Panel 17: Transnationale Perspektiven der Displaced-Persons-Forschung

Marina Blum, Benjamin Güngör, Christina Knapp, Raphaela Lanser, Valentin Rainer
Panel 17

Panel 17: Transnationale Perspektiven der Displaced-Persons-Forschung

Freitag, 17. April 2020, 15.30 bis 17.00 Uhr, Virtueller Konferenzraum 1
Chair: Ingrid Böhler (Innsbruck)

Nikolaus Hagen (Wien): Displaced Persons – eine Leerstelle in der österreichischen Migrationsgeschichte?

Marcus Velke (Bonn): Vergessene Jubiläen – zur Relevanz der Displaced-Persons-Forschung

Stella Maria Frei (Gießen): Nach der Befreiung ist vor der Befreiung – psychosoziale Arbeit in DP-Lagern als Hilfe zur „psychologischen Befreiung“?

Abstracts

 

Kommentare

Der erste Virtuelle Österreichische Zeitgeschichtetag 2020 hat uns Studierenden einen vielversprechenden Einblick in die aktuellen Forschungen der Zeitgeschichte und ihre Vielschichtigkeit gegeben. Das gilt etwa für Panel 17 mit dem Titel Transnationale Perspektiven der Displaced-Persons-Forschung. Marcus Velke sprach in diesem Zusammenhang über Vergessene Jubiläen – zur Relevanz der Displaced-Persons-Forschung, und Stella Maria Frei ging dem Thema Nach der Befreiung ist vor der Befreiung – psychosoziale Arbeit in DP-Lagern als Hilfe zur „psychologischen Befreiung“? nach. Herausgreifen möchte ich an dieser Stelle den Vortrag Displaced Persons – eine Leerstelle in der österreichischen Migrationsgeschichte? von Nikolaus Hagen.

Der Vortragende machte darin auf die Displaced Persons und ihre Vergessenheit in Österreich aufmerksam: vergessen in der Forschung – vergessen in der Erinnerungskultur – vergessen im gesellschaftlichen Selbstbild. Hagen geht in seinen Ausführungen über den Wissenschaftskontext hinaus und betont, dass das kollektive Erinnern an die Displaced Persons verlorenen gegangen ist; heuer vor 70 Jahren übergaben die Alliierten die in Österreich verbliebenen Personen an die österreichischen Behörden – 2020 erinnert daran jedoch kein Jubiläum. Die Vergessenheit der Displaced Persons schlägt sich Hagen zufolge aber auch im Selbstbild mancher Österreicher und Österreicherinnen nieder. Bei ihnen herrsche die Annahme vor, keine Migrationsgesellschaft zu sein – dabei sind nach dem Zweiten Weltkrieg Personen aus allen Teilen Europas in Österreich geblieben (z.B. Menschen aus Südtirol, verschiedensten slawischen Gebieten etc.).

Dieser Aspekt der Vergessenheit ist aus studentischer Sicht besonders aufschlussreich. Er regt dazu an, die Forschung in Gegenwart und Vergangenheit zu hinterfragen und zeigt, dass auch die Wissenschaft nicht vollkommen ist – dass ihr Aspekte entgehen und sie somit „blinde Flecken“ enthält. Neben der Anregung, den kritischen Blick auf die Wissenschaft nicht zu verlieren, verdeutlicht die „Forschungslücke“ rund um die Displaced Persons, dass noch lange nicht alles erforscht ist und auch auf unserer Generation von Forschern und Forscherinnen Themen warten, die es wert sind, entdeckt zu werden. Zumal es sich um solche handelt, die sogar Lösungen für die Gegenwart bereithalten – in diesem Fall womöglich Antworten auf die Migrationsfrage. Schließlich hat der Vortrag auf ein Kapitel aufmerksam gemacht, das ebenso im schulischen Bereich Platz finden sollte. Für meine berufliche Zukunft als Lehrperson kann ich das Anliegen mitnehmen, diesem verblassten Aspekt der Geschichte Raum zu geben. Insgesamt besteht der Mehrwert von Hagens Vortrag also sicherlich darin, dass die Vergessenheit der Displaced Persons herausgefordert wurde und in Zukunft, so ist zu hoffen, einem bewussten Erinnern weicht.

(Marina Blum)

 

In den letzten Jahren konnte die Migrationsforschung einen Aufschwung verzeichnen, und damit ging auch ein vermehrtes Interesse an der Displaced-Persons-Forschung (DP-Forschung) einher. Anlässlich des 13. Österreichischen Zeitgeschichtetags 2020 wurde das Panel 17 zur Displaced-Persons-Thematik veranstaltet, das von Ingrid Böhler moderiert wurde. In diesem gewährten Nikolaus Hagen, Marcus Velke-Schmidt und Stella Maria Frei den Teilnehmenden Einblicke in die DP-Forschung und ihre Themenschwerpunkte.

