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Copy of Wozu ist Jesus gestorben?

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Wozu ist Jesus gestorben? Um Genugtuung zu leisten für unsere Sünden und uns damit vor der Strafe – nämlich der Hölle – zu bewahren. Diese Antwort Anselm von Canterburys war bis vor fünfzig Jahren in der katholischen Theologie und Verkündigung dominierend, und sie ist es noch heute bei konservativen Katholiken und bei Evangelikalen. Für die breite Mehrheit der Christen hat diese Antwort aber jede Plausibilität verloren.1 Das geschah im Zuge eines beispiellosen Umbruchs im Gottesverständnis, der in Predigt, Katechese und durchschnittlichem Glaubensbewusstsein binnen einer Generation die Vorstellung von einem liebenden und barmherzigen Gott dominieren ließ und die Angst vor Sündenstrafen, Gotteszorn und Hölle wegspülte, aber damit auch die Vorstellung, dass wir durch Jesu Blut von alldem befreit wurden, überflüssig machte. Was ist dann der Sinn von Jesu Tod?

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Gegen das Insistieren auf diese Frage warnt heutige Soteriologie meist vor Verengungen des Erlösungsverständnisses: Erlösung ist mehr als bloß die Reparatur des der Sünde verfallenen Menschen, und zwar in mehrfacher Weise: Sie führt den Menschen (1.) nicht nur innerlich und als einzelnen, sondern auch in seiner Leibhaftigkeit und seinen gemeinschaftlichen sowie gesellschaftlichen Verhältnissen auf ein Heil in Gott hin, das (2.) nicht nur jenseitig, sondern auch für dieses Leben relevant ist, und zwar (3.) nicht an seiner Freiheit vorbei,2 sondern auf eine Weise, in der Erlösung durch Gott den Menschen zu einem an seiner Erlösung partizipierenden Selbstvollzug freisetzt.3 Erlösung bedeutet damit (4.) nicht nur die Wiederherstellung einer in Sünde gefallenen Menschheit, sondern deren überbietende Vollendung auf ein zugleich göttliches und menschliches Ziel hin.4 Eine derart weit verstandene Erlösung kann (5.) nicht ausschließlich durch das Kreuz bewirkt werden, sondern muss – im Hinblick auf die durch Christus gewirkte Erlösung5 – in der Gesamtheit seines Lebens und Wirkens gründen. Diese Perspektivweitung ist so richtig wie wichtig, aber sie entbindet uns nicht von der Frage nach der Heilsbedeutung des Kreuzes. Auf sie stoßen wir nicht nur in der Bibellektüre, sondern in zentralsten christlichen Vollzügen wie Eucharistie und Kruzifixverehrung.

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Von einer Soteriologie, die den Schwerpunkt von Erlösung auf Jesu befreiendes Wirken legt, wird die Frage nach dem Sinn des Kreuzes gewöhnlich mit dem Hinweis beantwortet, dass Jesu heilvolles Wirken in Wort und Tat in einer der Liebe entfremdeten Welt fast zwangsläufig zu dessen Verstoßung führte. Beantwortet wird damit, warum Jesus den Fluchtod am Kreuz sterben musste, – im Sinn von: wie es dazu gekommen ist oder sogar dazu kommen musste. Dunkel bleibt dabei allerdings immer noch, wozu Jesus gestorben ist, das heißt, wie durch seine gewaltsame Tötung Gottes Heil nicht nur ultimativ zurückgewiesen, sondern neu eröffnet wurde.

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Eine verbreitete Antwort auf die Wozu-Frage der Erlösung lautet: Das Kreuz ist der Ernstfall, in dem Gott dem Menschen zeigt, wie weit er mit seinem liebenden Einsatz für die Menschen zu gehen bereit ist.6 Das leuchtet spontan ein, wenn man sich zum Beispiel vorstellt, wie ein Mensch in ein brennendes Haus läuft, um dort unter Einsatz seines Lebens ein Kind aus den Flammen zu holen. „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,13), – und gar noch für seine Feinde (vgl. Röm 5,10)!7 Das Problem an dieser Erklärung ist nur, dass beim Beispiel von dem Menschen, der ein Kind rettet, klar ist, wozu er in die Flammen läuft und sein Leben riskiert. Man stelle sich aber vor, ein Mann läuft grundlos in ein brennendes Haus und setzt so ohne erkennbaren Nutzen sein Leben aufs Spiel, nur um durch diese lebensgefährliche Tat seiner Freundin zu beweisen, wie sehr er sie liebt.8 Die Freundin wäre wohl nicht beeindruckt von der Größe seiner Liebe, sondern würde ihn begreiflicherweise für verrückt erklären. Genau dieses Problem stellt sich für die Erklärung, dass Jesu Kreuzestod ein Zeichen für Gottes Liebe ist.

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Ungeklärt bleibt in einer solchen Aussage, wie sich im Kreuzestod die göttliche Aktivität (als desjenigen, der das Zeichen setzt) zum Tun der kreuzigenden Menschen verhält. Betont man das Tun Gottes – dass also Jesus sich (oder dass Gott Jesus) hat töten lassen, um uns damit die Größe seiner Liebe zu beweisen – dann stellt sich das Problem des Sinns eines solchen Zeichens. Betont man dagegen, dass Jesus ja nicht selbst seinen Tod gesucht, sondern von seinen Gegnern ans Kreuz geschlagen wurde, dann stellt sich die Frage, wo denn Gott (in Jesus Christus) ein Zeichen gesetzt haben soll. Immerhin ging Jesus freiwillig nach Jerusalem (vgl. den von Jesus zurückgewiesenen Einspruch von Petrus in Mt 16,22f). Im Sinne einer richtigen Verhältnisbestimmung von göttlicher und sündig-menschlicher Aktivität lässt sich hier argumentieren, dass Jesus aus Treue zu seiner Sendung – in einer kritischen Solidarität mit seinen Gegnern – den Tod nicht suchte, aber in Kauf nahm.9 So wurde das Kreuz zur Gestalt, die Gottes Liebe unter den Bedingungen der Sünde annehmen musste.10) Aber auch damit ist die Frage noch nicht beantwortet, inwiefern Jesu Tod mehr ist als die Besiegelung einer Zurückweisung des Gotteswortes (vgl. Joh 1,11).
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Dabei darf kein Missverständnis aufkommen: Die theologische Rede vom Kreuz als Zeichen von Gottes bis ins Äußerste gehender Liebe soll damit nicht als solche kritisiert werden. Sie erinnert an Gottes Liebe als den eigentlichen Grund von Erlösung im Kontext des Kreuzes, wo durch irreführende theologische Interpretamente der Blick auf diese Liebe immer wieder verstellt wurde. Und als solches ist der Erweis von Gottes Liebe sogar das Erste, was zur erlösenden Bedeutung des Kreuzes zu sagen ist. Aber der Hinweis auf das Kreuz als Zeichen von Gottes Liebe gibt nicht schon eine Erklärung, wozu Jesus gestorben ist, sondern verlangt sie. Wer vom Kreuz als Zeichen von Gottes Liebe spricht, um damit die Frage nach dem Sinn des Kreuzes zu beantworten, erweckt nur den trügerischen Schein einer Antwort, der letztlich zu Verwirrung führt.11

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Einer Soteriologie, die nur die Warum-Frage und nicht die Wozu-Frage in Bezug auf das Kreuz beantworten kann, droht das Kreuz zum Unheilszeichen eines definitiven Scheiterns von Gottes Liebe in dieser Welt zu werden. In diesem Sinn ist zum immer wieder aufflammenden Kruzifix-Streit zu bemerken, dass er zuallererst eine Antwort nach dem Heilssinn des Kreuzes erfordert, die Christen sich selber geben können, – und zwar eine theologisch fundierte Antwort, die einer breiten Mehrheit von Christen unmittelbar einleuchten kann.12 Was zum Beispiel können wir einem kleinen Kind antworten, das im Blick auf ein gotisches Kruzifix fragt, warum da dieser blutende Mann hängt?13 Und es ist ein „Plausibilitätsnotstand“ in Bezug auf die Herzmitte der Eucharistie zu konstatieren, nämlich für das Hochgebet mit den Einsetzungsworten „Das ist mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird.“ – Wozu denn?

