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01.04.1952, Geheimes Protokoll einer Sitzung der leitenden Beamten des State Department. “Das weitere Vorgehen in der Deutschlandfrage “

 

01.04.1952, Geheimes Protokoll einer Sitzung der leitenden Beamten des State Department. Das weitere Vorgehen in der Deutschlandfrage 

 

I.
Inhaltliche Überlegungen

1. [...] In der Frage, ob wir wirklich die deutsche Wiedervereinigung wollen, schien es schwerwiegende Meinungsunterschiede [»very substantial differences of opinion«] und im Hinblick auf unsere grundlegenden Ziele in Europa erhebliche Unklarheiten zu geben. In der unmittelbar anstehenden Frage, ob wir gegenwärtig die Wiedervereinigung befürworten, machte Nitze klar, daß wir uns öffentlich für freie Wahlen ausgesprochen hätten, um so zur Wiedervereinigung zu kommen, und daß wir jetzt nicht eine andere Position einnehmen könnten.
Am Anfang stimmten Nitze und Bohlen darin überein, daß die von den USA bevorzugte Lösung der deutschen Frage ein vereintes Deutschland in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft sei. (Nitze und Bohlen äußerten beide erhebliche Zweifel, ob die Franzosen uns eine solche Lösung abnehmen würden; die Frage, wie die Franzosen zu einem geeinten Deutschland stehen würden, das nicht Mitglied der EVG wäre, wurde nicht diskutiert; aber wahrscheinlich würden sie dabei sehr schwere Bedenken haben, es sei denn, die deutsche Rüstungsindustrie würde auch weiterhin sehr strengen Kontrollen unterworfen.) Laukhuff und Lewis waren auch für ein wiedervereinigtes Deutschland als Mitglied der EVG; da sie aber Zweifel hatten, ob dies zu realisieren war, sprachen sie sich gegen die Einheit Deutschlands und gegen die Durchführung von freien Wahlen als vorbereitenden Schritt zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus. Nach Meinung der Deutschlandabteilung sei es besser, Westdeutschland als Mitglied in der EVG zu haben, als das Risiko eines wiedervereinigten Deutschlands auf sich zu nehmen, dem es freistünde, nicht Mitglied der EVG zu werden oder aus ihr auszutreten.
Die Diskussion darüber, ob eine Wiedervereinigung Deutschlands überhaupt erwünscht sei, erbrachte eher mehr als weniger Argumente dafür, daß ein wiedervereinigtes Deutschland kein wünschenswertes Ziel sei.
Bohlen, dem keine der beiden Lösungen behagte, glaubt, daß ein vereintes Deutschland in einem Europa, das noch geteilt ist, die außerordentlich große Gefahr einer deutschen Vorherrschaft über den Kontinent oder einer Wiederannäherung Deutschlands an die Sowjetunion in sich birgt. Bohlen glaubt, daß der sowjetische Vorschlag für eine Wiedervereinigung Deutschlands in erster Linie auf die politisch rechtsstehenden Unternehmer abzielt, die Adenauer unterstützen, und nicht so sehr auf die Sozialdemokraten; die Sowjetunion könnte die Unternehmer mit Absatzmärkten locken, die von Osteuropa bis an den Pazifik reichen (einschließlich China) – Absatzmärkte, wie Deutschland sie im Westen nur sehr schwer gewinnen könnte.
Nitze teilt einige der Befürchtungen von Bohlen hinsichtlich der Vorstellung eines »geeinten Deutschland in einem geteilten Europa«; aber Nitze spricht sich dafür aus, das Problem entschlossen anzupacken, d. h. eine Wiedervereinigung Deutschlands würde seiner Meinung nach die Wiedervereinigung Europas als Ganzes beschleunigen.
2. Man war sich auch nicht im klaren darüber, was die Westdeutschen wollen, d. h. wie sie bei möglichen Schritten der Sowjets oder des Westens reagieren werden.
Nitze und Ferguson glauben, daß die Westdeutschen in erster Linie an der deutschen Einheit interessiert sind. Ferguson ist der Meinung, daß die Westdeutschen, wenn sie zwischen Westintegration der Bundesrepublik und Wiedervereinigung zu wählen hätten, sich für die Wiedervereinigung entscheiden würden. Nitze stimmt zu, daß die Sowjets die Verhandlungen über den Deutschlandvertrag und die Teilnahme der Bundesrepublik an der EVG blockieren können, wenn sie ernsthaft ein freies, vereinigtes Deutschland wollen – was für sie die völlige Aufgabe Ost-Deutschlands bedeuten würde.
Nitze glaubt jedoch nicht daran, daß die Westdeutschen die einfache Wahl zwischen Integration und Wiedervereinigung haben werden. Er sieht eher eine Wahl zwischen Wiedervereinigung in naher Zukunft und jetziger Integration, die eine spätere Wiedervereinigung nicht ausschließt. Bei dieser Wahl würden sich die Deutschen nach Meinung Nitzes und der Deutschlandabteilung für die zweite Möglichkeit entscheiden. Ferguson äußerte schwere Zweifel an dieser Analyse; Geheimdienstberichte hätten ihn überzeugt, daß die Deutschen zuallererst die Einheit wollten und von den Sowjets ein ihrer Meinung nach ernstgemeintes Angebot annehmen würden. Er hält es für sehr schwierig, mit Erfolg für beide Ziele gleichzeitig Propaganda zu machen, wie Jessup vorgeschlagen habe, nämlich gleichzeitig den Schwerpunkt auf die deutsche Einheit und die Westintegration zu legen. Auf der anderen Seite neigt Bohlen zu der Annahme, daß wir den Willen der Westdeutschen nach Wiedervereinigung möglicherweise überschätzen; anders ausgedrückt, Bohlen fragt sich, ob die Westdeutschen in der Wiedervereinigungsfrage den Sowjets gegenüber nicht mißtrauischer sind, als wir dies bisher angenommen haben.
[...]

II.
Taktische Überlegungen
1. Im Hinblick auf die nächste Deutschlandnote [an die Sowjetunion] schlug Bohlen zwei Punkte vor, die exakt unsere Politik widerspiegeln, einfach formuliert sind und mit denen wir keinen Fehler machen können:
a) Wir treiben die Integration voran.
b) Wenn die Sowjetunion wirklich bereit ist, freie Wahlen und dann die Wiedervereinigung zuzulassen, sind wir bereit, die gesamtdeutsche Regierung über die weitere Teilnahme Deutschlands in der EVG und der Montanunion entscheiden zu lassen.
2. Man war sich einig, daß Gespräche mit der Sowjetunion über Deutschland, wenn möglich, vermieden werden sollten.
[...] Sollte es dennoch zu Gesprächen kommen, dann nur auf unterster Ebene.
3. Man war sich einig, daß die Propaganda in Deutschland verstärkt werden sollte [...] Insbesondere Bohlen wies darauf hin, daß wir stärker auf die von der sowjetischen Armee ausgehende Gefahr für Deutschland hinweisen müssen und auf die Notwendigkeit, dieser Gefahr durch eine Beschleunigung der Integration zu begegnen.
[...] Jessup schlug vor, den Versuch zu machen, vehement die These zu vertreten, daß eine Integration die Wiedervereinigung Deutschlands keineswegs ausschließe. Ferguson wiederholte seine Zweifel, daß wir die Deutschen davon überzeugen könnten [...]

(Department of State, Washington, 662.001/4-252)