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29.3.1956: Möglichkeiten einer gesamtösterreichischen Südtirolpolitik. Memorandum BKA,AA

Geheim!

Möglichkeiten einer gesamtösterreichischen Südtirol-Politik.

Während es das Vorrecht politischer Kreise ist, die nicht die Verantwortung für die österreichische Außenpolitik zu tragen haben, in der Südtirol-Frage nationalen und irrationalen Gefühlen freien Lauf zu lassen, haben die Bundesregierung und, wie gerade die letzten Tage gezeigt haben, vor allem der Bundesminister für die Auswärtigen Angelegenheiten die äußerst undankbare und unpopuläre Aufgabe, sich hier von sachlichen Momenten und Erwägungen politischer Opportunität leiten zu lassen. Der schon seit langem latente Konflikt zwischen diesen einander anscheinend zwangsläufig entgegenstehenden Auffassungen ist im Anschluß an die Romreise des Außenministers explosiv zum Ausdruck gekommen.

Im Hinblick auf die heftigen, nicht nur gegen den Bundesminister für die Auswärtigen Angelegenheiten und das BKA,AA, gerichteten, sondern darüber hinaus auf die Südtirol-Politik der Bundesregierung im allgemeinen abzielenden Angriffe erscheint es geboten, sich wieder einmal über die - leider beschränkten - Möglichkeiten klar zu werden, die für den Ballhausplatz in der Südtirolfrage überhaupt gegeben sind. Hiebei muß zunächst eindeutig festgestellt werden, daß Südtirol nicht nur eine Herzensangelegenheit der Tiroler, sondern aller Österreicher ist. Jede österreichische Außenpolitik wird daher trachten müssen, aus einer gegebenen Situation das Maximum des Erreichbaren für die Südtiroler Bevölkerung herauszuholen. In der Zielsetzung decken sich jedenfalls die Innsbrucker und Wiener Wünsche; verschiedene Auffassungen bestehen nur über die Wege, die zu diesem Ziel führen sollen.

Den Ausgangspunkt für jede Südtirol-Erörterung wird leider die Grundtatsache bilden müssen, daß sich die österreichische Hoffnung, das Unrecht von Saint Germain werde nach dem zweiten Weltkrieg wieder gutgemacht werden, nicht erfüllt hat. In der in London im Herbst 1945 abgehaltenen Außenministerkonferenz, bei der Italien bereits durch seine Diplomaten hinter den Kulissen vertreten war, ist der bindende (nie veröffentlichte) Beschluß gefaßt worden, Südtirol weiterhin bei Italien zu belassen. Wie man später erfahren konnte, sollen hiefür vor allem strategische Erwägungen maßgebend gewesen sein. Hätte Österreich damals schon auf der diplomatischen Bühne auftreten können, wäre dieser Beschluß vielleicht verhindert worden; so war es nicht möglich, da unsere Vertreter erst zu Beginn des Jahres 1946 in das Ausland entsendet werden konnten, wo sie bereits eine res judicata vorfanden. Im Lichte dieser Tatsachen ist es dann im Herbst 1946 im Einvernehmen mit den Südtiroler Vertretern, die während der ganzen Dauer der Verhandlungen der österreichischen Delegation mit Rat und Tat zur Seite standen, zu dem bekannten Pariser Abkommen zwischen Österreich und Italien gekommen, das als Annex in den italienischen Friedensvertrag eingebaut wurde und seither die Grundlage der österreichisch-italienischen Beziehungen in der Südtirol-Frage bildet.

Die Frage, die sich damals stellte, war die: Sollte die österreichische Delegation mit Nichts zurückkehren oder durch Unterzeichnung dieses Vertrages wenigstens die Grundrechte der Südtiroler Bevölkerung gewahrt wissen? Im Einvernehmen mit den Südtiroler Vertretern - und dies darf nochmals hervorgehoben werden - hat sich die österreichische Bundesregierung damals zu der zweiten Alternative entschlossen. Eine ähnliche Frage stellt sich heute: Soll das Gruber - De Gasperi Abkommen weiterhin als Grundlage für die österreichisch-italienischen Beziehungen in der Südtirol-Frage angesehen werden oder soll, nachdem man auf dem bisherigen Weg in den letzten zehn Jahren nicht wirklich weitergekommen ist, österreichischerseits nunmehr wieder die Forderung auf Südtiroler Selbstverwaltung im vollen Umfang oder darüber hinaus auf Rückgabe Südtirols an Österreich erhoben werden?