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So erhebt sich der Verdacht, dass eine weitgehend ersatzlose Preisgabe der dominierenden Satisfaktionslehre für die Verkündigung ein theologisches Vakuum zurückgelassen hat, aufgrund dessen das durchschnittliche christliche Glaubensbewusstsein zur schwachbrüstigen Schrumpfgestalt zu regredieren droht.14 Das gilt trotz bemerkenswerter Beiträge in neueren Soteriologien, solange diese nicht genügend populär oder popularisierbar sind. Und es gilt trotz eines sensus fidelium, der auch dort vorhanden sein kann, wo befriedigende Antworten auf kritische Einwände nicht formuliert werden können. Wenn eine verzweifelte Christin sich am Kreuz festhält und daraus die Zuversicht gewinnt, dass Gott selber in die tiefsten Abgründe des Leids hinabgestiegen ist, sodass sie mit ihrem Leid und ihren Ängsten nicht allein ist, dann ist das eine Antwort auf unsere Frage, und zwar auch dann, wenn sie nicht intellektuell befriedigend begründet werden kann. Aber gerade angesichts bedrängender Zweifel am Sinn des Kreuzes nicht nur von Religionskritikern, sondern auch von wohlmeinenden Christen, angesichts von Polarisierungen, die sich an der Kreuzesfrömmigkeit entzünden und angesichts der Problematik von pervertierten Leidensspiritualitäten15 ist der theologische Dienst einer „fides quaerens intellectum“ dringend gefordert.

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Anselms Satisfaktionslehre konnte über Jahrhunderte und in verschiedenen Variationen dominieren, weil sie drei Stärken miteinander verband: Sie war vernünftig, bibelnahe und eingängig.

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Vernünftig war sie, weil sie eine schlüssige Antwort auf die Frage „cur deus crucifixus“ zu geben vermochte, in dem Sinn, dass sie sowohl konsistent (d.h. schlüssig, widerspruchsfrei) als auch kohärent zu zentralen anthropologischen und theologischen Fakten zu sein schien, – nämlich zur Freiheit des Menschen und zum Gewicht der Sünde, zu Barmherzigkeit und Gerechtigkeit eines allmächtigen und guten Gottes.16

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Bibelnahe war Anselms Antwort, weil sie eine einleuchtende Interpretation von zentralen soteriologischen Aussagen der Bibel zu geben vermochte.17.

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Und eingängig war sie, weil sie mit einfachen – wenn auch gefährlich missverständlichen – Bildern die absolute Angewiesenheit der Menschen auf die Erlösung durch das Kreuz einzuschärfen vermochte.18

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In jedem dieser drei Punkte hat die Anselmsche Satisfaktionslehre – zumindest in ihrer vordem populären oder vulgarisierten Gestalt – mittlerweile ihre Plausbilität eingebüßt. Was wir brauchen, sind bibelgemäße (nicht bloß bibelnahe), vernünftig nachvollziehbare und zugleich eingängige soteriologische Modelle, die unter heutigen Bedingungen die Frage nach dem Sinn des Kreuzes beantworten. Zu den unhintergehbaren heutigen Bedingungen gehört die Einsicht in die Bedeutung menschlicher Freiheit und Verantwortung, sowie die Einsicht in Gottes unbegrenzte Liebe, die durch keinerlei dekretierte Erlösungsbedingungen (wie etwa Satisfaktion, Wiederherstellung der geschändeten Ehre Gottes ...) erst wiederhergestellt werden muss. Weiters muss eine heute akzeptable Antwort jener vierfachen Weitung des Erlösungsverständnisses entsprechen, die wir oben bereits angesprochen haben.

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Jeder Versuch einer derartigen neuen Antwort hat allerdings auch bescheiden anzuerkennen, dass ein Wurf wie Anselms jahrhundertelang dominierende Satisfaktionslehre kaum möglich sein wird; dass Vernünftigkeit, Bibelnähe und Eingängigkeit sich – vor allem im Hinblick auf das Kriterium der Eingängigkeit – erst über einen längeren Zeitraum bewähren müssen; dass er auf den Schultern großer soteriologischer Vorgänger der Vergangenheit (auch Anselms) und der Gegenwart aufruhen wird und deshalb ein besonderer Originalitätsanspruch kein Kriterium sein wird; und dass ein solcher Versuch bei allem Bemühen um umfassende Integration Akzente setzen muss,19 sodass er nicht den Anspruch wird erheben können, das soteriologische Modell der Zukunft zu sein.

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Weitgehender Konsens in der heutigen Soteriologie ist das „Gewicht der menschlichen Freiheit“.20 Gemäß dem Scotistischen Prinzip „Deus vult condiligentes“ („Gott will Mitliebende“) hat Gott den Menschen von Schöpfung an mit einer Freiheit begabt, die es diesem ermöglicht, aus eigener Initiative Gott, seinen Nächsten und sich selbst zu lieben. Das beinhaltet die Möglichkeit eines freien, sündhaften Neins zu Gott, womit der Mensch sich abschneidet von dem Wurzelgrund seines und allen Seins und sich somit auch sich selber, seinen Mitmenschen und insgesamt seiner Welt gegenüber entfremdet. Diese mehrdimensionale Entfremdung verstrickt die Menschen derart in Fesseln der Sünde, dass sich Sünde als Freiheit zur Unfreiheit erweist. Sünde ist ein Gefängnis, in das ein Mensch sich – und andere – aus freier Entscheidung einschließen kann, ohne die Möglichkeit, sich aus eigenem Entschluss wieder daraus zu befreien. Das macht den Sünder in verschärfter Weise erlösungsbedürftig. Aber auch Gott hat nicht die Möglichkeit, dieses folgenschwere Nein des Menschen einfach zu missachten, um ihn damit aus seinem selbstverursachten Gefängnis zu befreien. Gewiss könnte er das – de potentia absoluta –, aber damit würde er den Menschen der Würde seiner Freiheit berauben und ihm so mit der anderen Hand nehmen, was er ihm mit der einen Hand zurückgeben wollte: nämlich ein Heil, das sich in einem frei vollzogenen Ja der Liebe zu Gott und seiner Schöpfung vollzieht. So scheint es, dass die heillose Festgelegtheit eines frei vollzogenen Nein zu Gott weder vom Sünder selber noch von Gott her aufgebrochen werden kann. Jenes Gewicht der Sünde, welches Anselm gegen die Idee einer souveränen göttlich-barmherzigen Generalamnestie zu bedenken gab,21 bleibt also auch für eine heutige Theologie aktuell, und zwar als Konsequenz des Gewichts der Freiheit.

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Wenn der Mensch weder sich selber erlösen noch von Gott erlöst werden kann, bleibt er dann zur Unerlösbarkeit verdammt? Das ist die Ausgangsfrage, die uns zur Bedeutung und Notwendigkeit des Kreuzes führt. Wir können und müssen versuchen, das Kreuz als Ausweg aus diesem Dilemma der Unerlösbarkeit einer zur Sünde verdorbenen menschlichen Freiheit zu begreifen.

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Durch eine scharfe Betonung der menschlichen Freiheit – aus schöpfungstheologischen Gründen und mit einer Wahrnehmung der Abgründe ihrer sündigen Verwirklichung –, kam nun eine Unfreiheit in den Blick, die Erlösungsbedürftigkeit besagt. Damit haben wir die Frage erreicht, auf die das Kreuz eine Antwort sein könnte. Aber haben wir den Bogen (eines forcierten Ansatzes bei menschlicher Freiheit und Verantwortung) nicht völlig überspannt? Erstens entspricht eine so gewichtige Freiheit nicht der durchschnittlichen Erfahrung, zweitens sind wir damit auf eine Misere des Sünders gestoßen, aus der – wie festgestellt – auch Gott den Menschen nicht befreien kann, ohne die Struktur seiner geschöpflichen Freiheit zu zerschlagen. Und doch sind wir aus theologischen Gründen (und nicht etwa nur durch die fragwürdige Rezeption eines idealistisch-neuzeitlichen Freiheitsparadigmas22) zur Annahme einer solch forcierten Freiheit verpflichtet.

