Familiensoziologie
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Motto: Margarete Mitscherlich, Die Zukunft ist weiblich (1995 20)
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A. Zur Entwicklung der Familie
I. Familie – Grundlage des Staates
Für den Staat und damit für den Gesetzgeber war die Familie als Keimzelle der Gesellschaft stets von Bedeutung und unmittelbarem Interesse. Verhaltensvorschriften über Ehe und Familie sind älter als der Staat selbst.
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II. Sozialer Wandel
Die mit dem Schlagwort des akzelerierten sozialen Wandels beschriebene Entwicklung hat seit langem auch die Institution Familie erfasst. Wie kaum in einem andern Bereich der Rechtsordnung wird hier die Berücksichtigung von Erkenntnissen der Sozialwissenschaften durch den Gesetzgeber erforderlich. Die Familiensoziologie vermag dabei wichtige Hilfe zu leisten.
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III. Entwicklung der Familie
Die Geburtsstunde der Familiensoziologie fällt ins vorige Jahrhundert, dessen historische Entwicklung die wissenschaftliche Untersuchung gesellschaftlicher Zusammenhänge geradezu herausgefordert hat. Die einschneidenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen beim Einsetzen der Industrialisierungswelle (sog Industrielle Revolution) hatten die bisher funktionierende Struktur der Familie in Frage gestellt. Die vorindustrielle Familie im städtischen oder ländlichen Handwerks- und Gewerbebetrieb oder auf dem Bauernhof war statisch orientiert. Ihre Stabilität und Unentbehrlichkeit beruhte vornehmlich auf der ökonomischen Notwendigkeit der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Fürsorge und allseitigen Abhängigkeit der Mitglieder des Familienverbandes. – Der Staat, in seiner damaligen Form als „Nachtwächterstaat”, beschränkte sich im wesentlichen auf die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung; staatliche sozialpolitische Aktivitäten gab es kaum.
Von der vor- zur postindustriellen Familie
Infolge von Industrialisierung und Frühkapitalismus kommt es zur Auflösung der kleinbetrieblichen Arbeitsweise. Die Fabriken in den Städten werden zur Arbeitsstätte. Die Trennung von Privatsphäre und Berufswelt erfolgt zuerst in den Städten. Die Trennung von Wohnstätte und Arbeitsplatz setzt ein, die Familie verliert ihre Stellung als Produktions- und Versorgungseinheit und entwickelt sich zur Kleinfamilie, die frühere Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Katastrophale Folge war die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten; Entstehung des Proletariats. Erst dadurch wurde die Notwendigkeit staatlichen Eingreifens in Form der beginnenden Sozialgesetzgebung erkannt. – Mit der zahlenmäßigen Verringerung und materiellen Schwächung des Familienverbandes ging auch ein Substanz-Funktionsverlust der Familie im Bereich von Erziehung und Berufsausbildung vor sich. Dem (modernen) Staat fielen deshalb immer weitere Aufgabenbereiche zu; Kindergarten, Schule, Universität, Berufsausbildung, soziale Sicherheit: Kranken-, Unfall-, Altersversicherung, Arbeitslosigkeit und jüngst das Pflegegeld etc. – Heute ginge es darum, die Arbeitswelt nicht gegen die Interessen der Familie (in einem modernen Verständnis) zu organisieren.
Was lässt sich aus der Geschichte lernen?
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IV. Familienbindung und Familienzyklus
Auch die Intensität der Familienbindung, also Art und Dauer der Eingliederung in die Familienorganisation und der Einfluss der Familie auf die jüngere Generation zeigen eine rückläufige Tendenz. Das Absenken der Altersgrenze der Großjährigkeit – 25 Jahre: römisches Recht, 24: ABGB von 1811, 21 (1919) dann 19 (1973), heute 18 Jahre – entspricht diesem Vorgang, der auch im sinkenden Alter bei Eheschließungen sichtbar wurde, wobei sich hier heute wieder eine steigende Tendenz zeigt. Der eigentliche Familienzyklus dauert heute durchschnittlich 20 Jahre; Tendenz steigend.