Es ist verständlich, daß gerade der Staatsvertrag in Tirol die psychologischen Voraussetzungen für letzteres geschaffen hat. Für jeden, der sich mit außenpolitischen Fragen nicht beruflich zu befassen hat, wird es auch nur logisch erscheinen, daß ein lebendiger Organismus, der wie der österreichische Staat endlich aus der Vormundschaft entlassen ist und seine eigenen Kräfte benützen kann, sich wieder um die Dinge kümmert, die ihm in der Zwischenzeit geraubt worden sind. In diesem Zusammenhang ist in letzter Zeit wiederholt die Ansicht vertreten worden, daß, nachdem die Befreiung der Völker von fremder Herrschaft im Zuge der Zeit liege, Österreich mit der Südtirol-Frage vor die Vereinten Nationen gehen müßte, wie dies z. B. auch Griechenland in allerjüngster Zeit mit der Cypern-Frage getan habe.

Es ist richtig, daß wir in einer geschichtlichen Phase leben, in der es einem Großteil der unter Kolonialherrschaft lebenden Völker gelungen ist oder noch gelingen wird, sich von der Fremdherrschaft zu befreien. Es ist eine Tatsache, daß der ganze Ferne und Nahe Osten, daß Nordafrika ebenso wie Cypern im Aufruhr sind. Wäre es bei dieser Sachlage nicht selbstverständlich, daß die österreichische Außenpolitik eine analoge Entwicklung in Südtirol fördern müßte?

Die Hoffnung, daß die außenpolitische Konstellation es uns eines Tages erlauben wird, derartige Forderungen nicht nur aufzustellen, sondern auch erfolgreich zu vertreten und durchzusetzen, ist zweifelsohne ziel- und richtunggebend für jede auf lange Sicht planende österreichische Südtirol-Politik. Darüber braucht wohl kein Wort verloren werden. Heute aber - und dies ist die felsenfeste Überzeugung des BKA,AA, das hier warnend seine Stimme erheben möchte - kann und darf mit diesen Dingen nicht gespielt werden. Es könnte hierdurch eine Entwicklung in Gang gesetzt werden, und zwar nicht für Südtirol, sondern für Österreich, die der späteren Beeinflussungsmöglichkeit durch Wien entgleiten würde. Nehmen wir den Fall an, Österreich ginge vor die UN. Wer würde uns dort unterstützen? Die Westmächte? Die Kolonialmächte? Der Block der italienfreundlichen lateinamerikanischen Staaten? Sicherlich keiner dieser Staaten. Der Kernpunkt des Problems liegt nämlich darin, daß die österreichische Position in der Südtirol-Frage durch den Staatsvertrag in Wahrheit nicht stärker, sondern zunächst einmal wesentlich schwächer geworden ist. Das für Italien so leicht zu formulierende Argument, es müsse verhindert werden, daß das "neutralistische" Gedankengut seine Ausstrahlung über die Brennergrenze werfe und auf diese Weise das NATO-Mitglied Italien) korrumpiere, muß zwangsläufig im gegenwärtigen Augenblick im Westen auf fruchtbaren Boden fallen. Bevor wir Probleme, die nicht unmittelbar mit unserer Eigenstaatlichkeit verbunden sind, an ein Forum wie die Vereinten Nationen herantragen dürfen, wird es notwendig sein, zunächst einmal unsere Zugehörigkeit zum Westen unter Beweis zu stellen, das Vertrauen zu erwerben, daß das neutrale Österreich kein neutralistisches Österreich ist, durch Aufstellung einer Armee zu zeigen, daß wir in der Lage und bereit sind, unsere Grenzen zu verteidigen. Dann erst könnten wir einigermaßen Aussicht auf Erfolg haben, ohne dabei unsere eigene Entwicklung auf das schwerste zu gefährden. Wenn wir heute mit der Südtirol-Frage vor die UN gehen würden, könnten wir sicher sein, als glühende Verfechter unserer Interessen nur die Vertreter der Ostblock-Staaten sowie der neutralistischen und unzufriedenen Staaten Asiens zu finden. Das Resultat wäre verheerend. Wir würden zwar in der Südtirol-Frage nichts erreichen, das erste Auftreten Österreichs auf internationalem Boden wäre jedoch Hand in Hand mit dem Osten erfolgt. Ohne es zu wollen, würden wir uns plötzlich in der politischen Zwitterstellung Ägyptens oder Afghanistans befinden. Die Möglichkeiten, die für Österreich bestehen, durch eine ruhige und klare neutrale Politik das Vertrauen des Auslandes, das letzten Endes die einzig wirksame Garantie für unsere Existenz bildet, aufzubauen und auszubauen, wären durch eine solche leichtfertige Aktion ernstlich in Frage gestellt.