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Einen Ausweg eröffnet hier allein eine dramatische Theologie, welche weder die menschliche Freiheit noch ihre sündige Verwirklichung abstrakt betrachtet, sondern darauf insistiert, beides in einem dramatischen Geschehen fortschreitender Selbstoffenbarung Gottes wahrzunehmen.23

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Damit kann zunächst das Dilemma einer Unrettbarkeit des aus Freiheit gegen Gott entschiedenen Menschen aufgelöst werden, ohne dass sein dramatischer Ernst verloren ginge. Lösungsansatz ist der Gedanke einer geschichtlich begrenzten und vertiefbaren Selbstoffenbarung Gottes. Der konkrete, geschichtliche Mensch hat Gott niemals umfassend und restlos begriffen, und deshalb kann der konkrete, geschichtliche Sünder Gott nicht total abgelehnt haben, sondern maximal so weit, als er ihn erfasst hat. Wenn nun Gott sich einem Sünder in vertiefter Weise offenbart, so entsteht dadurch eine Situation, in der seine bisherige unheile Fixierung aufgebrochen ist. Der Sünder bekommt die Möglichkeit, im Blick auf bisher unerkannte und deshalb noch nicht definitiv24 abgelehnte Aspekte Gottes seine frühere sündige Entscheidung zu revidieren.25 Die Eigenart einer solchen Revision lässt sich mit den Worten ausdrücken: „Jetzt, da ich erkannt habe, dass Gott so ist, sage ich ja zu ihm.“

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Allerdings bewirkt Gottes vertiefte Selbstoffenbarung nicht automatisch eine solche Umkehr. Sie versetzt den Menschen nicht direkt in einen Zustand des Heils, sondern reaktiviert dessen Freiheit. Dem auf das Nein zu Gott und Kreatur festgelegten Sünder wird durch Gottes vertiefte Selbstoffenbarung eine erneute Möglichkeit zu wählen eröffnet. Diese Möglichkeit kann er auch zu einem verschärften Nein missbrauchen. Damit gerät das Risiko der Erlösung in den Blick: Dass Gott sich einem notorischen Sünder vertieft offenbart, gleicht dem Wahnwitz, einem notorischen Mörder die Fesseln, in denen er sich verfangen hat, durchzuschneiden, ohne ihm vorher das Messer wegzunehmen.26 Es ist diese uns kaum verantwortbar erscheinende „Unvorsicht Gottes“27, die das Gleichnis von den bösen Winzern thematisiert: „Zuletzt sandte er seinen Sohn zu ihnen; denn er dachte: Vor meinem Sohn werden sie Achtung haben“ (Mt 21,37).

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Um den Preis der Erlösung in seiner Unausweichlichkeit und Tragweite einschätzen zu können, müssen wir dreierlei bedenken: Erstens, wenn Gott den zur Freiheit berufenen Menschen wirklich erlösen will – d.h. nicht von seinem Menschsein (durch das Zerbrechen seiner Freiheit, die er sündig missbraucht hat), sondern in seinem Menschsein, in der erneuten Ermächtigung zu einem freien Ja –, dann hat Gott keine andere Wahl, er muss dieses Risiko eingehen. Zweitens ist die Tragweite dieses Risikos zu berücksichtigen. Wie oben dargelegt, verwirklicht sich ein Nein zu Gott in einer – unter Umständen zerstörerischen – Verweigerung gegenüber seiner Schöpfung, gegen Mitmenschen, Welt und sich selbst.28 Der Preis der Erlösung gewinnt damit erschreckende Dimensionen, – und zwar so weit, dass das Leid der Welt zu einem großen Teil damit zusammenhängen könnte.29 Wer hier zornig protestiert, berücksichtige die zwingende Logik: Angesichts des Gewichts der Sünde, die im Gewicht der Freiheit gründet, ist Erlösung billiger nicht zu haben.

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Drittens ist das dramatisch potenzierte Risiko zu bedenken: Es bleibt ja immer noch die Frage, wie Gott die Folgen der freien Erschaffung und vertieft selbstoffenbarenden Befreiung des Menschen verantworten kann: nämlich eine mögliche Verhärtung des Sünders – fern von Erlösung – in gesteigerte Bosheit, und dessen gesteigerte Destruktivität nicht nur gegen Gott selber, sondern gegen all die innerweltlichen Opfer. Eine Antwort lässt sich nur dramatisch geben: indem Gott beide – die Opfer der Geschichte, aber auch den verhärteten Sünder – durch eine nochmals vertiefte Selbstoffenbarung nochmals zur Freiheit für das Gute freisetzt,30 – allerdings mit der nochmals verschärften Gefahr, dass der verhärtete Sünder diese neuerliche Freisetzung seiner Freiheit durch ein nochmals destruktiveres Verhalten seiner Freiheit, Gott und den anderen Geschöpfen gegenüber einsetzt. Das Kreuz kommt hier in den Blick als Realsymbol dafür, wie weit Gott mit diesem vergebenden Nachgehen gegenüber dem sich verlierenden Sünder bereit ist zu gehen. Mit Hans Urs von Balthasar stehen wir hier

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„vor dem theodramatischen Grundgesetz der Weltgeschichte, daß das Je-mehr der Offenbarung göttlicher (grundloser) Liebe ein neues Je-mehr (grundlosen Joh 15,25) menschlichen Hasses hervortreibt. Ein Ende dieser Eskalation ist nicht abzusehen, deshalb muß das Kreuz an ein endloses Ende (da Jesus für jede Sünde gebüßt hat) verlegt werden. Am Ende des Bösen, der Hölle, ist das Kreuz aufgerichtet.“31
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Mit diesem dramatischen Ansatz ist das Dilemma einer sich gegen Gott versteifenden – und derart weder von sich noch von Gott her befreibaren – Freiheit zwar nicht endgültig aufgelöst, aber zumindest für unsere geschichtlichen Lebenssituationen „verflüssigt“. Durch vertiefte Selbstoffenbarung hat Gott einen Ausweg, wenn auch noch nicht absehbar ist, wohin – außer in die totale Katastrophe – er letztendlich führt. Bevor wir diesen Ansatz christologisch verdeutlichen, bleibt aber die andere Anfrage gegen den forciert freiheitstheologischen Ansatz: Wie geht denn diese geradezu prometheische Freiheit einer von sich her irreversiblen Fixierung gegen Gott mit unserer durchschnittlichen Erfahrung einer vielfältig bedingten und verstrickten, sich in Alltagssorge verzettelnden und deshalb Gott meist gar nicht erreichenden Freiheit zusammen? Wo tritt denn jenes radikale Nein wirklich auf, mit dem ein Mensch die Gesamtheit seines Wissens um Gott und seiner Freiheit ihm gegenüber in Anspruch nimmt, um Gott sein Nein entgegenzuschleudern? Sind unsere Neins gegen Gott und seine Schöpfung nicht zuallermeist nur die Konsequenzen ungewollter Kompromisse in unübersichtlichen Situationen, in denen es uns nicht nur an moralischer Kraft, sondern auch – angesichts des Fehlens eindeutig guter Alternativen – an Orientierung mangelt?

