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03.05.1946, Deutschland". Kabinettsvorlage des britischen Außenministers Ernest Bevin

 

03.05.1946, "Deutschland". Kabinettsvorlage des britischen Außenministers Ernest Bevin

 

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2. Bis vor wenigen Monaten waren wir der Meinung, das deutsche Problem beschränke sich einzig und allein auf Deutschland selbst und es gehe nur darum, den besten Weg zu finden, den Wiederaufstieg Deutschlands zu einer starken, aggressiven Macht zu verhindern. Zeitweilig wurde besonderer Nachdruck auf die Umerziehung gelegt, in der Regel ging es jedoch um Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen. Dieses Ziel kann selbstverständlich nicht aufgegeben werden, ist es doch eines, was wir mit den Russen gemeinsam verfolgen. Aber es kann nicht länger als unser einziges oder sogar wichtigstes Ziel betrachtet werden. Denn die russische Gefahr ist inzwischen mit Sicherheit genauso groß, möglicherweise aber noch größer als die Gefahr eines wiedererstarkten Deutschland. Am schlimmsten aber wäre ein wiedererstarktes Deutschland, das gemeinsame Sache mit Rußland macht oder von ihm beherrscht würde. Dadurch wird natürlich ein Problem, das schon kompliziert genug ist, noch sehr viel komplizierter.
Es geht darum, Schritte zu vermeiden, die die Deutschen auf Dauer von uns entfremden und in die Arme Rußlands treiben. Es geht darum, Flagge zu zeigen und nicht den Eindruck zu erwecken, als ob Rußland, wenn es zur Sache geht, in Vier-Mächte-Verhandlungen über Deutschland immer das erreicht, was es will. Es geht darum, die Probleme in unserer Zone nicht weniger konstruktiv anzupacken als die Russen in ihrer Zone lauthals verkünden. Und es geht vor allen Dingen darum, einen einigermaßen hohen Lebensstandard in Westdeutschland aufrechtzuerhalten, um die Kommunisten daran zu hindern, daß sie die wirtschaftliche Not, die die Bevölkerung leidet, zu ihrem Vorteil ausnutzen.
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6. Vorausgesetzt, wir sind nicht bereit, Rußland das Feld [in Deutschland] zu überlassen, dann ergibt sich die Frage, womit uns am besten gedient ist: an der in Potsdam festgelegten Politik festzuhalten und sie weiterzuentwickeln oder sie über Bord zu werfen und unsere Zone, unabhängig von den übrigen Zonen, allein nach unseren Vorstellungen zu organisieren und, soweit es uns möglich ist, die übrigen westlichen Zonen miteinzubinden.
Das Potsdamer Abkommen sieht die Dezentralisierung Deutschlands vor, aber auch die Entwicklung zentraler deutscher Verwaltungsstellen für bestimmte wirtschaftliche Zwecke. [...]
7. Unseren kurzfristigen Interessen wäre zweifelsohne am besten gedient, wenn diese zentralen Verwaltungsstellen ohne weitere Verzögerung errichtet würden. Für die Behandlung Deutschlands als wirtschaftliche Einheit sind sie unbedingt notwendig, und ihr Fehlen ist für die Russen ein willkommener Vorwand, ihre Zone nach außen abzuschotten. [...]
8. Wenn man davon ausgeht, daß sich aus den zentralen Verwaltungsstellen zu gegebener Zeit eine Zentralregierung entwickeln wird, können wir dieses Problem nicht nur unter dem kurzfristigen Aspekt der sofortigen Auswirkungen [dieser Verwaltungsstellen] betrachten. Es ist vielmehr wichtig abzuschätzen, welchen Kurs eine solche Zentralregierung einschlagen wird, wobei man gleichzeitig bedenken muß, daß, selbst wenn aus Westdeutschland ein separater Staat würde, auch dieser Staat dem mit Sicherheit gegen ihn gerichteten kommunistischen Druck der Kommunisten nicht widerstehen könnte. Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, wie eine deutsche Zentralregierung aussehen wird. Die Russen wissen es wahrscheinlich genausowenig wie wir. [...]