Absenken der Großjährigkeitsgrenze
Parallel mit dieser Entwicklung verläuft eine Veränderung der Verwandtschaftsbeziehungen, die mit dem Abbau ihrer ökonomischen Bedeutung auch ihre tragende Rolle in der Gesellschaft verlieren.
Veränderung der Verwandtschaftsbeziehungen
Trotz dieses qualitativen und quantitativen Substanzverlustes hat die Familie ihre zentrale gesellschaftliche Stellung behauptet, ja die aufgabenmäßige Beschränkung auf rein interne Funktionen hat zu einer Intensivierung des Familienlebens geführt.
Da in Österreich entsprechende Untersuchungen fehlen, soll diese Tendenz an Hand einer älteren schwedischen Untersuchung belegt werden: Eine Kommission zur Erstellung des Entwurfs zur Änderung des Ehe- und Scheidungsrechts kam schon 1972 in ihrem Gutachten zur Feststellung, „dass die Bedeutung der Familie als feste ökonomische Einheit und Schutz für den einzelnen zurückgeht, während ihre Aufgabe, dem einzelnen eine gefühlsmäßige Gemeinschaft zu bieten, angestiegen ist. – Die Folge davon ist, dass ein Fehlen der Gefühlsbindungen heute leichter zur Scheidung führt, während man sich früher oft den ökonomischen Notwendigkeiten unterordnete.”
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V. Familie und Persönlichkeitsbildung
Diese Verinnerlichung der Familie ist insofern von größter Bedeutung, als sich in der Familie der Aufbau der sozial-kulturellen Persönlichkeit vollzieht. In dieser Hinsicht sind auch Rollenverteilung und Autoritätsgestaltung in der Familie zweifellos mehr als bloße Randprobleme. Eine weitere Konsequenz sollte dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass nämlich das „familiäre Ergebnis der Persönlichkeitsbildung” auch das spätere politische Verhalten beeinflusst. Die Frage, die Max Horkheimer in seinem Buch „Autorität und Familie „ (1936) gestellt hat, inwiefern eine autoritäre Familienstruktur eine autoritäre Staats- und Gesellschaftsstruktur bedinge, erscheint nicht nur für die damalige Zeit treffend gestellt. – Soziale Anpassungsdefekte führen demnach leicht auch zu politischen Fehlentwicklungen – politischem und religiösem Extremismus, Kriminalität in allen Formen etc – und müssen von Gesellschaften beachtet werden. Dem Recht kommt dabei eine wichtige Aufgabe zu.
Familie, Persönlichkeitsstruktur, politische Orientierung
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Neueste anthropologische Forschungen zeigen, dass Kinder, deren Wünsche / Grundbedürfnisse (nach Nahrung, Geborgenheit, Liebe etc) möglichst umfassend erfüllt werden, „nicht etwa zu quengeligen, verwöhnten Tyrannen, sondern zu früh autonomen, hilfsbereiten Kindern [werden], die auch physisch beeindruckend gesund sind”: Die Zeit, Nr 40, 25.9.1992, S. 39: D. K. Zimmer, Gute Bindungen machen selbständig.
Die Auseinandersetzung zwischen Erneuerern und Bewahrern der Familienkonzeption erfolgt immer auch im Zuge einer Auseinandersetzung mit der Gleichstellung von Mann und Frau. – Weiters ist zu beachten, dass heute unter Familie nicht nur verheiratete Eltern mit ihrem/n Kind/ern verstanden werden.
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B. Die Familie im Wandel des Lebenszyklus
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„Ein weiteres wichtiges Thema in der Geschichte der Familie ist der Wandel des Lebenszyklus.
Familie und Lebenszyklus
Der Vergleich zwischen dem Lebenszyklus, der heute als ‚normal’ betrachtet wird, und dem des 19. Jahrhunderts ist geeignet, einen weiteren Mythos zu revidieren, nämlich den Mythos, daß die Familie heute zerbrechlicher ist als in der Vergangenheit.
In Wirklichkeit war es eine der großen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, daß die Chancen, einen größeren Zeitraum in einem stabilen Familienrahmen zu verbringen, beträchtlich gestiegen sind. Die Möglichkeit für Großeltern und zum Teil sogar Urgroßeltern, eine längere Zeitspanne gemeinsam mit ihren Enkelkindern zu leben, ist eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts.
