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16.10.1958: Stand und Zielsetzung der Verhandlungen mit Italien. Vortrag von Leopold Figl an den Ministerrat

Verschluß !

Nicht zur Veröffentlichung bestimmt!

Vortrag an den Ministerrat.

Am 8. Oktober 1956 hat das Bundeskanzleramt, Auswärtige Angelegenheiten, der hiesigen Italienischen Botschaft ein Memorandum überreicht, das die Auffassung der österreichischen Bundesregierung hinsichtlich der Anwendung und Durchführung des Pariser Abkommens vom 5. September 1946 enthält und die Bildung einer gemischten österreichisch-italienischen Expertenkommission zur Prüfung der strittigen Fragen vorschlägt. In ihrem Antwortmemorandum vom 9. Feber 1957 vertritt die italienische Regierung die Ansicht, den Meinungsaustausch über Südtirol auf dem normalen diplomatischen Wege zu führen. Mit Rücksicht auf die innerpolitischen Verhältnisse Italiens wurde übereinstimmend festgelegt, die Frage Südtirol im Rahmen allgemeiner österreichisch-italienischer Verhandlungen zu besprechen, die mit einem Treffen der beiden Außenminister abgeschlossen werden sollen. In die vereinbarte Tagesordnung, die ich mir beizulegen erlaube, wurde die Frage Südtirol als Punkt 5 aufgenommen und am 24. Juni 1958 mit seiner Behandlung begonnen.

Zu diesem Punkt wurden in der Reihenfolge des österreichischen Memorandums die Beschwerden betreffend die Erfüllung des Pariser Abkommens, und zwar bisher die Frage des Artikels 1 b: Gleichberechtigung der deutschen Sprache und Artikel 1 d: Besetzung der öffentlichen Stellen im Verhältnis zur Stärke der Volksgruppen besprochen. In beiden Punkten zeigte die italienische Seite ein gewisses Entgegenkommen, ohne endgültig Stellung nehmen zu können. Je ein umfassendes und ins Einzelne gehende Arbeitsdokument mit unseren Forderungen wurde - nach Fühlungnahme mit den Südtirolern - der italienischen Botschaft zur Weiterleitung an die italienische Regierung übergeben. Ihre Stellungnahme steht noch aus. Nach Abschluß der Sommerferien werden die Verhandlungen nunmehr mit dem neuen italienischen Botschafter wieder aufgenommen werden, wobei mit den beiden genannten Punkten wieder begonnen werden soll. In der Reihenfolge der nächste und zugleich zentrale Punkt ist dann der Artikel 2 des Pariser Abkommens.

Dieser Artikel sieht im ersten Satz die Gewährung einer Autonomie für das Gebiet der heutigen Provinz Bozen (= Südtirol) vor, doch sollte nach Satz 2 der Rahmen für die Anwendung dieser Autonomie in Beratung auch mit einheimischen deutschsprachigen Repräsentanten festgelegt werden. Eineinhalb Jahre später wurde die neue italienische Verfassung publiziert, die die autonome Region Trentino-Tiroler Etschland schuf. Dadurch wurde das fast rein italienische Gebiet der Provinz Trient mit Südtirol zusammengeschlossen, so daß in der Gesamtregion eine italienische Mehrheit von 5:2 entstand.[1]

Das auf Grund der Verfassung erlassene und am 14. März 1948 in Kraft getretene Regionalstatut räumte zwar den beiden Provinzen gleichfalls eine gewisse Autonomie ein, wies jedoch den überwiegenden Teil der autonomen Befugnisse der Region zu.

Die italienische Regierung steht auf dem Standpunkt, daß bei den Verhandlungen in Paris die Möglichkeit der Verbindung der Provinz Bozen mit der Provinz Trient zu einer autonomen Region offen gelassen wurde. Die Vertreter der Südtiroler Volkspartei hätten mit Schreiben vom 28. Jänner 1948 ihre Zustimmung zur Errichtung der Region gegeben.