Wird man sich vor Einschlagen einer solchen Politik nicht ferner auch die Frage stellen müssen, ob sich das junge, neutrale Österreich, das zu dem Aufbau im Inneren und zum Ausbau seiner Position nach außen dringendst Ruhe braucht, einen offenen Konflikt mit einem seiner beiden großen westlichen Nachbarstaaten, der in diesem Fall unvermeidbar wäre, wirklich leisten kann?

Eine verantwortungsbewußte österreichische Außenpolitik kann sich demnach im Augenblick in der Südtirol-Frage nicht von gefühlsbetonten Momenten leiten lassen. Es erschiene dringend geboten, in obigen Sinne auch mit den verantwortlichen Kreisen Tirols Fühlung aufzunehmen, um es ihrer Beurteilung zu überlassen, ob es nicht richtiger wäre, heute nicht mit dem Feuer zu spielen, sondern sicherlich berechtigte nationale Wünsche, die auch Wien am Herzen liegen, für den Moment im gesamtnationalen Interesse, aber auch um der Sache selbst willen, zurückzustellen. Unter den heutigen politischen Gegebenheiten könnte mit einer solchen Politik für die Südtiroler Volksgruppe nicht nur nichts erreicht, sondern möglicherweise deren Position sogar gefährdet werden.

Wiewohl die Verhältnisse nicht gleichartig sind, darf in diesem Zusammenhang auf die deutsche Politik bezüglich der Saar verwiesen werden. In den zehn Jahren, die seit der Beendigung des Krieges verflossen sind, ist nicht ein einziges Mal der Ruf, der zwischen den beiden Kriegen so laut vernehmlich war, "deutsch ist die Saar" ertönt. Die deutsche Bundesregierung wußte genau, warum sie statt dessen immer nur "Freundschaft mit Frankreich"gepredigt und alle schwebenden Streitfragen in ihre Politik der europäischen Zusammenarbeit und Zugehörigkeit eingebaut hat. Diese nationale Disziplin war eines der wesentlichsten Momente, die es möglich gemacht haben, nach und nach beinahe unbemerkt eine Situation herbeizuführen, die praktisch einer Rückkehr der Saar nach Deutschland gleichkommt.

 

Wenn man also zu dem Ergebnis gelangt ist, daß die Zeit für "dramatische Aktionen" nicht reif ist, wird man wohl wieder auf das Gruber-De Gasperi Abkommen als die im Augenblick einzig mögliche Grundlage der österreichischen Südtirol-Politik zurückkehren müssen. Durch dieses Abkommen ist das Südtirol-Problem jedenfalls zu einer zwischenstaatlichen Frage gestempelt worden, sodaß das italienische Argument, es handle sich hier um eine rein interne italienische Angelegenheit, völkerrechtlich keine Geltung mehr haben kann. Mit diesem Abkommen ist Österreich ferner das Recht der Interessenahme zuerkannt worden, was nicht einmal von italienischer Seite bestritten wird.

