach beiden Seiten zu diskutieren” (Cicero), um dann sicher(er) entscheiden zu können. Noch viel wichtiger ist ein solcher Diskurs aber dafür, dass er den Menschen eines Staates zeigt, dass die handelnden Politiker bestrebt sind, das Beste für alle – nicht nur für sich selbst (!), ihre Klientel und ihr politisches Überleben – zu tun. Das setzt allerdings die Reife einer Regierung und auch der Opposition voraus, zu zeigen, dass es ihnen nicht nur darum geht, Recht zu behalten. Erst daraus vermag sich verbindende Gemeinsamkeit und Wohlfahrt zu entfalten. – Wie aber soll ein Staat seine Bürger und Bürgerinnen dazu anhalten nach gesellschaftlicher Vollkommenheit zu streben und sittliche Persönlichkeiten zu werden, wenn seine Repräsentanten die dafür nötigen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften kaum vom Hörensagen kennen? Ehrgeiz und Geltungssucht lassen aber auch Wissenschaftler immer wieder vergessen, dass es nicht ihre Aufgabe sein kann, mit solcher Politik zu kooperieren. Allein: Der Opportunismus ist meist stärker, mag auch längst an die Stelle des Willens zu gesellschaftlicher Reform, der zu narzistischer Zerstörung getreten sein.
Gerechtigkeit braucht politischen und wissenschaftlichen Diskurs