Unterm Strich sind die Russen im Vorteil. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß die westlichen Demokratien irgendeinen Einfluß im Osten ausüben können, zumindest nicht außerhalb Berlins. Auf der anderen Seite hat der Kommunismus schon seine Opfer in Westdeutschland gefunden, und die liberale Haltung der westlichen Besatzungsmächte läßt den Kommunisten viel Handlungsspielraum. Es kommt hinzu, daß durch Propaganda und Agenten aus dem Osten ein ständiger Druck ausgeübt würde. Mitberücksichtigt werden müssen auch die augenblicklichen Lebensbedingungen, die eine ausgezeichnete Ausgangsbasis für die Aktivitäten der Kommunisten sind. Kurz- und langfristig ist die Situation für sie günstig. Denn für das nächste Jahr sind nur Hunger, Kälte und Wohnungsnot zu erwarten, wie groß auch immer unsere Anstrengungen sind. Später wird der Industrieplan Wirkung zeigen und zu großer Arbeitslosigkeit führen und einen schnellen Wiederaufbau verhindern. Unter solchen Bedingungen wird der Kommunismus attraktiv und mit seiner Betonung einer starken, autoritären Regierung kann er sich glaubhaft als einziges System anbieten, das möglicherweise mit einer solchen verzweifelten Situation fertig werden kann. Selbst wenn die demokratischen Parteien die ersten gesamtdeutschen Wahlen gewinnen sollten, muß man doch für die nachfolgenden Wahlen Schlimmes befürchten.
9. Bei einem föderalistisch aufgebauten Deutschland würden sich diese Gefahren verringern. Bei einem solchen System würden die Länder weitgehend autonom sein, an der Spitze wäre ein koordinierendes Gremium mit genau festgelegten Rechten ... in erster Linie für Wirtschaft und Finanzen. Bei einem solchen Plan würden die zentralen Verwaltungsstellen – entweder jetzt vom Alliierten Kontrollrat oder später von der deutschen Zentralregierung errichtet – mit den Länderregierungen zusammenarbeiten und so weit wie möglich daran gehindert werden, ein Netz eigener Behörden in ganz Deutschland zu errichten. [... ]
10. Bei der Suche nach einem Ausweg aus unserem Dilemma sollte folgendes bedacht werden. Obwohl wir argumentieren könnten, die in Potsdam festgelegten Prinzipien seien nur für die unmittelbare Kontrollphase vorgesehen gewesen und müßten daher jetzt neu überdacht werden, müßten wir mit schwerwiegenden Konsequenzen rechnen, wenn wir diese Politik über Bord werfen und unsere Zone unabhängig von den übrigen Zonen entwickeln würden:
a) Langfristig könnten wir nicht einmal den Schein einer Vier-Mächte-Verwaltung Deutschlands aufrechterhalten und würden schon bald aus Berlin vertrieben werden.
b) Unsere Hoffnung, den Eisernen Vorhang doch noch zu beseitigen, müßten wir aufgeben. Ganz Ostdeutschland und natürlich auch Osteuropa wären endgültig an Rußland verloren.
c) Wir müßten unsere Zone (oder Westdeutschland) politisch und wirtschaftlich gegenüber dem Osten abschotten. Wir müßten z. B. eine eigene Währung und mit ziemlicher Sicherheit eine andere Nationalität einführen.
d) Dies alles - was im Endeffekt dazu führen würde, Westdeutschland in einen gegen die Sowjetunion gerichteten Westblock zu integrieren – würde den endgültigen Bruch mit den Russen bedeuten, die alles daransetzen würden, diese Politik zu torpedieren und die Bevölkerung gegen uns aufzuhetzen, was in einem Industriegebiet in einer Zeit akuten Nahrungsmittelmangels nicht schwierig sein dürfte. Die Russen würden mit Sicherheit auch ihre Angriffe gegen uns in allen anderen Teilen der Welt verstärken, und die Aussichten auf einen Fortbestand der UNO würden geringer.