Erst der Rückgang der Sterblichkeit seit dem Beginn unseres Jahrhunderts hat fast allen Menschen im Westen die Chancen gegeben, das Erwachsenenalter zu erreichen und den gesamten Familienzyklus zu erleben. Es ist sehr unwahrscheinlich geworden, daß Kinder ihre Geschwister oder ihre Eltern schon in der Kindheit verlieren. Das heißt, daß Kinder gemeinsam mit ihren Geschwistern aufwachsen, daß ihre Eltern am Leben sind und daß sie sogar als Erwachsene noch Großeltern oder sogar Urgroßeltern haben.
Was in unserem Jahrhundert als ’normaler’ Lebenszyklus einer Frau erwartet wurde, daß heißt zu heiraten, mit einem Ehemann zusammen Kinder zu erziehen und mit ihm gemeinsam zu erleben, daß die Kinder den Haushalt verließen, haben im 19. Jahrhundert nur 40 Prozent der amerikanischen Frauen erlebt. Von den anderen 60 Prozent hat ein Teil das übliche Heiratsalter gar nicht erreicht, ein Teil ist zeitlebens ledig geblieben und ein Teil der Verheirateten hat den Ehegatten verloren oder ist selbst gestorben, während die Kinder noch klein waren.
Erstmals hat die große Mehrheit der Bevölkerung die Chance, den gesamten Familienzyklus zu durchlaufen. Trotzdem wird diese Chance aber nicht von allen genützt. Der Familienzyklus wird zunehmend durch Scheidung unterbrochen. Zum Beispiel wurde in den letzten 20 Jahren in den Vereinigten Staaten ein ebenso hoher Anteil von Familien durch Scheidung getrennt wie im 17. Jahrhundert durch den Tod. [ ...]
Die Geburtenkontrolle hat die Zahl der Geschwister und den Altersabstand zwischen den Geschwistern drastisch reduziert. Die Möglichkeit, von älteren Geschwistern zu lernen, ist dadurch stark begrenzt. In der Vergangenheit haben ältere Geschwister oft die Rolle von Ersatzeltern gespielt. Kinder konnten verschiedene Familienrollen von den Geschwistern lernen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist das nicht mehr möglich.
Geburtenkontrolle, Geschwisterbeziehungen etc
Eine weitere Veränderung, die von großer Bedeutung für die Beziehung zwischen den Generationen ist, ist das sogenannte ’leere Nest’, also die Lebensphase, die ein Ehepaar nach dem Ausscheiden seiner Kinder verbringt. Vor dem 20. Jahrhundert war diese Lebensphase nahezu unbekannt. Die Menschen haben spät geheiratet und ihre ersten Kinder bekommen, sie hatten mehrere Kinder, und sie sind auch früher gestorben. Sogar wenn das jüngste Kind alt genug war, um das Elternhaus zu verlassen, ist es häufig geblieben, um die Eltern zu versorgen. Im Gegensatz dazu ist im Laufe unseres Jahrhunderts das Heiratsalter und damit das Alter bei der Geburt des ersten Kindes gesunken, die Zahl der Kinder ist stark zurückgegangen, und das letzte Kind verlässt das Elternhaus schon in der mittleren Lebensphase der Eltern. Das hat zur Konsequenz, daß ein durchschnittliches Ehepaar das letzte Drittel seines Lebens im ‚leeren Nest’ verbringt.
In den achtziger Jahren hat sich in den Vereinigten Staaten diese Entwicklung aber zum Teil wieder umgekehrt. Viele junge Erwachsene bleiben länger im Elternhaus oder kehren in dieses wieder zurück, weil ihnen der Arbeitsmarkt oder Wohnungsmarkt geringere Chancen zur Selbständigkeit bietet. Wie im 19. Jahrhundert leben nun Kinder wieder länger mit ihren Eltern zusammen, aber aus völlig entgegengesetzten Motiven: Im 19. Jahrhundert taten sie es, um ihre Eltern zu unterstützen, heute tun sie es, um selbst Hilfe zu erhalten.