Ein vergessenes Kapitel der Nachkriegszeit

Obwohl in Österreich bereits in den 1980er Jahren erste Forschungen zu DPs betrieben wurden, zeigt laut Nikolaus Hagen die österreichische Forschungsgeschichte diesbezüglich einige Lücken auf. Die Forschungsvorhaben waren größtenteils lokal beschränkt und konzentrierten sich lediglich auf einzelne Bundesländer oder bestimmte Gruppen. In Österreich begannen die Untersuchungen zu jüdischen DPs, jedoch bezieht sich der Begriff auf sämtliche Menschen, die sich kriegsbedingt nicht im Heimatland aufhielten und aus diversen Gründen nicht zurückkehren konnten. 1944 rechneten die Alliierten mit über elf Millionen DPs, was eine große politische Herausforderung darstellte und das Vergessen im geschichtskulturellen Sinn eigentlich unmöglich machen sollte. Marcus Velke-Schmidt ging auf den Begriff und die Forschung in Deutschland ein. Den Terminus prägten die alliierten Streitkräfte, und es wurde zwischen Enemy DP, Ex-Enemy DP und UN-DP differenziert. Die letzte Gruppe sollte Unterstützung bei der Heimkehr erhalten. Diese Kategorisierung bringt dahingehend Probleme, da die Grenze zwischen Täter und Opfer verwischt wird. Somit sollte vor allem in Österreich, wo sich die Opferthese als ein langlebiges Konstrukt erwies, die große Bedeutung der DPs-Forschung in der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs anerkannt werden. Die Vernachlässigung der Thematik zeigt sich auch im Geschichtsunterricht, einer zentralen Schlüsselstelle für die Bildung von Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur. Zwar ist der Zweite Weltkrieg ein zentrales Thema im schulischen Kontext, jedoch konzentriert sich dieser auf die Nachkriegszeit, den Wiederaufbau und die Leidensgeschichten der österreichischen Bevölkerung in der Besatzungszeit.

Das Potenzial von DP-Forschung im Geschichtsunterricht

Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist eine prägende Zäsur in unserem Geschichtsverständnis, jedoch ging das Leiden nach 1945 weiter. DP-Forschung als Teil der Nachkriegsforschung kann die Vielfältigkeit dieses Elends aufzeigen, wo selbst nach dem lange erhofften Sieg über die Nationalsozialisten das Leben nicht schlagartig besser werden konnte. Die von Stelle Maria Frei vorgestellten Zeitzeugenberichte, welche die psychische Labilität der „Befreiten“ zeigen, können hier eine angemessene Basis bieten. Geschichte kann somit als Kontinuum begriffen werden, wo auch manches vergessen wird, sei es durch Verdrängung, die Zufälligkeit des Forschungsfokus oder durch die Überschattung anderer Ereignisse. Flucht war immer schon ein Bestandteil von Krieg. Was Vertreibung in einem Menschen anrichten kann, ist unbeschreiblich und für Außenstehende nicht nachzuvollziehen. Die Behandlung der DP-Thematik könnte uns im Geschichtsunterricht helfen, die Menschen besser zu verstehen und die Empathie der Lernenden fördern. Ich persönlich bin über den Aufschwung in der DP-Forschung froh und hoffe, dass die Forschungsergebnisse ihren Weg in den Unterricht finden.

(Benjamin Güngör)

 

Panel 17 mit dem Titel „Transnationale Perspektiven der Displaced-Persons-Forschung“ wurde beim 13. bzw. 1. Virtuellen Österreichischen Zeitgeschichtetag 2020 von Historikerin Ingrid Böhler moderiert. Nikolaus Hagen, tätig am Wiener Wiesenthal Institut, der freischaffende Historiker Marcus Velke-Schmidt sowie Stella Maria Frei, PhD Researcher an der Universität Gießen, präsentierten hierbei ihre jeweiligen Forschungsergebnisse zum Überthema.

