PANEL 37
Nochmal 1968 – oder wie integriert man ein ikonisches Jahr in eine Geschichte der Gegenwart?

Chair (inkl. Kurzkommentar): Claudia Kraft (Wien)

Samstag, 18. April 2020, 10:50–12:20, HS 2

Kaum ein jüngeres zeithistorisches Datum ist so sehr mit Deutungen überladen, wie die Chiffre „1968“. Dabei existieren ganz unterschiedliche Narrative und Interpretamente (Beginn einer Fundamentalliberalisierung in restaurativen westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften, Ende aller Hoffnungen auf einen demokratischen Sozialismus im kommunistischen Machtbereich oder ein genereller Wandel des Politischen hin zu identitätspolitischen Strömungen) häufig unvermittelt nebeneinander. Das Panel möchte in einem transnationalen Zugriff der Frage nachspüren, wie nachhaltig die heterogenen Ereignisse der späten 1960er/70er-Jahre unsere Gegenwart prägen und ob aktuelle gesamteuropäisch zu beobachtende Phänomene wie etwa Populismus oder unterschiedliche Formen von Identitätspolitiken besser historisiert und rekontextualisiert werden können, wenn nicht zuletzt das spannungsreiche Verhältnis zwischen geschichtswissenschaftlicher Forschung und geschichtspolitischer Aneignung präziser ausgeleuchtet wird.

Am Anfang oder am Ende der Zukunft? Das ambivalente Erbe der „langen“ 1970er-Jahre in Italien

Clara Maddalena Frysztacka (Frankfurt a.O.)

An einem 1988 vom Wochenmagazin L‘Espresso organisierten Runden Tisch stritten sich einige Protagonisten des italienischen 1968 über seine Bedeutung: Stellte 1968 für Italien einen emanzipatorischen Impuls oder den Schwanengesang auf den zukunftsorientierten Fortschrittsglauben der Moderne dar? War es 20 Jahre danach als erfolgreiche Revolution überhaupt zu verstehen? Die Uneinheitlichkeit der damals vertretenen Ansichten ist frappierend in ihren Parallelen mit der Komplexität der Deutung von 1968 50 Jahre später. So lässt sich einerseits auf 1968 nur aus der Perspektive der ambivalenten Tendenzen der „langen“ 1970er-Jahre blicken: die Jahre des Terrorismus, der großen Reformen sowie der Kooptierung der Kommunistischen Partei in die Institutionen. Andererseits machen die Entwicklungen der 1990er- und 2000er-Jahre, vom Bedeutungsverlust der parteipolitisch organisierten Linken hin zu verbreiteten Narrativen eines politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Niedergangs, die Einschätzung des Erbes dieser Jahre heute nicht nur sehr schwierig, sondern zeigen auch die große Relevanz für das Verständnis der Gegenwart.

Was blieb von der „Sexuellen Revolution“ der 68er-Bewegung? Ein Blick in die österreichische Zeitgeschichtsforschung

Johann Karl Kirchknopf (Wien)

Rund um das Jahr 2018 wurde die 68er-Bewegung auch unter dem Topos der „Sexuellen Revolution“ reflektiert. Gesellschaftliche Transformationen der letzten 50 Jahre im Bereich der Sexualität wurden dabei unterschiedlich interpretiert. Es waren aber vor allem sexualitäts- und geschlechtergeschichtliche Fachkreise, die dieses Thema aufgriffen, jedoch kaum die österreichische zeithistorische Forschung, obwohl Ende der 1960er-Jahre, als viele der heute renommierten Zeithistoriker*innen ihre wissenschaftliche Laufbahn begannen, das Thema Sexualität gerade in der politischen Debatte einen zentralen Stellenwert einnahm. Vor diesem Hintergrund wirft der Beitrag einen wissenschaftsgeschichtlichen Blick auf die österreichische Zeitgeschichtsforschung und geht der Frage nach, welche Bedeutung diverse Sexualitätskonzepte und die nicht nur, aber vor allem rund um die 68er-Bewegung öffentlich geführten Debatten darüber für eine politische Geschichte der Zweiten Republik haben könnte.

(K)ein Gründungsmythos – 1968 als geschichtspolitischer Stein des Anstoßes in Polen

Katrin Steffen (Hamburg)

In Polen steht das Jahr 1968 vor allem für die an staatlicher und militärischer Gewalt gescheiterte Protest- und Reformbewegung. Nach der Niederschlagung der Revolte begannen viele der Beteiligten im Untergrund, Oppositionsbewegungen zu formieren. In den Transformationsjahren nach 1989 nahmen sie vielfach Schlüsselstellen in Politik, Wissenschaft und Medien ein und implementierten die bereits 1968 geforderten Prinzipien demokratischer Partizipation. Zu einem Gründungsmythos der organisierten demokratischen Opposition konnte 1968 im polnischen Diskurs nach 1989 aber nicht werden. Aufgrund seiner mehrfachen und heterogenen Codierung zum einen als gegen die Kommunisten gerichteter, aber überwiegend von Linken getragener Freiheitskampf, zum anderen als antisemitischer Exzess, in dessen Folge Tausende polnische Juden Polen verlassen mussten, erweist sich das Datum geschichtspolitisch als sperrig. Der Vortrag möchte der Frage nachgehen, wie 1968 und seine Auswirkungen in Polen und im östlichen Europa in den identitätspolitischen und geschichtspolitischen Narrativen und Initiativen der Gegenwart dennoch eine gewichtige Rolle spielen. Es soll gezeigt werden, dass die durch die rechten, populistischen Regierungen permanent betriebene, scharfe Abgrenzung gegen den „postkommunistischen Liberalismus“ nach 1989 als ein Echo (oder ein Angriff) auf 1968 verstanden werden kann.

 

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