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Zunächst: Unser Argumentationsgang vollzog in schematischer Vereinfachung eine Grenzüberlegung, welche erst noch mit dem Faktum der gewöhnlichen Begrenztheit und deshalb Revidierbarkeit menschlicher Entscheidung abzugleichen ist. Ein Sünder kann auch ohne vertiefte Neuoffenbarung Gottes eine frühere Entscheidung revidieren, wenn er sie nicht unter Inanspruchnahme seiner ganzen Freiheit und (Gottes-) Erkenntnis vollzogen hat. Ein solches Sündigen, welches nicht aus der Vollkraft einer Fundamentaloption32 erfolgt, ist der Normalfall, der sich unter Umständen dem Extrem einer alle menschlichen Möglichkeiten ausschöpfenden Totalentscheidung annähern kann, ohne sie ganz zu erreichen. Wir konzentrieren uns hier auf diesen asymptotisch annäherbaren Grenzfall einer eigentlichen Todsünde, da Erlösung nur möglich ist, wenn sie auch diesen Grenzfall einholt, und da erst an diesem Grenzfall die Heilsbeutung des Kreuzes aufleuchtet. Dass dieser Grenzbereich nicht nur von einigen wenigen prometheischen Existenzen beschritten wird, sondern auch für den Durchschnittsmenschen relevant ist, liegt an dem noch zu entfaltenden Faktum, dass Gottes erlösendes Handeln durch seine vertiefte Selbsterschließung Menschen mit einer vertieften Gotteserkenntnis und Freiheit Gott gegenüber begabt, die sie im Fall einer negativen Inanspruchnahme dieser Freiheit auf diesen Grenzbereich hin treibt, – wo sie nur durch ein nochmals radikalisiertes Erlösungshandeln Gottes gerettet werden können, welches sie nochmals einer kritischen Totalablehnung Gottes näherführen kann, usw.
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Dass die Möglichkeit einer das menschliche Vermögen restlos beanspruchenden und auf diese Weise irreversiblen Entscheidung Gott gegenüber für jeden Menschen relevant ist, lässt sich nicht nur – wie soeben geschehen – auf eine phänomenologisch nachvollziehbare Weise annähern, es folgt auch aus fundamentalen christlichen Glaubensoptionen:33 Wenn es ein jüngstes Gericht gibt, welches die Menschen in einen irreversiblen „Zustand“ von Himmel oder auch Hölle bringt, und wenn dieses Gericht nicht bloß ein äußerlich aufgezwungenes Urteil ist, dann muss eine irreversible, weil alle menschlichen Möglichkeiten total beanspruchende Entscheidung Gott gegenüber letztlich von jedem Menschen vollzogen werden. Der Einwand, dass eine solche Entscheidung sich in Bereichen vollzieht, die sich von unserer gegenwärtigen Lebenssituation wesentlich unterscheiden (nämlich jenseits des Todes), widerlegt unseren Argumentationsgang nicht, sondern hilft, ihn zu präzisieren: Wenn ein jüngstes Gericht die Freiheit des Gerichteten nicht überwältigt, sondern ihren ultimativen Selbstvollzug freilegt, dann kann diese ultimativ vollzogene Freiheit doch nur eine sein, die ganz auf der Freiheitsgeschichte dieses Lebens aufruht. Damit erhält die irdische Freiheit für jeden Menschen eben jenes Gewicht einer Fundamentaloption für oder gegen Gott, von dem wir hier sprechen, – auch wenn diese Abgründigkeit von Freiheit gewöhnlich verborgen bleibt und nur in seltenen Situationen gesteigerter Gnadenerfahrung bewusst wird.
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Eine Öffnung dieser radikalen christlichen Freiheitsauffassung auf eine umfassendere Anthropologie, die den Menschen nicht nur als radikalen Sünder sieht, steht allerdings noch aus. Sie wird im folgenden Kapitel unternommen werden.
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Lassen wir uns versuchsweise auf eine optimistischere Anthropologie ein und gestehen den Menschen zu, dass sie – zumindest die meisten von ihnen – großteils aus einem wenn auch schwachen Ja zu Gott (in all seinen Dimensionierungen entlang der Grundbezüge von Gottbezug, Interpersonalität, Welt- und Selbstbezug) leben. Weiters wollen wir – wieder versuchsweise – einräumen, dass der demgemäß geringere Anteil eines Neins zu Gott noch einmal zum größten Teil durch eine erbsündige Schuldverstrickung bedingt ist, welche die Menschen gerade auch in ihrem sündhaften Tun mehr zu Opfern als zu verantwortlichen Tätern der Sünde macht.34 Damit würde eine eigentliche Sünde und Schuld, die einem bewussten und gewollten Nein gegen Gott und seine (bzw.: in seiner) Schöpfung entspringt, für die meisten Menschen nur den Bruchteil eines Bruchteils ihrer Freiheitsgeschichte ausmachen.

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Legen wir eine solche Einschätzung von menschlicher Offenheit und Verschlossenheit Gott gegenüber auch für das Judentum vor zweitausend Jahre zugrunde, dann müsste Jesu Botschaft vom Gottesreich großenteils auf dankbare Annahme gestoßen sein. Mit dem größeren Anteil einer echten Offenheit für Gott würden die Menschen ein authentisches Gotteswort mit Freude und Jubel aufgegriffen haben. Und mit dem Teil ihrer Existenz, der ohne sündige Ratifizierung in Schuld verstrickt ist, wären sie immerhin noch für Jesu vollmächtige Zusage einer bedingungslosen Sündenvergebung empfänglich gewesen. Nur mit dem Bruchteil eines Bruchteils ihrer freien Selbstbestimmung, der ein freies Nein gegen Gott wissend und verantwortlich vollzogen hat, würden sie in einer Weise Widerstand gegen Gott und seinen vollmächtigen Boten geleistet haben, die dem oben entfalteten Gewicht der Sünde entspricht.35 Aus dieser versuchsweise erwogenen optimistischeren Menschensicht würde also folgen, dass Jesu Botschaft vom Gottesreich durch eine Welle von Zustimmung und heilvoller Lebensveränderung bestätigt und verstärkt worden wäre.

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Nun wird das in den Evangelien auch berichtet. Aber wir müssen berücksichtigen, dass die kraftvolle Dynamik des anbrechenden Gottesreichs die verborgenen Bestände eines freien Neins zu Gott erbarmungslos an die Oberfläche treibt.36 Denn genau das ist eben auch in den Evangelien beschrieben: Vor allem unter dem Druck der sie beobachtenden Menge reagierten Menschen mit geradezu irritierender Aggression gegen Jesus und seine Botschaft. Verborgene Dämonen wurden in Menschen, die Jesus begegneten, aufgestört, und die Stimmung von Gemeinschaften – wie etwa der Synagogenversammlung in Nazaret gemäß Lk 4 – schlug in maßlose Wut um.37

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Zur optimistischen Anthropologie, auf die wir uns versuchsweise eingelassen haben, wäre aus biblischer Perspektive die paulinische Warnung kritisch anzubringen: „Wisst ihr nicht, dass ein wenig Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert?“ (1 Kor 5,6, vgl. Gal 5,9). Eine durchschnittlich menschenfreundliche Haltung droht im Ernstfall zusammenzubrechen oder ins Gegenteil umzuschlagen. Zudem lässt sich mittels der mimetischen Theorie aufweisen, dass die durchschnittliche Friedlichkeit der Menschen oft von verdeckten Sündenbockmechanismen zehrt. Jesus macht deutlich, dass es einen ungerechten Frieden gibt, der durch sein Heilswirken zwangsläufig zerstört wird, im Sinne von Mt 10,34: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“38
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Gewiss hat Jesus sein Erlösungswerk, zu dem er gesandt war, bereits mit seinem öffentlichen Wirken begonnen. Aber es kann erst dort zur Vollendung kommen, wo auch die verborgenen Wurzeln eines entschiedenen Nein zu Gott überwunden werden. So läuft Jesu öffentliches Heilswirken mit einer ungeheuren Dynamik auf eine ultimative Konfrontation mit den Bastionen eines todsündigen Nein zu,39 – also auf das Kreuz als das Ereignis im Leben Jesu, welches vor allem vom Johannesevangelium als seine Stunde bezeichnet wird. An diesem „kruzialen“ Punkt wird unsere Analyse aus dem vorigen Kapitel – über das Gewicht von Freiheit und Sünde und über den Preis der Erlösung – triftig; und zwar auch im Kontext einer Anthropologie, die den Menschen nicht auf eine prometheische Gottesverweigerung festschreibt, sondern die Anteile seines guten Wollens ebenso berücksichtigt wie seine zum Großteil ungewollte Schlechtigkeit als Opfer von widrigen Verhältnissen.

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Demgemäß ist Erlösung nicht auf Passion und Kreuz beschränkt, sondern erweist sich als ein dramatischer Prozess,40 der – im Blick auf die durch Jesus gewirkte Erlösung – das gesamte Christusereignis durchläuft, von Jesu Gottesreichbotschaft über die Konfrontation mit seinen Gegnern bis zu Kreuzestod, Auferstehung und Aussendung des Heiligen Geistes:41

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Das Werk der Erlösung setzt ein mit einer vertieften Selbstoffenbarung, die Gott in freier Initiative wirkt, ohne dabei auf die Schuld der Menschen zu achten. Das war schon mit den alttestamentlichen Heilsmittlern und Heilsinstituten so, und es ist so mit dem öffentlichen Wirken Jesu (vgl. Hebr 1,1f). Die Begegnung mit Jesus versetzte Menschen in einen Kairós, d.h. in eine besondere Zeit und Situation der Gnade,42 die allerdings keinen Heilsautomatismus besagt, sondern Freisetzung in eine neue Freiheit, zu Gott Ja zu sagen. Dieses Ja wird ermöglicht durch die unerwartet einbrechende Erfahrung einer beglückenden und befreienden Gottesgegenwart, und es wird angefochten durch die frühere Schuldgeschichte, insofern diese bewirkte, dass Menschen – und Gemeinschaften – zur Sicherung ihrer Existenz und Identität auf Mittel setzten, die durch ein Ja zu Gott entwertet würden, und von denen sie sich in Konsequenz ihres Ja zu Gott abwenden müssten. Es ist Umkehr gefordert von bisherigen schuldverstrickten Lebensformen, etwa in der Sicherung der eigenen Identität durch Abgrenzung von anderen anstatt – glaubend – auf dem Fundament von Gottes Zusage und Verheißung. Insofern kostet das Ja zu Gott, es erfordert eine radikale Abkehr von den bisherigen Sicherstellungen, – von Reichtum, Ansehen, Macht, kurz: vom Gott des Mammon. Wo Menschen vor diesen Kosten zurückscheuen, verfehlen Sie den Kairos und fallen damit nicht nur in ihre bisherige Unentschiedenheit zurück, sondern verstricken sich verschärft in die Option eines Nein zu Gott. Von nun an müssen sie die Stimme des Gotteszeugen bekämpfen, weil diese ihre frühere und nunmehr zementierte widergöttliche Option bedroht.43