Ein besonders interessanter Aspekt war der von Hagen eingebrachte Denkanstoß zu der Leerstelle, die die Displaced-Persons-Forschung in der österreichischen Migrationsgeschichte bis heute darstellt. In der aktuellen Displaced-Persons-Forschung dominieren lokale Interessen. Dieser Fokus auf Mikrothemen führe laut Hagen zu einer Selbst-Marginalisierung ebendieser Forschung. Gerade in einer Zeit, in der die Migrationsgeschichte aufgrund ihrer Aktualität in der Globalgeschichte an Schwung aufgenommen habe, müsse die Geschichtswissenschaft diese in die Displaced-Persons-Forschung mitnehmen. Doch die Forschung weist aufgrund der Definitionsschwierigkeiten durchaus eine doppelte Leerstelle auf: Displaced-Persons-Forschung scheint weder Teil der klassischen Nationalgeschichte in Österreich noch der österreichischen Migrationsgeschichte zu sein. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden Displaced Persons (=DPs) als all jene Menschen definiert, die sich kriegsbedingt in Österreich befanden, aber keine Staatsbürgerschaft innehatten. In den 1950er Jahren, nachdem die Verantwortung für DPs offiziell dem österreichischen Staat übertragen worden war, kategorisierte dieser fünf Gruppen: fremdsprachige Flüchtlinge, deutschsprachige Flüchtlinge, Südtiroler, Volksdeutsche und aus dem Ausland stammende jüdische Flüchtlinge. DPs wurden lange Zeit auf ihr Leben in DP-Lagern beschränkt. Vor allem die Wissenschaft legte ihren Schwerpunkt auf die Lagerforschung und den Weg der Weiterreise. Im Jahr 1961 hielten sich mindestens eine halbe Million der ursprünglich 1,6 Millionen in Österreich befindlichen DPs immer noch in Österreich auf, die längst integriert waren. In den 1960er Jahren schienen DPs dann endgültig aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden zu sein.

Da ich mich als Geschichtestudentin beinahe am Ende meines Masterstudiums befinde und bald ein Forschungsthema für meine Abschlussarbeit finden sollte, finde ich diese von Hagen angesprochene Leerstelle in der Forschung besonders interessant. Für die Geschichtswissenschaft ist eine Forschung in diese Richtung, wie sie auch die letzte Vortragende Stella Maria Frei betreibt, wichtig und aufschlussreich. Sehr interessant für die persönliche Ausbildung ist auch das Wissen um das Netzwerk der Displaced-Persons-Forschung, welches von Marcus Velke-Schmidt 2011 mitbegründet wurde und versucht, diese Leerstelle zu füllen. Besonders für meine berufliche Zukunft als Geschichtslehrperson erscheint mir wichtig, dass ich mich in diesem Panel mit der Displaced-Persons-Forschung auseinandersetzen durfte, vor allem um zukünftigen Generationen die Geschichte, die Herausforderungen und die Schicksale von DPs verstärkt und fundiert vermitteln zu können.

(Christina Knapp)

 

Nikolaus Hagen, Marcus Velke und Stella Maria Frei sprachen beim ersten Virtuellen Österreichischen Zeitgeschichtetag 2020 über die Displaced-Persons-Forschung in Österreich und Deutschland. Unter dem Vorsitz von Ingrid Böhler verhandelte das Panel forschungstheoretische Problemstellungen und gab Einblicke in die Forschungspraxis.

Mit „Displaced People“ oder „Displaced Persons“ (DP) werden Flüchtlinge, Evakuierte, Vertriebene, Kriegsgefangene oder ehemalige KZ-Häftlinge bezeichnet, die nach dem Zweiten Weltkrieg entwurzelt worden sind und sich außerhalb ihres Heimatlandes aufgehalten haben. Böhler verwies aber auf die schwierige Fassbarkeit des Begriffs, auf seine Perspektivität und auch uneinheitliche Verwendung.

Der erste Vortragende, Nikolaus Hagen vom Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien, bewertete das Forschungsgebiet als stark vernachlässigt. Die derzeitige Fokussierung auf die Mikroebene und den Nachkriegsdiskurs würden den Forschungsgegenstand nicht nur verzerren, sondern ihn auch marginalisieren. Immerhin wirke die DP-Geschichte bis in die allerjüngste Vergangenheit und Gegenwart hinein, was in der Forschung berücksichtigt gehöre.  

Der freischaffende Historiker Marcus Velke aus Bonn knüpfte an die Überlegungen seines Vorredners an und reflektierte über die Relevanz der Diplaced-Persons-Forschung. Bereits einleitend stellte er große Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland fest. Die 1985 einsetzende DP-Forschung in Deutschland hätte sich stark moralisierend mit Lagerstudien, jüdischen und „United Nations“-DPs beschäftigt. Velke plädierte dagegen für eine ganzheitliche Betrachtungsweise der aktuellen Forschung. 