Trendumkehr
Dieses letzte Phänomen reicht aber nicht aus, um eine weitere Konsequenz des Wandels des Familienzyklus zu verhindern, nämlich die Isolation der alten Menschen. Dies ist eines der Hauptprobleme unserer Zeit, das große Aufmerksamkeit von uns verlangt und das sich in der Zukunft weiter verschärfen wird. Die Isolierung der älteren Menschen ist das Resultat der gestiegenen Lebenserwartung, der geographischen Mobilität, der abnehmenden Zahl von Verwandten und der Zunahme des Individualismus.
Problem Alter
Wie wir aus der historischen Forschung wissen, hat es in der Vergangenheit nie ein ‚Goldenes Zeitalter’ der Generationenbeziehungen gegeben. Auch wenn, wie ich vorhin erwähnt habe, ein Kind häufig bei den Eltern geblieben ist, so lebten doch Eltern idR nicht mit ihren verheirateten Kindern im selben Haushalt. Im Ausgedinge, das unter österreichischen Bauern stark verbreitet war, wurde der Austausch des Erbes gegen die Altersversorgung in einem Kontrakt zwischen den Generationen strikt geregelt. Diese Regelungen waren auch in anderen Ländern verbreitet: Sie beweisen, daß man sich nicht auf Liebe allein verlassen wollte. In den Städten war es den meisten alten Menschen möglich, ihren selbständigen Haushalt weiterzuführen, indem sie Kost- und Schlafgänger aufnahmen, oder auch mit Hilfe der Unterstützung von Kindern und anderen Verwandten, die in der Nähe lebten.
Generationenbeziehungen
Auch heute leben in den Vereinigten Staaten und Westeuropa die meisten älteren Menschen getrennt von ihren Kindern. Zugleich leben sie aber doch so nahe von ihnen, daß man – wie dies Professor Leopold Rosenmayr ausgedrückt hat – von „Intimität auf Abstand“ sprechen kann. Auch in den großen japanischen Städten hat sich in der letzten Zeit das getrennte Wohnen von Eltern und verheirateten Kindern entwickelt. Aber „Intimität auf Abstand” wird in Japan so definiert, daß Kinder nahe genug bei den Eltern wohnen, um ihnen eine Schüssel Suppe bringen zu können, ohne daß diese auskühlt.
Familie auf Abstand
Auch kleine Distanzen werden allerdings problematisch, wenn eine ältere Person chronisch krank oder geistig verwirrt wird. Unter diesen Bedingungen ist es in den Vereinigten Staaten bis heut üblich geblieben, daß ein erwachsenes Kind, gewöhnlich die Tochter, Vater oder Mutter in ihren Haushalt aufnimmt. Sogar heute findet man nur vier Prozent der alten Menschen in Alten- und Pflegeheimen. [ ...]
Die gegenwärtigen Probleme der Familie beruhen auf den Spannungen zwischen alten Idealen und neuen sozialen Anforderungen. Die Familie war immer eine veränderliche und flexible Institution. Schon allein die Definition dessen, was eine Familie ist, unterscheidet sich in verschiedenen Gesellschaften. Eine der wichtigen positiven Änderungen in den letzten Jahren war die zunehmende Akzeptanz einer Pluralität von Familienformen und Familienbeziehungen. Diese Akzeptanz muß weiter zunehmen.
Alte Ideale <-> neue soziale Anforderungen
Eine weitere Spannung besteht zwischen den Institutionen der modernen Gesellschaft und der Familie. Die Institutionen haben sich nicht schnell genug an den Wandel der Familienstrukturen und des Lebenszyklus angepasst.
Zum Beispiel: Die Erwerbstätigkeit von Müttern steigt ständig an, aber die Einrichtungen zur Betreuung von Kindern bleiben hinter den steigenden Bedürfnissen zurück. Ähnliches trifft auf die alten Menschen zu: Der Bedarf an Betreuungseinrichtungen für sehr alte Menschen wächst rasch an, ohne daß er von öffentlichen Institutionen ausreichend erfüllt würde.
Jetzt ist es an der Zeit, die Vielfalt der gegenwärtigen Strukturen und Formen der Familie anzuerkennen. Es ist ebenfalls an der Zeit, die gesellschaftlichen Leitbilder und Institutionen den Realitäten der Familie und ihren Bedürfnissen anzupassen.” – Hareven, Formen, Funktionen und Werte aaO 28 ff.
