PANEL 4
Beforschte Körper. Die Medical Humanities in der Zeitgeschichte

Chair: Elisabeth Dietrich-Daum (Innsbruck)

11:00–12:30, Virtueller Konferenzraum 2

Medizinhistorische Forschungen in der Zeitgeschichte konzentrieren sich nach wie vor auf die Aufarbeitung von Medizinverbrechen während des Nationalsozialismus. Hier ist die Forschung inzwischen weit gediehen, wenn auch noch lange nicht abgeschlossen. Das Panel wird diese Forschungen zum einen erweitern (Einzelvortrag 1), zum anderen neue Forschungsfelder betreffend die Zeit nach 1945 vorstellen (Einzelvortrag 2 & 3). Im Zentrum stehen Fragen nach medizinischen Forschungen am Körper und den daraus resultierenden medizin-ethischen Implikationen. Vorgestellt werden wissenschaftliche Qualifikationsschriften von Nachwuchswissenschaftlerinnen der Universität Innsbruck, die im transdisziplinären Feld der Medical Humanities zum einen an aktuelle Forschungsdebatten anknüpfen und zum anderen neue Forschungsfelder erschließen.

Das Schlafmittel Contergan (Thalidomid) – eine ungeschriebene Geschichte. Der Skandal und seine Folgen in Italien und Südtirol

Martina Rabensteiner (Innsbruck)

Die pharmazeutische Anwendung des Wirkstoffs Thalidomid im bekannten Beruhigungs- und Schlafmittel Contergan zählt zu den aufsehenerregendsten Skandalen (1957–1961) der Arzneimittelanwendung des 20. Jahrhunderts. Sie zeigte die damaligen Grenzen der Pharmazie und der Forschung in der Arzneimittelindustrie auf und hatte politische sowie soziale Folgen. Unter anderem hatte der Skandal umfangreiche Auswirkungen auf das Arzneimittelrecht, die Zulassungsvorgaben für Medikamente sowie die Diskussion der Produkthaftung. Die bisherige Forschung beschränkte sich vor allem auf den Verlauf in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei wurden die globalen Dimensionen vernachlässigt, die Schicksale der Betroffenen gerieten in Vergessenheit. In diesem Beitrag soll eine „andere“ Vergangenheit zu Contergan/Thalidomid rekonstruiert werden, bei der die Situation in Italien und besonders in Südtirol im Fokus der Forschung steht. Aspekte, wie die Markteinführung, die mediale Berichterstattung, die Entschädigungen, die Anzahl der Geschädigten usw. werden herausgearbeitet und die Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten mit der Katastrophe in der Bundesrepublik aufgezeigt. Dadurch wird dargestellt, dass jedes Land, in dem Thalidomid verkauft wurde, seine eigene Geschichte dazu hat.

Pyramidon und Antiviral 1001 – Medikamentenversuche während den Poliomyelitis-Epidemien nach 1945

Marina Hilber (Innsbruck)

Seit den 1920er-Jahren sind auch in Österreich zunehmend schwere epidemische Ausbrüche der Poliomyelitis (Kinderlähmung) dokumentiert. Der vorliegende Beitrag widmet sich den therapeutischen Reaktionen auf die gefährliche Viruserkrankung, in einer Zeit, in der es weder eine präventive Impfung noch eine approbierte Therapie-Strategie gab. An der Universitätsklinik Innsbruck wurde 1947 eine Versuchsreihe mit hochdosiertem Pyramidon, einem fiebersenkenden Mittel, gestartet. Auch im niedergelassenen Bereich wurde an einem Heilmittel gegen die Poliomyelitis gearbeitet. So erregte etwa der Wörgler Arzt Thomas Zingerle mit seinem auf Quecksilber basierenden Präparat Antiviral 1001 überregionale mediale Aufmerksamkeit. Im Beitrag sollen anhand überlieferter Quellenbestände das jeweilige Studiendesign sowie die Erforschung der Medikamentenwirksamkeit am Menschen nachvollzogen werden. Dabei werden nicht nur ethische Fragen aufgeworfen, sondern auch nationale Konkurrenzverhältnisse im Wettlauf um eine Heilung der Poliomyelitis rekonstruiert.

Der Sezierkurs am Innsbrucker Anatomischen Institut zur Zeit des Nationalsozialismus

Christian Lechner (Innsbruck)

In der Zeit des Nationalsozialismus erhielt das Innsbrucker Anatomische Institut unter anderem Leichname von Hingerichteten und Kriegsgefangenen. Zwischen „Anschluss“ und Kriegsende kamen insgesamt 199 Körper in die medizinische Abteilung der Anatomie, darunter 59 aus dem Gefängnis München-Stadelheim und 39 von sowjetischen Kriegsgefangenen. Diese Leichname wurden für den studentischen Unterricht und die anatomische Forschung eingesetzt, allerdings nicht nur bis Kriegsende. Laut dem vollständig erhaltenen „Leichenbuch“ wurden Körperteile eines sowjetischen Gefangenen noch zumindest im Wintersemester 1956/57 für den Sezierkurs herangezogen. Auch in zahlreichen Publikationen nach dem Zweiten Weltkrieg finden sich Hinweise auf die Verwendung von während der NS-Zeit erhaltenen Körpern. Der Fokus des Beitrages soll nun auf der Nutzung dieser Leichen für die studentische Lehre liegen.


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