Welche Möglichkeit hat nun Österreich, darauf einzuwirken, daß Italien seinen vertraglich übernommenen Verpflichtungen, die es bisher nur schleppend und in Bruchstücken erfüllt hat, in vollem Umfange nachkommt? Da das Abkommen kein Forum vorsieht, vor das Streitigkeiten, Auslegungsfragen und Probleme der Durchführung gebracht werden könnten, wird man sich die Frage stellen müssen, ob die Anwendung der nach allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen zur Durchführung von Rechtsansprüchen zulässigen Mittel (Repressalien, Retorsionsmaßnahmen u. dgl.) im gegenständlichen Falle zweckmäßig erschiene. Hier wird man leider zu dem Ergebnis kommen, daß derartige Maßnahmen praktisch nur in ganz beschränktem Umfang möglich sein werden, da das "Faustpfand" in italienischer Hand ist und eine analoge Situation auf österreichischem Boden nicht besteht. Es bliebe also nur der Wirtschaftskrieg übrig, der aber in beiden Teilen Tirols höchst unpopulär wäre, da ja gerade das "Accordino" der vielleicht stärkste Faktor ist, durch den auch heute noch die Zusammengehörigkeit Tirols nach außen hin zum Ausdruck gebracht wird; ganz abgesehen davon, daß voraussichtlich auch Österreich angesichts des Umstandes, daß der Italienhandel heute nicht weniger als 17% unseres gesamten Exportes und 8% unseres gesamten Importes umfaßt, durch eine solche Maßnahme noch mehr betroffen wäre als Italien. Als letzte Möglichkeit käme allenfalls noch die Anwendung der im italienischen Friedensvertrag vorgesehenen internationalen Schiedsgerichtsklauseln in Betracht, nachdem das Gruber-De Gasperi-Abkommen einen integrierenden Bestandteil dieses Vertrages bildet. Ein diesbezügliches Verlangen ist in jüngster Zeit seitens der SVP gestellt worden. Die juristische Seite dieser Frage wird geprüft werden. Politisch wäre dazu zu sagen, daß ein solcher Schritt jedenfalls nicht ohne gründliche Vorbereitung und ohne die erforderlichen Unterstützungszusicherungen erfolgen dürfte, da sich ein negativer Ausgang äußerst ungünstig auf die Situation der Südtiroler auswirken müßte.

Man wird sich ferner die grundlegende Frage stellen müssen, ob nicht doch denjenigen Stimmen recht gegeben werden müßte, die der Überzeugung sind, Italien werde nur eine scharfe und schärfste Sprache verstehen. Das bisherige leise Auftreten habe zu keinem greifbaren Erfolg geführt, das Abkommen sei vor allem dem Geiste nach nicht erfüllt worden, das Gespenst der Unterwanderung bedrohe die Existenz der Südtiroler Volksgruppe. Dieser Entwicklung könne nur durch energischestes Auftreten (Androhung der Anrufung der UN, Zeitungskampagnen, Massenkundgebungen und dgl.) Einhalt geboten werden, da damit den Italienern der Ernst der Lage vor Augen geführt werden könnte. Wird denn eine italienische Regierung wirklich dem Druck eines ausländischen Staates nachgeben können? Erzeugt nicht gerade jeder Druck einen Gegendruck, wird nicht ein Problem durch Aufputschung der nationalen Leidenschaften in dem einen Land zu einer nationalen Prestigefrage in dem anderen Land? Die Leidtragenden einer solchen Entwicklung wären voraussichtlich die Südtiroler, da die Gefahr nicht von der Hand zu weisen ist, daß die Italiener in einem solchen Fall mit schärfsten Maßnahmen an Ort und Stelle vorgehen würden.

Wir werden - und es wird uns nichts anderes übrig bleiben - bei der Formulierung unserer Politik von der nackten Realität ausgehen müssen. Erfolge werden derzeit bei der gegenwärtigen politischen Konstellation nicht gegen die italienische Regierung, sondern nur im Einvernehmen mit ihr erzielt werden können. Unsere Aufgabe wird es sein, jene Voraussetzung zu schaffen, die es der italienischen Regierung nicht nur möglich machen, sondern es ihr auch notwendig erscheinen lassen, den Vertrag im vollen Umfang dem Buchstaben und dem Geiste nach zu erfüllen.

Die österreichische Südtirol-Politik ist demnach vorgezeichnet: Unsere Stärke liegt darin, daß wir von dem vertraglich zuerkannten Rechtsanspruch ausgehen und uns auf den Grundsazt "pacta sunt servanda" stützen können. Die österreichische Außenpolitik wird demnach keine Zweifel darüber aufkommen lassen dürfen, daß die österreichische Bundesregierung unverändert auf dem Boden des Pariser Abkommens steht. Dabei wird jedoch hervorgehoben werden müssen, daß

a) der Abschluß dieses Abkommens für Österreich ein empfindliches nationales Opfer bedeutet habe, das es im Interesse der Befriedung Südtirols auf sich genommen habe,

b) Österreich damit nicht nur den juristischen, sondern auch den moralischen Anspruch erworben habe, von Italien eine Erfüllung der im Vertrag übernommenen Leistungen im vollen Umfang zu verlangen,

c) Italien jedoch diesen Verpflichtungen bis heute nur schleppend nachgekommen sei und

d) demnach noch eine Unzahl von Fragen offen stehe, die hoffentlich bald im Geiste der gemeinsamen europäischen Tradition einer Lösung zugeführt werden würden.