Stella Maria Frei von der Justus-Liebig-Universität Gießen präsentierte in ihrem Beitrag schließlich ausgewählte Aspekte aus ihrer Dissertation, in der sie sich mit der psychosozialen Arbeit in DP-Lagern beschäftigt. Mit Rekurs auf zwei Fallbeispiele skizzierte die Vortragende die DP-Lager als Laboratorium für den Umgang mit traumatisierten und vom Holocaust gezeichneten Menschen, als „großes gruppentherapeutisches Instrument“.  

Nicht nur die Geschichtswissenschaft hat die Nachkriegszeit mit ihren Überlebenden lange Zeit vernachlässigt. Im Geschichtsunterricht werden Holocaust und Zweiter Weltkrieg in der Regel zwar umfassend behandelt, doch auf ihre unmittelbaren Folgen zwischen Flucht und Neubeginn wird allzu oft vergessen. Dabei kann die Nachkriegszeit mit ihren Fluchtbewegungen und demografischen Verschiebungen zur Förderung historischer Orientierungskompetenzen implementiert werden, um etwa die aktuelle Flüchtlingsthematik begreifen zu können. Wenn ein Viertel der unmittelbar nach 1945 in Österreich Lebenden DPs waren, warum verwehrt sich das Land heute gegen die Aufnahme minderjähriger Flüchtlinge aus überfüllten griechischen Lagern? Welche politischen Urteile lassen sich daraus formulieren? Welche Positionen nehmen Schülerinnen und Schüler in dieser Frage ein? DPs im Unterricht aufzugreifen bedeutet damit nicht nur, eine „Leerstelle“ im Geschichtsunterricht zu füllen, sondern auch historisch-politische Kompetenzen vermitteln zu können – und damit Werkzeuge zur Gestaltung der Zukunft.

(Raphaela Lanser)

In Panel 17 des 13. bzw. 1. Virtuellen Österreichischen Zeitgeschichtetags 2020 wurde die Displaced-Persons-Forschung und deren transnationale Perspektiven durch Vorträge von Nikolaus Hagen, Marcus Velke-Schmidt und Stella Maria Frei thematisiert; unter anderem waren dabei die Forschungslücken, die in der österreichischen Migrationsgeschichte über diese Thematik vorliegen, ein zentraler Diskussionspunkt.

Schon in den Nachkriegsjahren herrschte in Österreich und Deutschland eine Art des Vergessens und der Vernachlässigung von Displaced-Persons-Forschung. So wurde im Jahr 1945 von 1,6 Millionen Menschen gesprochen, die sich kriegsbedingt außerhalb ihres Heimatstaates aufhielten und ohne Hilfe nicht zurückkehren oder sich in einem anderen Land neu ansiedeln konnten. Heute wissen wir, dass die reale Zahl dieser Personen deutlich höher war, als 1945 angegeben wurde.

Die österreichische DP-Forschung hat sich in der Vergangenheit fast ausschließlich auf die Verwaltung der „Heimatlosen“ und deren Transfer konzentriert; den kulturellen und sozioökonomischen Einfluss, den die DPs auf die österreichische Gesellschaft ausgeübt haben, wurde dabei aber vernachlässigt und nicht erforscht. Diese Geringschätzung von kulturellen Diskursen stellt bis heute eine Leerstelle in der österreichischen Migrationsgeschichte dar.

Ich habe mich für den dargestellten Aspekt entschieden, da ich als angehender Geschichtslehrer – aber auch als Historiker – es als eine meiner Aufgaben sehe, einen fachlichen Einblick in die Migrationsgeschichte Österreichs und Europas zu haben und dazu wichtige Sachinhalte weitergeben zu können. Dazu braucht es ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein und ein Verständnis für die Rollen, die Politik, Medien und Gesellschaft in der Migrationsdebatte einnehmen.

Besonders als angehende Lehrperson erscheint es mir als äußerst wichtig, Schülerinnen und Schüler auf aktuelle Themen und Diskurse aufmerksam zu machen. So stehen die Migrationsgeschichte und dazugehörig die Flüchtlingsdebatte in der jüngeren Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart stets im Raum unserer Gesellschaft. Dabei werden die Inhalte von Medien oftmals kontrovers und verschleiert dargestellt, so dass man im Eifer des Gefechts auch den Blick für die Wahrheit aus den Augen verlieren kann. Die Behandlung im Unterricht und vor allem die Diskussion über das Themenfeld „Migration / Flüchtlingsdebatte“ soll dabei den Lernenden helfen, sich reflektiert und sachlich ein eigenes Bild der Sachverhalte zu schaffen. Die Kompetenzen, die es bei den Lernenden dazu braucht, sollten im Geschichtsunterricht erlernt und entwickelt werden und dabei stellt die Rolle des Lehrenden einen wichtigen Bestandteil dar.

(Valentin Rainer)

 

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