„Die Ehe oder die eheähnliche Partnerschaft als ein Projekt auf Zeit ist ein historisch völlig neues Phänomen. Bezeichnungen wie ’Lebensabschnittspartner’ signalisieren, daß sich gesellschaftlich Neues bereits begrifflich verfestigt. Beim Eingehen einer Ehe bzw Partnerschaft wird die Scheidung bzw Trennung ganz anders einkalkuliert als noch vor wenigen Jahrzehnten. Das Auseinander-Gehen ist nicht die exzeptionelle Katastrophe – eher ein Ereignis, das mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintritt und auf das man sich für den Eventualfall von vornherein vorbereitet, etwa im Ehevertrag oder durch abteilbare Wohnungen. Im Hinblick auf die Entwicklung der Scheidungszahlen ist das eine durchaus realistische Sicht. Lebenslängliche Partnerschaft ist heute um vieles weniger wahrscheinlich als vor dreißig oder vierzig Jahren. Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels ist sicher eine der Ursachen dafür. Akzelerierter gesellschaftlicher Wandel macht ständige Weiterentwicklung möglich – wie im Arbeitsleben so auch im persönlichen Bereich von Einstellungen, Werthaltungen und Denkweisen. In einer Gesellschaft mit solchen Anforderungen ist es für Partner nicht einfach, Entwicklungsprozesse synchron zu gestalten. Ehepaare in historischen Gesellschaften mit geringerem Tempo der Veränderung und einer relativ statischen Umwelt waren solchen Herausforderungen viel weniger ausgesetzt.
Lebensabschnittspartner
Mit zunehmender Scheidungshäufigkeit nimmt auch die Häufigkeit von Wiederverehelichungen bzw neuen Partnerschaften in einem nie dagewesenen Ausmaß zu. Wiederverehelichung nach Scheidung ist etwas ganz anderes als die in historischen Zeiten so weit verbreitete Wiederverehelichung nach Verwitwung. Bei Zweitheiraten von Witwen und Witwern ging es ja nicht um einen Neuanfang nach einer gescheiterten Beziehung und der durch diesen Bruch bedingten Diskontinuitäten. Auch aus der Perspektive der Kinder wird der Unterschied deutlich. Das Problem, neben der Beziehung zu einem aus dem Haushalt ausgeschiedenen Elternteil eine neue zu einem neueintretenden aufbauen zu müssen, stellt sich bei Waisen durch Verwitwung nicht. Bei Wiederverehelichung nach Scheidung lebt die in Konflikt auseinandergegangene Beziehung vermittelt über die Kinder fort. Für Kinder bedeutet Scheidung vielfach, daß ein von ihnen als Beziehung auf Dauer gewünschtes Verhältnis zu einem Elternteil gegen ihren Willen zu einer Beziehung auf Zeit wird. Insgesamt hat Scheidung auch für Angehörige eine zeitliche Begrenzung von Familienbeziehungen zur Folge. Traditionell hatte durch Heirat vermittelte Verwandtschaft im europäischen Verwandtschaftssystem einen hohen Stellenwert und wurde – wie etwa die Verwandtschaftsterminologie zeigt – der Blutsverwandtschaft gleichgestellt. Ehe bzw eheähnliche Partnerschaft als Projekt auf Zeit relativiert damit weit über das betroffene Paar hinaus soziale Beziehungen in Familie und Verwandtschaft. Es ist abzusehen, daß sich dies auf die allgemeine Tendenz des Bedeutungsverlusts von Verwandtschaft in neuerer Zeit verstärkend auswirken wird.