Eine solche Politik, die eine unermüdliche Klein- und Kleinstarbeit erfordern wird, wird nach Ansicht des BKA,AA, nur dann zu einem gewünschten Erfolg führen, wenn sie sich in einer Atmosphäre der Ruhe entwickeln kann. In den diesbezüglichen diplomatischen Verhandlungen und bilateralen Besprechungen werden die österreichischen Vertreter den österreichischen Standpunkt mit aller Deutlichkeit und allem Ernst darzulegen haben. Man wird hier unter anderem immer wieder betonen müssen, daß dem Geist und Zweck des Abkommens, der expressis verbis in seinem Art. 1 festgehalten ist, bisher nur in ganz geringem Maße Rechnung getragen worden sei und daß Österreich daher gezwungen sein werde, mit allen völkerrechtlich zulässigen Mitteln vorzugehen, wenn in der italienischen Politik keine Änderung eintreten sollte. Man wird hier auf die innenpolitischen Schwierigkeiten hinweisen können, die für jede österreichische Regierung, die ein gutnachbarliches Verhältnis mit Italien anstrebt, zwangsläufig durch die mangelnde Vertragstreue der italienischen Regierung entstehen müßte. Man wird ferner den Gesprächspartnern das ihnen sicherlich besonders unsympathische Gespenst einer möglichen Verwandlung der heute noch österreichisch-italienischen Frage in eine deutsch-italienische drastisch vor Augen führen und ihnen beweisen können, daß eine solche Entwicklung nur durch Erfüllung des Vertrages und Befriedigung der legitimen Wünsche der Südtiroler Volksgruppe zu vermeiden sein werde.

Nach außen hin wird es jedoch angezeigt sein, das Problem zu "entdramatisieren" und zu "europäisieren". Ohne diese beiden genannten Aspekte wird auch die vertragstreueste italienische Regierung, selbst dann, wenn sie dies für politisch zweckmäßig erkannt hat, aus innenpolitischen Gründen nicht in der Lage sein, die erforderlichen Maßnahmen gegenüber den eigenen radikalen und nationalen Elementen zu vertreten. Je mehr Akzent auf die bloße technische Durchführung eines längst abgeschlossenen Vertrages gelegt wird, je geringfügiger das Problem in seiner politischen Bedeutung für die italienische Öffentlichkeit dargestellt werden kann, desto größer sind die österreichischen Chancen, wirkliche Konzessionen zugunsten der Südtiroler zu erreichen. Hier wird vor allem eine Einbeziehung der Südtirol-Frage in die Politik der europäischen Zusammenarbeit von großem Nutzen sein, da damit ein gewisser Druck auf die italienische Öffentlichkeit ausgeübt werden könnte, auch ihrerseits einen Beitrag zur Befriedung Europas und damit zur Erhaltung der durch die Gefahr aus dem Osten bedrohten gemeinsamen europäischen Lebensform zu leisten. Im Lichte dieser Erkenntnis könnte vielleicht sogar später einmal erwogen werden, derartige Gedanken inoffiziell unter den Parlamentariern des Europarates zu lancieren. Nach unserem evt. Beitritt zu der in Straßburg geschaffenen Kommission für Menschenrechte erschiene es auch nicht ausgeschlossen, daß dort allfällige Individualpetitionen von Südtiroler Seite auf fruchtbaren Boden fallen könnten. Doch das sind alles Zukunftspläne, die an dieser Stelle nicht näher untersucht werden können.

Schon heute wird es sich vermutlich als zweckmäßig erweisen, zu überlegen, ob nicht die Versorgung der nichtitalienischen Auslandspresse mit Nachrichten über Südtirol auf eine neue systematische Grundlage gestellt werden müßte, um das internationale Interesse an der Frage als solcher wachzuhalten. Das Material hierüber müßte laufend aus Innsbruck geliefert werden, die Durchführung müßte dem BKA, Bundespressedienst, sowie dem BKA,AA, obliegen. Sollte ein diesbezüglicher, geheim zu haltender Beschluß gefaßt werden, so wird es erforderlich sein, hiefür auch budgetär vorzusorgen, da der bisherige Apparat - im Gegensatz zu dem italienischen - mangels der erforderlichen Mittel zu einer wirklich intensiven und systematischen Beeinflussung der ausländischen öffentlichen Meinung nicht ausreicht.

