Suche:

6.11.1968: Zum Stand der Südtirolfrage. Memorandum BMfAA

Zum gegenwärtigen Stand der Südtirolfrage

Eine realistische Außenpolitik in der Frage Südtirol kann nur darauf gerichtet sein, im Rahmen der bestehenden internationalen Ordnung ein Höchstmaß an Selbstverwaltung für die Südtiroler zu erreichen. Konkret geht es dabei nach österreichischer Auffassung um die vollständige Verwirklichung des Pariser Abkommens vom 5. September 1946. Die unzureichende Erfüllung dieses Vertrages durch Italien hat bekanntlich dazu geführt, daß Österreich in den Jahren 1960 und 1961 das Südtirolproblem vor die Vereinten Nationen gebracht hat. Eine im Oktober 1960 von der Generalversammlung einstimmig angenommene und im Jahr darauf bestätigte Resolution mit der Aufforderung zu weiterem Verhandeln ist die Grundlage der seither unternommenen Bemühungen um eine befriedigende Lösung des Südtirolproblems.

Die Verhandlungen mit Italien umfassen zwei Aspekte; den materiellen und den prozeduralen. Der materielle Aspekt betrifft die Verbesserung der Südtiroler Autonomie. Hier ist es im Laufe der österreichisch-italienischen Kontakte gelungen, eine grundsätzliche Einigung über ein "Paket" von Maßnahmen zugunsten der Südtiroler Bevölkerung zu erzielen. In diesem Zusammenhang ist es von wesentlicher Bedeutung, daß ein repräsentatives Gremium der Südtiroler Volksgruppe am 23. März 1967 eine positive Stellungnahme zu dem vorliegenden italienischen Angebot abgegeben hat.

Während also in der Substanz der Weg zu einer einvernehmlichen Lösung im wesentlichen geebnet erscheint, ist der zweite Aspekt des Problems, die prozedurale Frage, noch Gegenstand der laufenden Verhandlungen mit Italien. Es geht darum, unter welchen Voraussetzungen Italien die in Aussicht gestellten Maßnahmen verwirklicht und auf welche Weise die tatsächliche Durchführung dieser Maßnahmen sichergestellt werden kann. Die Schwierigkeiten, vor denen wir hier stehen, ergeben sich daraus, daß Italien das Pariser Abkommen von 1946 als bereits erfüllt betrachtet und die vorgesehenen Maßnahmen zur Verbesserung der Südtiroler Autonomie als freiwillige Leistung bezeichnet. Italien war bisher nicht bereit, den Pariser Vertrag als Rechtsgrund für diese Maßnahmen anzuerkennen oder sich zu deren Durchführung durch einen neuen Vertrag zu verpflichten. Angesichts dieser italienischen Haltung war es trotz jahrelanger Bemühungen mehrerer österreichischer Regierungen nicht möglich, eine rechtliche Garantie für die von Italien angebotenen Maßnahmen zu erreichen.

Herrn Minister Dr. Kreisky ist es im Dezember 1964 gelungen, sich mit seinem italienischen Kollegen auf eine Lösungsmöglichkeit zu einigen, in deren Rahmen ein internationales Schiedsgericht hätte feststellen können, ob Italien die in Aussicht gestellten Maßnahmen, das "Paket", tatsächlich durchgeführt hat. Diese Lösungsmöglichkeit konnte bekanntlich deshalb nicht verwirklicht werden, weil die von Italien angebotenen materiellen Zugeständnisse damals nach Auffassung der Südtiroler unzureichend waren. Während Italien sein substantielles Angebot in der Folge erweiterte, hat es seine Bereitschaft hinsichtlich des Schiedsgerichts sehr bald wieder zurückgezogen. Ohne die Bedeutung der Lösungsmöglichkeit vom Dezember 1964 zu übersehen, muß allerdings bemerkt werden, daß das Schiedsgericht lediglich die Befugnis gehabt hätte, die Durchführung oder Nichtdurchführung des "Pakets" festzustellen, nicht aber die Durchführung des Paketes zu erzwingen. Eine rechtliche Garantie für die Verwirklichung der im Paket vorgesehenen Maßnahmen hätte das Schiedsgericht nicht geboten.