Mehr Scheidungen und Wiederverehelichungen
Durch akzelerierten gesellschaftlichen Wandel ändern sich nicht nur Partner-, sondern auch Generationenbeziehungen. Der Konfliktfall führt hier allerdings nicht zur Scheidung als institutionalisierter Form des Bruchs, höchstens zu einem vorgezogenen Ausscheiden aus der Haushaltsgemeinschaft, das in einer neolokalen Gesellschaft im Verlauf der Jugendphase ohnehin erfolgen soll. Das Potential für Spannungen und Konflikte zwischen den Generationen hat durch die Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels stark zugenommen. Noch nie zuvor in der Weltgeschichte haben in ihren Einstellungen und Werthaltungen so unterschiedlich geprägte Generationen zusammengelebt wie heute. Und noch nie zuvor haben so viele so unterschiedlich geprägte Generationen gleichzeitig gelebt. Daß ein altes Paar nicht nur die erwachsenen Enkel sondern auch noch heranwachsende Urenkel erlebt, ist heute keine Seltenheit mehr. Vor wenigen Jahrzehnten war es noch eine Ausnahme. Die steigende Lebenserwartung hat zu einer Vertikalisierung der Familie geführt, im Englischen mit der Metapher der ‚bean-pole-family’ bedacht. Das Paradoxe der Situation ist, daß diese immer älter werdenden Alten immer stärker abweichend geprägte Nachkommen erleben. Wo nicht Haushaltsgemeinschaft besteht, reduziert sich die Problematik auf Kontakte bei Familientreffen. Sie hat damit nicht die gleiche Bedeutsamkeit wie im Zusammenleben zwischen Eltern und heranwachsenden Kindern. Sie schafft aber doch auch Betroffenheit, wo alte Menschen gegenüber ihren Nachkommen in ähnlicher Weise Kontinuität in Weltanschauungen und Verhaltensweisen erwarten, wie sie sie gegenüber den eigenen Vorfahren erlebt haben. [ ...]
Traditionelle Muster der zeitlichen Abfolge von Lebenszyklusphasen verlieren ihre Geltung. Das kann so weit gehen, daß die verlängerte Jugendphase ihren Charakter als Übergangsstadium verliert und auf Dauer die Lebensweise bestimmt. ’Single’-Dasein als eine historisch völlig neuartige Lebensform lässt sich im wesentlichen als eine solche Prolongierung der Jugendphase begreifen. Ein ‚Single’ verzichtet auf eine eigene Familiengründung. Das schwierige Problem der Synchronisation und inneren Abstimmung des Lebenskonzepts mit einem Partner stellt sich ihm nicht mehr.” [ ...]
Singles
Der „Tod der Familie” – von Kulturpessimisten prophezeit, von radikalen Gesellschaftsreformern zum Programm erhoben – ist aus historischer Sicht eine völlig unrealistische Perspektive. Auch bei noch tiefergreifenden Veränderungen, als sie die letzten Jahrzehnte gebracht haben, wird es sicher nur zu einer Umformung, nicht zu einem Verlust familialer Beziehungen kommen. Nur das Ausmaß und die Art der Umgestaltung kann zur Debatte stehen.
Tod der Familie?
versus FamilienbindungAls ein gemeinsamer Trend der Veränderung von Beziehungen, der sich auf dem Hintergrund der hier besprochenen Dimensionen Raum, Zeit und Kommunikation ergibt, hat sich die Tendenz einer zunehmenden Individualisierung bzw Singularisierung in der Familie gezeigt. Sie begegnet bei der Entwicklung zu Individualräumen und zu individualisierten Lebensläufen, deren Phasenablauf schwierig zu synchronisierten ist, genauso wie in den Auswirkungen der Massenmedien. Wenn der Prozeß der Entgrenzung, der Beschleunigung, des zunehmenden Medieneinflusses und damit der Rückgang von Kopräsenz, Kontinuität und direkter Kommunikation in der Familie weitergeht, so ist mit einer Verstärkung dieses Trends zu rechnen. Die Spannung zwischen Individualisierung und Familienbindung zu bewältigen erscheint als eines der Hauptprobleme zukünftiger Familienentwicklung.” – Mitterauer, Räume – Zeiten – Kommunikation, aaO 60 ff.
Individualisierung


Präsentation Durchschnittlicher
Zeitaufwand (in Stunden) von in Partnerschaft lebenden Personen
mit Kindern für Erwerbs-, Haus und Familienarbeit 1992
Abbildung 16.1:
Präsentation Durchschnittlicher Zeitaufwand (in Stunden) von in Partnerschaft lebenden Personen mit Kindern für Erwerbs-, Haus und Familienarbeit 1992