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Der verfehlte Kairos ist die Situation, in der Jesu anfänglich positive, ermutigende und bedingungslos vergebende Haltung in ein scharfes Urteilen und Warnen umschlägt.44 Seine Gerichts- und Höllenworte warnen vor der ultimativen Heillosigkeit, auf die ein Nein gegen Gottes vertiefte Selbstoffenbarung – wie sie in der Verweigerung von Jesu Gottesreichbotschaft erfolgte – hinausläuft: nämlich eine heillose Entschiedenheit, aus der weder der Sünder sich selbst noch Gott ihn herausreißen kann. Zudem deckt Jesus die treibenden Motive und Mächte in jenen Menschen und Kollektiven auf, welche sich gegen Gottes vertiefte Selbstoffenbarung versteiften: Stolz und Rivalität, Habgier und Neid, Lüge und ein Hass, der letztlich auf Mord zielt. Jesus betreibt diese Aufdeckung nicht einfach mit Worten, sondern durch ein Handeln,45 das in seinem Wesen und seinen Absichten zwar liebevoll und friedfertig ist, aber von seinen Gegnern aus der sie treibenden Dynamik heraus nur als Provokation und Bedrohung verstanden werden kann.46 Damit riskierte Jesus eine Eskalation der Konflikte mit seinen Gegnern, die schließlich auf seine Tötung hinauslief. Erst vom Kreuz (und seiner folgenden Auferstehung und Geistsendung) her wird einsehbar, dass Jesu provokatives Verhalten nicht eine ultimative Selbstverdammung seiner Gegner betrieb, sondern eine Aufdeckung der sie verborgen leitenden destruktiven Mächte. Über die Schritte von Einsicht, Selbstdistanzierung und Umkehr konnte sich für seine Gegner so doch noch ein erlösender Ausweg öffnen.

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Von daher ergibt sich zunächst eine Antwort auf die Frage, warum Jesus sterben musste: Sein Tod war nicht das bedauerlich zufällige Resultat ungünstiger politischer Verhältnisse, sondern die Konsequenz eines Heilshandelns, mit dem Jesus die verstreuten Jas zu Gott einsammelte, unentschiedene Verstrickungen in Böses aufbrach („Deine Sünden sind dir vergeben“) und die Schlacke eines echten Nein zu Gott an die Oberfläche trieb.

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Wie können Menschen aus den Konsequenzen eines solchen frei verantworteten Nein zu Gott erlöst werden? Wir haben festgestellt, dass das Gefängnis solcher Todsünde weder von ihnen selbst, noch einfach durch Gott von außen aufgebrochen werden kann. Vor der Ausweglosigkeit einer in Erkenntnis und Freiheit voll verantwortlichen Sünde („Todsünde“) warnen auch die Evangelien: „Wer aber den Heiligen Geist lästert, der findet in Ewigkeit keine Vergebung, sondern seine Sünde wird ewig an ihm haften“ (Mk 3,29par), – wenn Gott nicht durch seinen vertieften, letztlich ins Kreuz mündenden Einsatz einen Ausweg öffnen würde.47 Wie der Ausweg einer vertieften Selbstoffenbarung Gottes mit dem „Einsatz des Kreuzes“ zusammenhängt, ist im Folgenden zu erschließen. Die Frage, wozu Jesus gestorben ist, wird von daher zu klären sein.

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Neuere Soteriologie antwortet auf diese Frage vor allem mit zwei Konzepten: Einerseits verweist sie auf eine Solidarität Jesu mit seinen Gegnern (und letztlich mit allen Menschen),48 die bis zur Identifizierung49 mit ihnen geht, in einer Proexistenz, die ihren explizitesten Ausdruck in Jesu Abendmahlsworten und -gesten findet, und die ihn als Opfer und Sündenbock in die sündige Welt seiner Gegner hineinzieht. Anderseits wird betont, dass Jesus sein ihm von den Gegnern aufgezwungenes Schicksal nicht nur passiv trug, sondern stellvertretend in einen Akt liebender Selbsthingabe an Gott transformierte.50

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Es bleibt allerdings die Frage: Was ändert all das für die Sünder? Wenn Jesus sich bis in den Tod als solidarisch mit jenen zeigte, die sich auf die äußerste Unsolidarität seiner Verstoßung einigten, womit genau hatte er sich dann solidarisiert? – doch nicht mit ihrer Selbstfestlegung auf eine äußerste Solidaritätsverweigerung in ihrem Töten und in ihren Tötungsabsichten? Wenn er sie aber nicht an diesem ihrem Brennpunkt der Sünde solidarisierend-identifizierend erreicht, wie kann er sie dann erlösend erreichen, wenn sie sich auf diesen Punkt festlegen?

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Schwager stellt dieses Problem in die Mitte seiner Soteriologie; er beantwortet es mit der Unterscheidung, dass Jesus sich nicht mit dem sündigen Tun seiner Gegner identifizierte, sondern mit ihnen insofern, als sie gerade auch in ihrem sündigen Tun nicht Täter, sondern – verblendet und hineingerissen in eine teuflische Dynamik – Opfer der Sünde waren. Diese Unterscheidung ist in der Tat zwingend, um Jesus nicht als mit seinen Mördern sympathisierenden, indirekten Selbstmörder zu verstehen, und um somit den Unterschied zu wahren zwischen „zur Sünde gemacht“ (2 Kor 5,21) und „zum Sünder gemacht“. Aber begrenzt Schwager durch eine solche Reduzierung von Jesu Identifikation auf das Opfersein der Gegner, die „nicht wissen, was sie tun“,51 nicht auch dessen Erlösungswerk auf jene Anteile, an denen die Menschen nur das Opfer, nicht aber verantwortliche Täter ihrer Gottesverweigerung sind? Da Schwager die Faktizität zumindest von Anteilen einer solchen verantwortlichen Gottesverweigerung in den Menschen nicht in Abrede stellt (vgl. ebd. 220), bliebe gemäß einer solchen Konzeption der wichtigste und schwierigste Teil von Erlösung unerledigt.52
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Und wenn Jesus seinem Martyrium – stellvertretend für seine Marterer – die Bedeutung einer liebenden Selbstauslieferung an den himmlischen Vater gab, so wurde dadurch doch nicht schon automatisch die gewaltsame Bedeutung dieses Geschehens für seine Täter verwandelt.53

42
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Was Jesus allerdings durch seine Identifizierung mit den Kreuzigern und durch seine Transformation des Aktes der Kreuzigung erreichte,54 war eine Modifikation der Geschichte der sündigen Täter.55 Biographisch relevantes Faktum ist nunmehr, dass sich deren Schuldgeschichte auf die Verstoßung des Gottessohnes zuspitzte, der dieses ihm zugefügte Schicksal als proexistente Selbsthingabe an den himmlischen Vater vollzogen hatte. Diese Sinndimension ist den Kreuzigern zunächst verschlossen. Sie meinen, einen Gotteslästerer dem gebührenden Schicksal überliefert zu haben, – als verlängerter Arm eines richtenden Gottes. Es ist aber möglich, dass die verkannte wahre Bedeutung dieses Geschehens den Tätern zu einem späteren Zeitpunkt offenbar wird. Damit erschließt sich ihnen eine neue, bisher ungekannte Dimension Gottes, und zwar zuinnerst verbunden mit ihrer eigenen Schuldgeschichte, und deshalb mit folgenden Konsequenzen:

43
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1. Dass die Gegner Jesu in ihrer Lebensgeschichte eine abgründige Zurückweisung Gottes vollzogen haben, wird für sie jetzt offenbar.56

44
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2. Eine Revision dieser Zurückweisung wird nun möglich; – im Sinne des Ausrufs: „Jetzt, da ich erkannt habe, dass Gott so ist, sage ich ja zu ihm.“57 Dieses neu erkannte Sosein Gottes bezieht sich auf die liebende Weise, in welcher der Gott repräsentierende Jesus Christus mein ungerechtes Handeln beantwortet hat.