Einem allfälligen Einwand, daß alle derartigen Versuche eine vergebliche Liebesmühe seien, wie die vergangenen zehn Jahre eindeutig bewiesen hätten, kann seitens des Bundeskanzleramtes, Auswärtige Angelegenheiten, nicht beigepflichtet werden. Durch Anwendung der oben geschilderten Verhandlungstechnik sind gerade in der letzten Zeit beachtliche Erfolge erzielt worden. Im unmittelbaren Anschluß an den römischen Besuch des Herrn Bundesministers hat die italienische Regierung - mit der Bitte um noch vertrauliche Behandlung - die schriftliche Zusage abgegeben, daß in der für ca. 20. April vorgesehenen Sitzung der gegenständlichenExpertenkommission die Anerkennung der Studientitel für klassische Philologie, Germanistische Philologie, Geschichte, Philosophie und Psychologie erfolgen werde. Das würde bedeuten, daß praktisch mit Ausnahme der juristischen alle in Österreich absolvierten Studien auch in Italien Geltung haben würden. Die Anerkennung der juristischen Studientitel wird noch nachfolgen. Das heißt also, daß die Südtiroler in Südtirol die deutschsprachige Volksschule und die deutschsprachige Mittelschule besuchen können, wo sie den Unterricht von Lehrern empfangen werden, die in Innsbruck oder Wien studiert haben, und daß sie dann ebenfalls ihre Studien in Wien oder Innsbruck vollenden können. Die Tragweite dieser Wendung, die weit über die Bestimmungen des Artikels 3 b des Pariser Abkommens hinausgeht, da dort nur von der Anerkennung "bestimmter Doktortitel" (im italienischen Text "alcuni") die Rede ist, braucht wohl nicht näher ausgeführt zu werden. Das für die Zukunft entscheidende Gebiet der Erziehung wird von nun an von der Volksschule bis zur Vollendung der Universitätsstudien dem österreichischen Einfluß überlassen sein.

Es ist dies sicherlich ein Schritt in der Richtung der Erhaltung des Tiroler Charakters des Landes, dem weitere folgen werden, wenn die angebahnte Entwicklung nicht durch atmosphärische Störungen vereitelt wird. Von noch wesentlicherer Bedeutung wäre der Ausbau des Abkommens durch Errichtung einer gemischt österreichisch-italienischen Kommission. Eine diesbezügliche, noch geheimzuhaltende Unterstützungszusage ist bekanntlich während der Anwesenheit des Herrn Bundesministers in Rom erfolgt. Würde diese angebahnte Entwicklung wirklich von Erfolg gekrönt werden, so wäre endlich die Maschinerie vorhanden, vor der alle Fragen der Auslegung und Durchführung des Vertrages zur Sprache gebracht werden könnten. Es braucht nicht betont zu werden, daß damit das Südtiroler Problem in eine neue und für Österreich hoffentlich erfreulichere Phase eintreten würde.

Wir sind damit am Ende der Untersuchung über die Möglichkeiten einer gesamtösterreichischen Südtirol-Politik angelangt, die keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erheben will, sondern lediglich als Diskussionsgrundlage zur Formulierung einer solchen Politik gedacht ist. Das Bundeskanzleramt, Auswärtige Angelegenheiten, glaubt zum Abschluß noch darauf hinweisen zu müssen, daß eine solche Politik nur dann wirksam werden könnte, wenn sich Wien und Innsbruck von den gleichen Gedanken und Richtlinien leiten lassen würden. Es bestünde sonst die Gefahr, daß jede Maßnahme und Äußerung der einen Seite durch Maßnahmen und Äußerungen der anderen Seite in ihrer Wirkung wieder aufgehoben würde. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß nicht ruhig mit verteilten Rollen vorgegangen werden könnte; ein Grollen Innsbrucks gegen Rom würde sich sicherlich oft befruchtend auf die Verhandlungsführung Wiens den Italienern gegenüber auswirken. Wesentlich erschiene nur ein gemeinsames Konzept, das doch im Interesse der gemeinsamen Sache, die beiden Teilen in gleicher Weise am Herzen liegt, nicht allzu schwer zu formulieren sein dürfte.

Quelle: Quelle: ÖStA, AdR, BKA,AA, II-pol, Südtirol, Karton 26.