Dazu ist zu bemerken:

Laut Brief Außenminister Dr. Grubers an Otto von Guggenberg vom 24. September 1946 sollte die Vereinigung Südtirols mit Trient zu einer autonomen Region nach mündlicher Absprache bei Abschluß des Pariser Abkommens nur dann von Österreich gutgeheißen werden können, wenn sie "die freie, von Druckmitteln nicht beeinflußte Zustimmung der Südtiroler fände". Nun wurde aber die neue italienische Verfassung, die die Errichtung der autonomen Region Trentino - Tiroler Etschland vorsieht, in der italienischen Verfassunggebenden Versammlung, in der die Südtiroler überhaupt nicht vertreten waren, ohne vorhergehende Beratung mit der Südtiroler Volkspartei, geschweige denn mit ihrer Zustimmung, am 22. Dezember 1947 beschlossen. Die Südtiroler wurden also vor eine vollendete Tatsache gestellt. Eine freie, von Druck unbeeinflußte Zustimmung der Südtiroler zur Errichtung der Region liegt also nicht vor.

In wiederholten Entschließungen, zuletzt am 12. Juli 1958, hat die Landesversammlung der Südtiroler Volkspartei die Forderung auf echte Autonomie für Südtirol als eigene Region erhoben. Am 4. Feber 1958 haben die Abgeordneten der Südtiroler Volkspartei im italienischen Parlament den Entwurf eines Autonomiestatuts für die Region Südtirol eingebracht.

Der Tiroler Landtag hat in seiner Entschließung vom 26. September 1958 erklärt, daß er diese Forderung unterstütze und von der österreichischen Bundesregierung erwarte, daß sie gegenüber der italienischen Regierung auf der Erfüllung dieser Forderung bestehen wird.

Im österreichischen Memorandum wurde bereits festgestellt, daß weder der Inhalt noch die bisherige Anwendung der im Sonderstatut für die Region Trentino - Tiroler Etschland enthaltenen Bestimmungen über die Provinzialautonomie für die Provinz Bozen es der deutschsprachigen Bevölkerung ermöglichen, eine wirkliche "autonome Gesetzgebungs- und Vollzugsgewalt", wie sie ihr im Pariser Vertrag zugesichert worden war, auszuüben und daß demnach dem Artikel 2 des Pariser Vertrages bis heute nicht Genüge geleistet wurde. Die österreichischen Unterhändler werden daher im Sinne des Memorandums mit Recht fordern können und mit allem Nachdruck fordern müssen, unserer Volksgruppe die im Pariser Abkommen Artikel 2 zugesagte "autonome gebietsmäßige Gesetzgebungs- und Vollzugsgewalt" für jenes Gebiet zu geben, in dem sie die Zweidrittelmehrheit besitzt. Das bedeutet, daß die Provinz Bozen (Südtirol) eine mit allen jenen Kompetenzen ausgestattete Autonomie erhalten muß, die den Schutz des Volkscharakters der Südtiroler zu gewährleisten imstande sind.

Ich werde mir erlauben, über den weiteren Verlauf der Verhandlungen zu gegebener Zeit zu berichten und stelle den

Antrag,

der Ministerrat wolle diesen Bericht genehmigend zur Kenntnis nehmen.

Wien, am 16. Oktober 1958.

Figl   m.p.

[1] Die Provinz Trient zählte laut ital. Zensus vom 4.11.1951 394.704, die Provinz Bozen 333.900 Personen Wohnbevölkerung. Die Statistik des Grenzzonenamtes beim italienischen Ministerpräsidium aus 1946 gibt für die Provinz Bozen 311.039 Personen an, die sich in 101.929 Italiener, 192.262 Südtiroler, 12.267 Ladiner und 4581 Ausländer aufgliedern. [Anm. i. O.]

Quelle: ÖStA, AdR, BKA,AA, II-pol, Südtirol, Karton 28.