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3. Dadurch, dass Jesus das ihm durch die Täter zugefügte Schicksal in proexistent-vergebungsbereiter Weise zur Selbsthingabe an Gott transformiert hat, und dadurch, dass die Täter beides (ihre Schuld und deren Transformation durch Christus) anerkennen, können nun sie ihre Freiheitsgeschichte transformieren: Entsprechend einer felix culpa können die ehemaligen Gegner Jesu für die von ihnen betriebene Kreuzigung des Gottessohnes nicht nur die Verantwortung, sondern auch jene heilvolle Bedeutung übernehmen, die der Gekreuzigte für sie vorbereitet hat:58

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„Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes 53,5)59
47
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Jesu in liebender Selbsthingabe „vollbrachter“ (Joh 19,30) Kreuzestod bewirkt also nicht schon aus sich heraus Erlösung. Wohl aber stellt er das Mittel bereit, um ein frei vollzogenes Nein gegen Gott aufzusprengen.60 Dieses Mittel kann die Sünder erst erreichen durch eine eigene Offenbarung, die den Tätern den wahren Sinn der von ihnen betriebenen Kreuzigung des Gottessohnes erschließt. Solche die Wahrheit aufdeckende Offenbarung61 ist über Jesu Transformation des ihm auferlegten Kreuzes hinaus ein weiterer von Gott zu leistender Schritt, damit Erlösung möglich wird. Er wurde grundgelegt durch Jesu Auferweckung, die wesentlich einen göttlichen Richterspruch zugunsten des Verstoßenen mit Friedenszusage zu den Menschen besagt; und er wird konkret durch das Wirken des Heiligen Geistes, der die Menschen in die volle Wahrheit führt (Joh 16,13), das im Herzen Verborgene aufdeckt (vgl. 1 Kor 14,25), alle hohen Gedankengebäude niederreißt, die sich gegen die Erkenntnis Gottes auftürmen (2 Kor 10,4f62) und dies vermittels geisterfüllter Menschen wirkt63.

48
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Die Bedeutung dieses zweiten Schrittes einer vertieften, aufdeckenden Selbstoffenbarung Gottes zeigt sich in extremer Form an der Damaskusvision von Paulus:

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„Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte: Saul, Saul, warum verfolgst du mich? Er antwortete: Wer bist du, Herr? Dieser sagte: Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ (Apg 9,4-5)
50
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Erst die Aufdeckung der verborgenen Wahrheit seiner Verfolgungstaten eröffnet für Paulus die Möglichkeit, des Erlösungsgeschehens am Kreuz teilhaftig zu werden, – und zwar in einer Intensität, die er in seiner späteren Kreuzessoteriologie vielfach bezeugt hat. Auch die Verbindung von Kreuzeshingabe und späterer geistgewirkter Aufdeckung des Sinnes dieses Geschehens bewirkt allerdings nicht automatisch Erlösung, sondern eröffnet den Menschen über ihre Kreuzesschuld hinaus die Möglichkeit zu einem neuen Kairos, den sie annehmen, aber auch ablehnen können.64

51
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Aber droht damit nicht auch die Erlösung durch das Kreuz – verbunden mit seiner geistgewirkten Sinneröffnung – an einem schlichten Nein des Menschen zu scheitern? Das wäre der Fall, wenn das Kreuz nichts weiter wäre als ein begrenztes geschichtliches Ereignis, das als solches überdies nur für eine höchst beschränkte Zahl von unmittelbar Beteiligten heilsrelevant wäre. Das Kreuz ist aber mehr als das, es ist das universale concretum von Gottes erlösender Selbsterschließung: Es ist eine konkrete geschichtliche Ereignisfolge, an der sich offenbart, wie weit Gott als sich selbst riskierender Hirte fähig und bereit ist, selbst den verlorensten – sich im Zuge ihrer unternommenen Rettung immer tiefer in ihre Verlorenheit verheddernden – Schafen nachzugehen. Gottes erlösendes Handeln erschöpft sich somit nicht im geschichtlichen concretum des Kreuzes, das so verstanden in seiner Heilsbedeutung erst auf die heilsbedürftigen Situationen aller Menschen nachträglich appliziert werden müsste. Vielmehr kommt in der für die damalige Zeit furchtbarsten Todesform des Kreuzes ein die gesamte Geschichte aller Menschen begleitendes universales Handeln Gottes zur Darstellung, dem wir aufgrund dieser extremen Vergegenwärtigung zutrauen können, dass sie jedes Nein des Menschen – so zerstörerisch es sich in Gottes-, Mitmensch-, Welt- und Selbstbeziehung auch auswirkt – nochmals durch eine vertiefte, sich (und seine Schöpfung!) noch mehr riskierende Selbstoffenbarung aufzubrechen in der Lage ist, – selbst dann, wenn man berücksichtigt, dass solche vertiefte Selbstoffenbarung ein nochmals verschärftes Nein ermöglicht. Diese realsymbolische Dimension des Kreuzes soll im Folgenden noch verdeutlicht werden.

52
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Der vorige Abschnitt zeigte im Blick auf die biblische Christologie die Mehrdimensionalität des durch Christus gewirkten Erlösungswerks auf. Dabei erwies sich jeder der – nach Schwager – fünf Akte65 des Heilsdramas als soteriologisch unverzichtbar: Gottesreichbotschaft, Gerichtsworte, Kreuz, Auferstehung und Geistsendung. Durch Identifikation und Transformation hat Jesus die Freiheitsgeschichte von verstockten Sündern derart modifiziert, dass sich für sie durch eine spätere Aufdeckung der Wahrheit des Geschehens die Möglichkeit zur erlösenden Übernahme jener Bedeutung des Kreuzesereignisses eröffnete, die Jesus ihm gegeben hatte: liebende Selbsthingabe an den göttlichen Vater. Diesen Sinn von Erlösung haben wir bis jetzt nur in Bezug auf Zeitgenossen Jesu erschlossen, die schuldhaft seine Tötung betrieben.

53
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Wie aber bezieht sich dieses im Kreuz kulminierende Erlösungsereignis auf Menschen an anderen Orten und Zeiten, fern vom historischen Konflikt mit Jesus? Eine Antwort wird vorbereitet durch biblische Aussagen, wonach sich Jesus mit den Opfern der Geschichte identifizierte,66 – so wie es in der Weltgerichtsrede (Mt 25) deutlich wird und sich z.B. in der Damaskusvision von Paulus konkretisierte: „Warum verfolgst du mich?“ Vermittels dieser Identifikation läuft jede Missachtung der Liebe gegen einen Menschen auf ein implizites Einstimmen in Jesu Kreuzigung hinaus.67 Diese staurologische Dimension von faktisch jeder Sünde, die somit alle Menschen als Schuldige betrifft, nimmt alle Menschen in den Kreis jener Kreuziger hinein, denen Jesus durch die Transformation seines Kreuzesgeschicks einen Weg der Vergebung – durch Reinterpretation ihrer Kreuzesschuld im Sinne der von Jesus gewirkten liebenden Transformation – eröffnet hat. „Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen“ (Röm 11,32).

54
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Damit Sünde erlösend auf eine neue Möglichkeit, zu Gott Ja zu sagen, hin aufgebrochen werden kann, muss ihre kreuzigende Tiefendimension dem Sünder erst aufgedeckt werden. Solche Offenbarung68 ist in verschiedensten Ereignissen69 ansatzweise innergeschichtlich möglich. Was an solcher innerweltlicher Aufdeckung fehlt oder in der Weise von verfehlten Kairoi verpasst wurde, verbleibt als Gegenstand des eschatologischen Gerichts, dessen – nur in Grenzüberlegungen uns zugängliche – Bedeutung sich am ehesten als eine Begegnung mit dem sich mit allen Opfern identifizierenden Christus vorstellen lässt.70

55
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In einer derart universalisierten Perspektive wird das Kreuz zum Real-Symbol von Gottes grenzenlosem Einsatz, mit dem er sich durch eine immer noch tiefere und immer noch riskantere Weise für die Sünder angreifbar – im doppelten Wortsinn von „erreichbar“ und „attackierbar“ macht, um ihnen auf diese Weise einen Weg der Erlösung zu eröffnen. Das Kreuz ist Symbol für einen grenzenlosen Liebes-Einsatz Gottes, der in unzähligen Schuld- und Leiderfahrungen von Menschen real wird.71 Und weil diese Leiderfahrungen durch Jesu Identifikation mit allen Opfern der Geschichte im Kreuz gebündelt werden, ist das Kreuz Real-Symbol für diesen erlösenden Einsatz Gottes.

56
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„Wozu ist Jesus gestorben?“ – Haben wir auf diese Frage eine Antwort gefunden, die zugleich bibelgemäß, vernünftig und eingängig ist?