e) Die Amerikaner sind wahrscheinlich noch nicht soweit, eine solche Politik mitzumachen. Ihre führenden Vertreter in Deutschland werden sich mit Sicherheit mit Händen und Füßen dagegen wehren. In jedem Fall aber könnten wir nicht mit der andauernden Unterstützung der Amerikaner rechnen, selbst wenn sie dieser Politik schließlich doch zustimmen würden. Die volle Unterstützung der Amerikaner ist jedoch absolut notwendig.
f) Die Franzosen könnten uns unterstützen – oder auch nicht –, je nachdem, wie stark die Kommunisten in Frankreich sind. In jedem Fall wäre der Einfluß der Kommunisten groß genug, um ihre Unterstützung zu einer unsicheren Sache zu machen.
g) Die Belgier und Holländer (wie alle anderen kleineren Alliierten auch) würden entsetzt sein über eine Reduzierung der Reparationslieferungen – das aber wäre die Konsequenz, wenn wir Westdeutschland wiederaufbauen. Die Aussicht auf einen prosperierenden Handel mit Deutschland könnte sie umstimmen. Es würde ihnen dagegen wohl weniger leichtfallen, sich mit der Haltung des »Vergeben und Vergessen« abzufinden, die unsere neue Politik notwendigerweise impliziert. Sie haben für die deutschen Sozialisten nicht mehr übrig als für die anderen Deutschen.
h) Wir könnten abhängig werden von deutschen Erpressungsversuchen: »Wir müssen dieses und jenes bekommen, oder die Kommunisten werden siegen.« Wir würden wahrscheinlich bald eine deutsche Armee akzeptieren müssen.
i) Angesichts der Angst und Verachtung der Deutschen gegenüber Rußland, und der Tatsache, daß sie den Verlust ihrer Ostgebiete niemals verwinden werden, könnten sich die Deutschen eine Zeitlang damit abfinden, daß die Russen an der Elbe stehen. Aber, ob es uns dann gefällt oder nicht, die Idee der Einheit Deutschlands ist eine grundlegende Sache, die Jahrhunderte überlebt hat, und wahrscheinlich nicht zerstört werden kann, wenn heute ein künstliches Gebilde geschaffen wird. Früher oder später werden Ost und West wieder zusammenkommen.
j) In der Zwischenzeit würden wir eine Sache aus dem Auge verloren haben, die uns und die Russen zusammenhalten könnte, nämlich die Existenz eines deutschen Staates, den niederzuhalten in unser beider Interesse liegt.
11. Dies alles sind gewichtige Gründe, die dagegen sprechen, die Politik von Potsdam aufzugeben und unsere Zone oder Westdeutschland separat zu entwickeln. Auf der anderen Seite könnte eine »westliche« Politik gewisse Vorteile bringen, falls sie entschlossen und entsprechend den unten in Absatz 12 genannten Bedingungen durchgeführt wird:
a) Sowohl den Russen als auch den Deutschen wäre klar, daß wir entschlossen sind, uns jeder weiteren, nach Westen gerichteten Expansion des Kommunismus und des russischen Einflusses zu widersetzen. Dabei könnten wir mit der Unterstützung der großen Mehrheit der Deutschen rechnen, die uns auch helfen würde, wenn es darum geht, das Einschleusen von Ostagenten zu verhindern.
b) Wenn wir den Industrieniveauplan aufkündigen und die Reparationen auf ein vernünftiges Maß reduzieren, würden wir den Deutschen Hoffnung für ihre Zukunft machen, auch wenn ihnen dies allein im Moment wenig helfen würde.
c) Falls die Deutschen dies, mehr und mehr zufrieden, akzeptieren, da sie unsere Entschlossenheit sehen, sie vor den Russen zu retten und ihre Wirtschaft wiederaufzubauen, würden sie unseren Leuten in Deutschland die Arbeit erleichtern – und auch jenen Deutschen, die eigene Verantwortung übernommen haben.
12. Es muß jedoch betont werden, daß zwei Bedingungen für den Erfolg einer »westlichen« Politik erfüllt sein müssen. Zum einen müssen wir die Bevölkerung anspornen, indem wir die Lebensmittelrationen sofort erhöhen und auf einem befriedigenden Niveau halten. [...]
