PANEL 36
Blut- und Krebsforschung in Österreich im 20. Jahrhundert

Chair: Ingrid Böhler (Innsbruck)

Samstag, 18. April 2020, 09:00–10:30, U 1

In dem Buch „The Nazi War on Cancer“ postulierte Robert Proctor 2000 eine Vorreiterrolle des „Dritten Reiches“ im Kampf gegen den Krebs. Darüber sollte nicht übersehen werden, dass Forschungen über Krebserkrankungen bereits seit dem späten 19. Jahrhundert Gegenstand von intensiven Bemühungen um deren nationale und internationale Vernetzung waren. Im Jahr 1900 konstituierte sich das Comité für Krebssammelforschung; 1910 wurde in Wien die k.k. österreichische Gesellschaft für Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit gegründet. Wie die drei Vorträge zeigen, spielte die Zerstörung des Organismus durch unkontrolliertes Zellwachstum, das zunächst nur durch chirurgische Eingriffe, später durch Bestrahlung und erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch pharmakologische Mittel bekämpft werden konnte, schon in der Zwischenkriegszeit und während des NS-Regimes eine nicht zu unterschätzende Rolle – gesundheitspolitisch, auf der Ebene der politischen Metaphorik und in der öffentlichen Diskussion.

Sigismund Peller, ein Pionier der Sozialmedizin. Tarnopol – Wien – Palästina – USA

Herwig Czech (Wien)

Eine der schillerndsten Persönlichkeiten in der österreichischen Medizin der Zwischenkriegszeit war der 1890 in Tarnopol geborene Sigismund Peller. Er erhielt seine medizinische Ausbildung in Wien, wo er bis zu seiner Emigration nach Palästina im Jahr 1934 als Sozialmediziner im städtischen Gesundheitswesen tätig war. Weitere Stationen führten ihn nach Baltimore, New York und San Diego. Ab Mitte der 1930er-Jahre wandte er sich in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit Fragen der Krebssterblichkeit zu, unter anderem mit einer Arbeit zum Lungenkrebs unter Jochimsthaler Bergwerksarbeitern. Mit seinem 1979 erschienenen Buch „Cancer research since 1900“ erwies er sich auch als kundiger Historiker dieses Forschungsfeldes, das bis zur zufälligen Entdeckung der wachstumshemmenden Wirkung von Senfgas (Lost) im Jahr 1942 auf der Suche nach einem wirksamen Chemotherapeutikum bereits zahlreiche experimentelle Untersuchungen inspiriert hatte. Vor dem Hintergrund von Pellers Leben und Werk widmet sich der Vortrag der Geschichte der österreichischen Krebsforschung in der Zwischenkriegszeit.

Das Krebsproblem als Filmproblem: Krebs im Kultur- und Lehrfilm der Zwischenkriegszeit

Katrin Pilz (Wien)

Die durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen induzierte Aufwertung von gesundheitspolitischen Programmen und die zunehmende Bedeutung von Filmen zur Volksbelehrung generierten einen neuen Blick auf Film, Medizin, Krankheit und Gesundheit. Die zu vermittelnden Inhalte griffen zentrale soziale, ökonomische und biopolitische Fragen im Wien der Zwischenkriegszeit auf und rückten Themen wie die Verhütung von Geschlechts- und Infektionskrankheiten, Sexual- und Hygieneaufklärung oder Alkoholismus in den Vordergrund gesundheitspolitischer Diskurse. Während diese Fragen in zeitgenössischen Kultur- und Lehrfilmen prominent verhandelt wurden, sah man das Gesundheitsproblem „Krebs“ nur selten filmisch verarbeitet – es herrschten Bedenken, das „Sensationsmedium“ Film würde lediglich der „Krebsfurchterzeugung“ dienen und vor dem Hintergrund der schlechten Heilungschancen die „Volksmoral“ schädigen. Der Vortrag beleuchtet die populäre Vermittlung von Wissen über Krebs in diesem Spannungsfeld von wissenschaftlicher Aufklärung, paternalistischer Fürsorge und der Dynamik des neuen Mediums Film.

Blut- und Krebsforschung in Österreich 1938–1945. Personelle Netzwerke – Forschungspraktiken – Nachgeschichte


Clemens Jobst (Wien)

Das Blut und damit verbundene Reinheitsvorstellungen nahmen in der Vorstellungswelt des Nationalsozialismus eine wichtige Stelle ein, die sich auch in konkreten Forschungen niederschlug, z. B. in der Suche nach Eigenschaften des Blutes, die eine rassenphysiologische Einteilung der Menschen erlauben würden. Auch der Krebs spielte sowohl auf der Ebene der politischen Metaphorik – als Bild für die notwendige Entfernung „entarteter“ Elemente aus dem Volkskörper – auch in gesundheitspolitischen und forschungspraktischen Zusammenhängen eine Rolle.

Vor diesem Hintergrund bietet der Vortrag, basierend auf einem aktuellen Forschungsprojekt über die Geschichte der österreichischen Hämatologie und Onkologie, einen Überblick über die Entwicklung der Krebsforschung in Österreich von den Vertreibungen nach dem Anschluss bis in die Nachkriegszeit, wobei der Fokus insbesondere auf den Forschungspraktiken sowie den institutionellen und personellen Netzwerken liegen wird.

 

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