57
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Die Bibel enthält keine ausgearbeitete Soteriologie, sondern viele soteriologische Aussagen und Bilder, die sich allerdings in verschiedene Motivgruppen bündeln lassen. Hans Urs von Balthasar hat – mit guter theologischer Resonanz – fünf solche Motivgruppen beschrieben:72 1. Hingabe, 2. Platztausch, 3. Befreiung, 4. Einführung in das trinitarische Leben und 5. Gottes Liebe.

58
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ad 5: Es entspricht einem weitgehenden Konsens heutiger Soteriologie und ist auch für die hier skizzierte Erklärung wesentlich, dass Gottes bedingungslose Liebe die Grundlage aller Erlösung ist. Der himmlische Vater liebt den Sünder nicht weniger, sodass er erst durch ein Opfer umgestimmt werden müsste. Das Problem, das mit dem biblischen Stichwort „Zorn Gottes“ angezeigt wird, besteht vielmehr darin, dass dem Sünder Gottes Liebesinitiative wie ein verzehrendes Feuer erscheinen muss (vgl. Hebr 12,2973), sodass er auf dessen Heilshandeln beinahe zwangsläufig mit einem verschärften Nein reagiert, – einem Nein, das trotz dieser Beinah-Zwangsläufigkeit eine Tat der Freiheit sein kann,74 und als solche trotz seiner fatalen Auswirkungen von Gott respektiert werden muss.

59
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ad 4: Auch das vierte biblische Motiv einer Einführung in das trinitarische Leben ist für den vorgestellten Antwortversuch zentral: Erlösung geschieht wesentlich durch eine vertiefte Selbsterschließung Gottes, wobei die entscheidende Frage war, wie diese göttliche Selbsterschließung den sich hermetisch von Gott abschließenden Sünder noch erreichen kann. Das wurde möglich, indem der göttliche Vater seinen Sohn sandte und sich so – qua Inkarnation – „angreifbar“ machte. Die heilvolle Bedeutung, die der Sohn durch seine liebende Selbsthingabe dem kreuzigenden Tun – also der Verstoßung Gottes als dem ultimativen Vollzug der Sünde – verlieh, konnte die Sünder erst erreichen durch ein Wirken des Heiligen Geistes, der die Menschen in die ganze Wahrheit führt (Joh 16,13). Erlösung ist so wesentlich ein Wirken des trinitarischen Gottes, der durch seine trinitarische Selbsterschließung die von ihm entfremdeten Menschen in ein Leben mit ihm als dem trinitarischen Gott einführt.

60
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ad 3 (Befreiung): Die Aufsprengung dieses Gefängnisses der Sünde wurde durch das Kreuz vorbereitet, indem Christus sich in die tödliche Sphäre der Sünde hineinziehen ließ („Identifikation mit dem Sünder“) und dem sündigen Geschehen durch seine Hingabe an den himmlischen Vater eine andere Bedeutung verlieh („Transformation des Kreuzes“). Die damit vorbereitete Befreiung von der Macht der Sünde und des Todes erfolgt aber nicht „mechanisch“ an der sündig fixierten Freiheit vorbei, sondern als „Befreiung zur Freiheit“ (vgl. Gal 5,1) vermittels einer Offenbarung der Wahrheit des sündigen Tuns – einer Wahrheit, zu der sowohl das Faktum einer Verschleierung der Schuld als auch deren durch Jesus vollzogene Transformation gehört. Diese Wahrheitsoffenbarung wird im Gefolge der Auferstehung vollzogen durch den Heiligen Geist, der in die volle Wahrheit Christi einführt (vgl. Joh 16,13f).

61
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ad 2 (Platztausch): „Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden“ (2 Kor 5,21). – Dieser biblische Gedanke des Platztausches ist auch im vorgestellten Antwortversuch leitend. Jesus hat sich in die tödliche Welt der Sünde hineinziehen lassen und damit den in der Sünde gefangenen Menschen einen neuen Zugang zu Gott eröffnet. Entgegen einer Verkürzung schon bei Anselm selbst und in breiten Strömen seiner Rezeption ist dieser „wunderbare Tausch“ aber nicht einfach ein Platzwechsel,75 im Sinne einer mechanischen Stellvertretung, welcher der Unvertretbarkeit freier Verantwortung widersprechen und auf eine nicht nachvollziehbare, von Gott willkürlich aufgestellte und ihn wegen der Blutforderung kompromittierende Stellvertretungsregel hinauslaufen würde. „Einer ist für alle gestorben, also sind alle gestorben“ (2 Kor 5,14), und nicht: „... deshalb brauchen wir nicht mehr zu sterben“. Es handelt sich bei diesem commercium also nicht um einen Platztausch ohne Begegnung, sondern – bildhaft – darum, dass Jesus in die Verlorenheit des Sünders hinabgestiegen ist, um mit ihm aufzuerstehen in das Leben der Gottesgegenwart.76

62
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ad 1 (Dahingabe): Damit Erlösung den in seiner Sünde gefangenen Sünder erreichen kann, ist ein komplexer Prozess von Hingabe notwendig, der alle Akteur-Zuordnungen des biblischen „paradidonai“ durchläuft. Mit Schwager ist konsequent davon auszugehen, dass das unmittelbare Handlungssubjekt der kreuzigenden Dahingabe des Gottessohnes nicht der Vater, sondern die Sünder sind.77 Dieser Gewaltakt der Preisgabe wird von Jesus in der Weise einer liebenden Selbsthingabe an den Vater aktiv zu einer neuen Bedeutung transformiert. Dass Jesus sein Todesschicksal als einen Akt der Selbsthingabe an den göttlichen Vater vollziehen konnte, setzt voraus, dass er in einen Willen seines Vaters einstimmt, der dieses Geschehen bejaht und in diesem Sinne den Sohn dahingibt. Dieser Wille des Vaters – und damit ineins des Sohnes – bezieht sich aber nicht auf dessen gewaltsamem Tod, sondern auf die Erlösung der Menschen, – eine Erlösung, die er auch um den Preis des gewaltsamen Todes seines menschgewordenen Sohnes bereit war zu verwirklichen.

63
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Eine logische Schlüssigkeit (Konsistenz) der Antwort wurde in der argumentativen Durchführung zu erreichen versucht.78 Darüber hinaus ist zu prüfen, wieweit diese Antwort kohärent zu zentralen theologischen und anthropologischen Überzeugungen ist. Eine solche Prüfung hat sich zumindest zu beziehen auf: 1. Das Gewicht von menschlicher Freiheit und Sünde; 2. Gottes Güte und Gerechtigkeit, sowie die eingangs genannten Desiderate einer heutigen Soteriologie, von denen hier nur auf zwei Punkte eingegangen werden soll: 3. Erlösung nicht nur als Schuldüberwindung, sondern auch als Vollendung; 4. Erlösung nicht nur durch das Kreuz, sondern durch die Gesamtheit von Jesu Wirken.79 Überdies wäre eine – ebenso bibelgemäße, vernünftig nachvollziehbare und popularisierbare – Klärung von zentralen soteriologischen Begriffen wie Opfer, Sühne und Stellvertretung zu leisten, was aber den hier verfügbaren Rahmen sprengen würde.80

64
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ad 1: Die Wahrnehmung des Gewichts der Freiheit als einer zumindest tendenziellen Selbstbestimmung des Menschen vor Gott auf Endgültigkeit hin81 war für den ganzen Ansatz leitend. Von daher wurde Sünde von ihrer Vollform der Todsünde als gottfeindlicher Inanspruchnahme dieser Freiheit auf Endgültigkeit her verstanden und ein Begriff von Erlösung angesichts der Aporie entwickelt, dass solche Sünde – als Freiheit zur Unfreiheit – weder vom Sünder noch von Gott (der sich auf die Respektierung dieser Freiheit festgelegt hat) aufgebrochen werden kann.

65
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ad 2: Die Annahme eines barmherzigen, liebenden Gottes, der den Sünder nicht weniger liebt als den Gerechten, war für den vorgelegten Antwortversuch bestimmend. Gottes Gerechtigkeit zeigte sich zunächst daran, dass Gott mit seinem Erlösungswerk den Bedingungen menschlicher Freiheit gerecht wurde. Das beinhaltet, dass die Schuld der sündigen Täter – auch gegenüber ihren Opfern – in Gottes Erlösungshandeln nicht einfach übergangen, sondern einer Aufarbeitung in einem unter Umständen äußerst schmerzhaften Prozess der Liebesreue82 zugeführt wird.

66
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ad 3: Dass Erlösung nicht nur die Wiederherstellung des Sünders, sondern auch die Vollendung von auf Gott hin bereits offenen Menschen besagt, wurde im 3. Kapitel berücksichtigt.