Zum anderen muß die vollständige und dauernde Unterstützung der USA gesichert sein.
13. Wie auch immer wir bei diesem fundamentalen Problem entscheiden werden, wir sollten uns in unserer Politik von folgenden Gesichtspunkten leiten lassen:
a) Wir sollten uns in unserer Zone auf konstruktive politische und wirtschaftliche Maßnahmen konzentrieren und uns nicht von den Russen oder ihren Satelliten, wie etwa dem Weltgewerkschaftsbund, von unserem Kurs abbringen lassen.
b) Wir sollten die konstitutionelle Entwicklung in unserer Zone vorantreiben und autonome Länder mit weitestgehenden Kompetenzen errichten und sie so organisieren, daß sie sich in die föderalistische Struktur der Westzonen oder ganz Deutschlands einfügen.
c) Wir sollten die Lebensmittelrationen auf dem gegenwärtigen Stand halten und, wenn möglich, erhöhen und stärksten Druck ausüben, um Nahrungsmittelüberschüsse aus der russischen Zone herauszuholen für das Wohl des übrigen Deutschland.
d) Wir sollten alles nur Mögliche tun, um die Kohleförderung zu erhöhen und so viel wie möglich davon für das Ingangsetzen der deutschen Industrie nutzen.
e) Wir sollten in den Westzonen entsprechend den wirtschaftlichen Grundsätzen von Potsdam verfahren, selbst wenn die Russen ihre Mitarbeit verweigern, und in jedem Fall die Zusammenarbeit der westlichen Zonen fördenn.
f) Wir sollten möglichst eng mit den Amerikanern zusammenarbeiten.
g) Wir sollten unsere Stellung in Berlin halten.
14. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind kein Ersatz für eine langfristige Politik, aber solange wir noch kein klares Bild davon haben, wie die Zukunft der Ruhr aussehen wird – das wichtigste Einzelproblem für uns in Deutschland –, ist es schwer, endgültige Entscheidungen zu treffen. Es ist jedoch klar, daß die zentralen Verwaltungsstellen, die die amerikanische Regierung immer noch für eine der wichtigsten Voraussetzungen alliierter Politik in Deutschland hält, die fundamentale Frage aufwirft, ob Deutschland als Einheit erhalten bleibt oder in West- und Ostdeutschland gespalten wird ...
Sollten sich die vier Mächte auf ein föderalistisches Deutschland einigen – in das das geplante neue Land an der Ruhr passen würde – , könnte dies die Entscheidung etwas hinauszögern, aber wir können sie nicht ewig vor uns herschieben.
Sollten wir zu der Überzeugung gelangen, die Idee von der Einheit Deutschlands – selbst wenn dieses föderalistisch strukturiert ist – aufgeben zu müssen, dann ist es von größter Bedeutung sicherzustellen, daß die Verantwortung für den Bruch eindeutig den Russen zur Last gelegt wird.
[»... it would be most important to ensure that responsibility for the break was put squarely an the Russians«.]

Anhang
8. [...] In Berlin sind die Amerikaner in der Regel darauf bedacht, mit den Russen zusammenzugehen [»careful to keep an the right side of the Russians«], was zu dem bedauerlichen Ergebnis geführt hat, daß sich im Alliierten Kontrollrat manchmal fast ein amerikanisch-russischer Block gebildet hat. Das hat den Russen natürlich sehr gut gefallen und sie haben ihr ganzes Können aufgeboten, uns als einzige zu kritisieren und zur gleichen Zeit den Amerikanern zu schmeicheln.
[...]

B. Die amerikanische Zone
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39. [... ] Die Verwaltung der US-Zone durch die Amerikaner ist, auch wenn Erfolge aufzuweisen sind,[... ] insgesamt enttäuschend. Das liegt wahrscheinlich im wesentlichen daran, daß der Durchschnittsamerikaner nicht nach Europa gehört und so schnell wie möglich wieder zurück nach Hause will.

(Public Record Office, London, CAB 129/9)