PANEL 11
Optimierungsdiskurse und gesellschaftspolitische Praktiken in unterschiedlichen Systemen

Chair: Noam Zadoff (Innsbruck)

09:00–10:30, Virtueller Konferenzraum 1

„… von der Warte der Volksgesundheit aus betrachtet … unerlässlich“. Organisationssoziologische Analyse von Ermessensspielräumen ärztlicher Beisitzer bei der Anordnung von Zwangssterilisationen am Erbgesundheitsgericht Wien 1940–1945

Daniel Gaubinger (Wien)

Ärztlichen Beisitzern kam innerhalb des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses eine entscheidende Rolle bei der Anordnung von Zwangssterilisationen von als „erbkrank“ kategorisierten Personen an Erbgesundheitsgerichten (EGG) zu. Mehr noch, ihnen wurden hierfür erhebliche Ermessensspielräume eingeräumt. Wie diese gesetzlich verankert waren und dass zur Diagnostizierung von „Erbkrankheiten“ neben medizinischen Kriterien auch soziale herangezogen wurden, ist aus historischer Perspektive bereits aufgezeigt worden. Daran anschließend werden aus einer organisationssoziologischen Perspektive zum einen die Rolle der Ärzte („street-level bureaucrats“) am EGG Wien, zum anderen deren Ermessensspielräume („Indifferenzzone“) analysiert: Wie wurden sie genützt, hat sich diese Praxis zwischen 1940 und 1945 verändert und welchen Einfluss hatten soziale Kriterien bei der Anordnung von Zwangssterilisationen?

„Asozialität“ als Thema der historisch-politischen Bildung

Elke Rajal (Wien)

Ausgangspunkt des Vortrags ist die Stigmatisierung und Verfolgung von Menschen als „Asoziale“, die im Nationalsozialismus ihren Höhepunkt fand – ein Thema, das im gesellschaftlichen Diskurs lange ausgeblendet blieb und auch in der Zeitgeschichtsforschung erst wenig bearbeitet wurde. So ist anzunehmen – und ein Blick in die Schulbücher bestätigt dies –, dass das Thema auch in der schulischen Vermittlungsarbeit zum Nationalsozialismus höchstens erwähnt oder gänzlich ignoriert wird.

Der Vortrag widmet sich Möglichkeiten einer Vermittlungsarbeit zum Thema „Asozialität“. Beleuchtet werden die spezifischen Herausforderungen, die ein derart Stigma-behaftetes Thema für die pädagogische Arbeit mit sich bringen. Thematisiert werden zudem aktuelle Anknüpfungspunkte, wie etwa die andauernde Stigmatisierung von angeblich „Leistungsunwilligen“ und von Menschen, die einen vorgeblich „amoralischen Lebenswandel“ führen.

Die Suche nach der „natürlichen Ernährung“. Fleischkonsum und Ethnologie seit circa 1900

Laura-Elena Keck (Leipzig)

Mit dem Wohlstand wuchs im Globalen Norden gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch die Angst vor sogenannten Zivilisationskrankheiten. Schon früh wurde als eine mögliche Ursache auf eine „unnatürliche Ernährung“ verwiesen. Fleisch nahm dabei eine Schlüsselrolle ein: Es galt einerseits als Beweis und Garant für eine gesunde, leistungsfähige Bevölkerung, andererseits mehrten sich die Stimmen, die Fleisch als „unnatürliches“ und somit schädliches Nahrungsmittel einstuften. Antworten auf die „Fleischfrage“ wurden nicht nur in der medizinischen und physiologischen Forschung gesucht, sondern auch in der Ethnologie. Der Blick auf sogenannte „Naturvölker“ sollte zeigen, wie eine „natürliche“ Ernährung auszusehen hatte. Anhand der Debatte im deutschsprachigen Raum, die sich in unterschiedlichen Ausprägungen durch das ganze 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart zieht, soll exemplarisch gezeigt werden, wie durch den Vergleich mit und die Abgrenzung von einem konstruierten „Außen“ eine Selbstverständigung europäischer Gesellschaften über Körperpraktiken, Subjektformen und die Rolle von Ernährung und Fleischkonsum in der (entstehenden) Wohlstandsgesellschaft stattfand.

Kalorienzählen. Ernährung, Körper und Konsum im frühen 20. Jahrhundert

Nina Mackert (Leipzig)

Die Fabrikation der Kalorie als Einheit für den Energiegehalt von Nahrung hat wie kaum ein anderes Phänomen zum Wandel von Essen und Ernährung in der Moderne beigetragen. Ihre Einführung im späten 19. Jahrhundert machte Essen auf eine neue Art quantifizierbar und ermöglichte eine Vergleichbarkeit von vormals unvergleichbaren Nahrungsmitteln und Ernährungsweisen. Mit ihrer Hilfe suggerierten Diätratgeber ab dem frühen 20. Jahrhundert, Nahrungsaufnahme und Körpergewicht ließen sich präzise steuern. Der Vortrag beleuchtet eine zentrale Ambivalenz der Rationalisierung von Ernährung in der Moderne. Zum einen schufen die neuen Möglichkeiten der Quantifizierung selbstverantwortliche moderne Subjekte, die als ihre eigenen ExpertInnen handelten. Kalorienzählen versprach die Freiheit, Nahrungsmittel selbst auszuwählen. Zum anderen war die Verwissenschaftlichung von Ernährung wichtiger Baustein einer biopolitischen Gouvernementalität, die Subjekte und ihre Körper neuen normativen Anforderungen unterwarf. Indem sie suggerierte, dass Körpergewicht steuerbar sei, verlagerte die Kalorie die Verantwortung dafür auf das Individuum, und Körperfett konnte zum Zeichen des Scheiterns an den Anforderungen einer modernen Konsumgesellschaft werden.

 

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