Bei all diesen Überlegungen sollte jedoch nicht vergessen werden, daß die Tatsache der Durchführung des "Pakets" für die Südtiroler von wesentlicherer Bedeutung ist als die Frage, auf welche Weise diese Durchführung sichergestellt wird. Es wäre deshalb von österreichischer Seite nicht zu verantworten gewesen, auf eine erreichbar scheinende substantielle Lösung nur deshalb zu verzichten, weil mit Italien keine gemeinsame rechtliche Grundlage und somit auch keine rechtliche Garantie für diese Lösung erreicht werden konnte. Die österreichische Seite hat sich daher in all den Jahren bemüht, mangels Erreichbarkeit einer juristischen Garantie - zu der Italien gegen seinen Willen nicht veranlaßt werden kann - einen Weg zu finden, der auf andere Weise die größtmögliche Sicherheit für die Durchführung des "Pakets" von Maßnahmen zugunsten der Südtiroler Bevölkerung bietet. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, daß die Beilegung der seit 1960 bei den Vereinten Nationen anhängigen Auseinandersetzung auch im Interesse Italiens liegt. Die österreichische Streitbeendigungserklärung, verbunden mit der künftigen Zuständigkeit des IGH für Streitigkeiten aus dem Pariser Vertrag, hätte somit den Charakter einer Gegenleistung für die Durchführung der von Italien in Aussicht gestellten Maßnahmen.

Die Bemühungen der vergangenen Jahre waren darauf gerichtet, die italienische Leistung und die österreichische Gegenleistung zu präzisieren und hiefür einen Zeitplan auszuarbeiten. Das Prinzip dieses sogenannten Operationskalenders besteht darin, daß die beiderseitigen Schritte Zahnrädern vergleichbar ineinandergreifen. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, daß die österreichische Gegenleistung durch die Erbringung der italienischen Leistung (= vollständige Durchführung des Pakets) bedingt ist. Für Österreich ist wesentlich, daß die Streitbeendigungserklärung erst dann geschuldet sein wird, wenn italienischerseits die im Paket vereinbarten Zusagen verwirklicht worden sind. Die Feststellung, ob das Paket durchgeführt ist, soll nunmehr - anstelle der seinerzeit in Aussicht genommenen Schiedsinstanz - Österreich selbst zustehen.

Die Verwirklichung der im Paket vorgesehenen verbesserten Autonomie für Südtirol kann auch den Weg für verstärkte freundschaftliche Beziehungen zwischen Österreich und Italien öffnen, die angesichts der vielfältigen kulturellen und wirtschaftlichen Verbindungen zwischen diesen Ländern wünschenswert wären. Die Bereinigung des Südtirolproblems muß freilich als Voraussetzung, nicht erst als Folge dieser Intensivierung unserer freundschaftlichen Beziehungen betrachtet werden.

Aus dieser Darstellung läßt sich erkennen, daß die gegenwärtige österreichische Südtirolpolitik die konsequente Fortsetzung und Weiterentwicklung jener Politik darstellt, die seit der Befassung der Vereinten Nationen im Jahre 1960 von allen österreichischen Regierungen verfolgt wurde. Diese kontinuierliche und von der politischen Zusammensetzung der jeweiligen österreichischen Regierung unabhängige Entwicklung hat ihren Grund nicht zuletzt darin, daß die Leitlinien einer zielstrebigen österreichischen Südtirolpolitik weitgehend durch die sachlichen Gegebenheiten bestimmt sind. Bei nüchterner Betrachtung der Realitäten, denen wir in der Frage Südtirol gegenüberstehen, ist nach unserer Überzeugung für parteipolitische Aspekte kein Spielraum gegeben.

Quelle: ÖStA, AdR, BMfAA, II-pol, Südtirol, Karton 141.