67
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ad 4: Dass Erlösung nicht nur durch das Kreuz, sondern durch das gesamte Christusereignis erfolgt, wurde im 4. Kapitel entfaltet. Da Erlösung wesentlich durch eine vertiefte Selbstoffenbarung (gegenüber dem Sünder, aber auch gegenüber dem für Gott offenen Menschen) erfolgt, ergibt sich eine Erlösungsgeschichte, die nicht isoliert auf Jesus Christus bezogen ist, sondern bereits mit dem Alten Testament beginnt.

68
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Unser Antwortversuch erfolgte über mehrere Schritte mit zum Teil komplexen Überlegungen. Ist er damit nicht von vornherein für das Kriterium „Einfachheit – Eingängigkeit – Popularisierbarkeit“ disqualifiziert? Dagegen lässt sich einwenden, dass auch Anselms Cur Deus Homo hochkomplex ist.83 Dennoch ließen sich seine entscheidenden Grundgedanken auf einfache Begriffe bringen und in eingängige Vorstellungsmuster bündeln.

69
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Wozu also ist Jesus gestorben? Die vorgelegte Erklärung läuft auf eine einfache und eingängige Vorstellungsfolge hinaus, die folgendermaßen bildhaft-narrativ entwickelt werden kann:

70
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Jesus hat das Gefängnis unserer sündigen Isolation (in Entfremdung von Gott, von Mitmenschen, gegenüber unserer Welt und von uns selber) aufgebrochen, – ein Gefängnis, in das wir uns durch die Macht der Sünde eingeschlossen haben, ohne uns selbst daraus befreien zu können. Wir müssen uns dieses Gefängnis als ein inneres Gefängnis vorstellen, das unser Erkennen und Wollen in Beschlag nimmt, und zwar derart, dass wir jede Liebesinitiative, die von Gott her kommt, in verzerrter Weise als Bedrohung wahrnehmen und deshalb instinktiv bekämpfen. Das Nein aber, das wir derart Gott und seinen Mittlern (zuerst seinen Propheten, dann dem Sohn Gottes, und letztlich allen Menschen, insofern Jesus sich mit ihnen identifiziert hat) aggressiv entgegenschleudern, kann von Gott nicht einfach missachtet werden, wenn er unsere kranke Freiheit heilen und nicht brechen will. Was kann Gott also noch machen? Er kann seinen Sohn zu uns senden, der die denkbar stärkste und vollkommenste Vergegenwärtigung seiner Liebe zu uns ist. Der kranken, gefangenen Freiheit der Menschen muss diese reinste Begegnung mit Gott wie die allergrößte Bedrohung erscheinen, sodass die Sünder den Gottessohn einmütig ans Kreuz schlagen, – zwar verantwortlich, aber manipuliert durch die gefangensetzende Macht der Sünde. Damit scheint Gottes Erlösungsmacht endgültig besiegt und erschöpft zu sein. Die Macht der Sünde hat den Erlöser verschlungen. Dadurch ist nun aber Folgendes passiert: Durch einen freien Willensentscheid der Sünder ist der Erlöser in das Gefängnis ihrer Sünde hineingekommen (er wurde Teil ihrer Geschichte); und es besteht nun die Möglichkeit, dass er dieses Gefängnis von innen her aufsprengt.84 Das kann aber nicht gegen den Willen der gefangenen Menschen geschehen. Deren Wille und Einsicht, die ja auch gebunden sind, werden befreit durch eine offenbarende Tat Gottes, im Heiligen Geist, der den Sündern bewusst macht, was sie da verschlungen haben. Der verschlungene Gottessohn steht nun nicht mehr unter dem Anschein, unter dem er verschlungen wurde – nämlich, bloß ein todeswürdiger Gotteslästerer zu sein –, sondern zeigt sein wahres Wesen: unschuldig statt schuldig, lebendig statt tot (als Auferstandener), und als einer, der nicht einen Fluchtod, sondern den denkbar reinsten Liebestod gestorben ist, in einer Versöhnung vorwegnehmenden Bereitschaft zu vergeben. Den sündigen Menschen offenbart sich nun eine völlig neue Geschichte: Von der Macht der Sünde getäuscht, hatten sie den Gottessohn für einen einfachen Sünder gehalten und ihn vermeintlich gemäß Gottes Gesetz getötet. Nun stehen sie nicht nur als Schuldige da, sondern stoßen zugleich auf die vergebungsbereite Liebe des Gottessohnes, mit der er diesen Tod gestorben ist. Der liebende Gott erschließt sich ihnen so auf eine ganz neue Weise: Durch den Kreuzestod seines Sohnes konnte er die Menschen in ihrem Gefängnis erreichen. Dadurch gewinnen sie die Möglichkeit, neu zu ihm Ja zu sagen und so die Tore des Gefängnisses – die Ketten des Todes – aufzusprengen.

71
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Diese Geschichte erinnert an eine derbe Veranschaulichung von Erlösung aus dem 4. Jahrhundert: Wie ein Wurm (vgl. Ps 22,7) an der Angel hat Jesus sich vom Teufel verschlingen lassen, um diesen so an die Angel zu bekommen und auszuschalten.85 Diese Vorstellung gehört zum in der alten Kirche verbreiteten Christus-Victor-Motiv eines Siegs über den Teufel durch dessen Täuschung. Solche Vorstellungen wurden später als unangemessen verworfen, weil sie dem Teufel einen Rechtsanspruch einräumten und Gott ein zweifelhaftes Täuschungshandeln unterstellten. Unsere Veranschaulichung ist motivisch ähnlich, setzt aber weder einen Kampf mit einem personal verstandenen Teufel voraus noch eine von Gott initiierte Täuschung. Vielmehr werden die Menschen als verstrickt in einer sündigen Dynamik vorgestellt, die ihnen Gott als Feind erscheinen lässt und sie deshalb antreibt, den Sohn Gottes zu töten. Weiters hat unsere Geschichte den Vorzug, dass sie keine Automatik der Erlösung beschreibt. Die Menschen müssen das angebotene Geschenk erst annehmen, um „die Bombe platzen zu lassen“ und in den Genuss ihrer Befreiung zu kommen.

72
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Mindestens so wichtig wie eine eingängige Erzählung von Erlösung ist die Möglichkeit, ausgehend von dieser Geschichte aufzuzeigen, wie Erlösung erfahrbar und erlebbar wird. Dazu kann mit einer Konkretisierung der gefangensetzenden Mächte des Todes eingesetzt werden. Anschaulich und mit großem Realitätsbezug lässt sich zeigen, wie die Menschen infolge einer Entfremdung von Gott in Dynamiken der Angst und Begierde verfallen, – zwei Grundhaltungen, die sie gegenüber Gott, den Mitmenschen, der Welt und sich selber in immer tiefere Entfremdung führen, sodass andere (Gott und Mitmenschen) primär als Bedrohung erfahren werden.86 Es kann weiters gezeigt werden, wie Menschen sich geradezu instinktiv durch Täuschung und Aggression (bis hin zu Lüge und Mord) Schalen und Masken aufbauen, hinter denen sie sich sicher fühlen: mit Besitz, Ansehen, Macht. Und von daher wird verständlich, dass für einen derart – ängstlich und begierig – Maskierten jede Erfahrung echter Liebe bedrohlich sein muss, weil sie demaskierend wirkt: Der Geliebte wird ja nicht um seiner Maske willen sondern um seiner selbst willen angenommen. Dadurch entlarvt Liebe die Maskierungen des entfremdeten Menschen nicht nur als überflüssig, sondern als trügerisch und hinderlich.

73
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Wie kommt Gott in dieses Gefängnis hinein? Was es bedeutet, dass der vertriebene Gottessohn zugleich der Verschlungene ist und als Verschlungener nicht tot sondern lebendig und mit einer ungeheuren Sprengkraft für das Gefängnis der Sünde ist, das wurde im Hauptteil schon genügend entfaltet: Der Getötete, aber in vergebungsbereiter Liebe Gestorbene wird zum Teil der Geschichte des sündigen Täters. Und sobald diesem das offenbar wird, kann und muss er aufgrund dieser unberücksichtigten Fakten seine Entscheidungsgeschichte nochmals revidieren, – mit der Möglichkeit einer Revision durch Übernahme der von Jesus vorbereiteten Bedeutung: seiner Selbsthingabe bis in den Tod.

74
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Wie wird diese Erfahrung von Erlösung konkret, das heißt, wie ist der Zusammenhang von objektiver und subjektiver Erlösung zu denken? Diese Frage zu beantworten heißt erklären, was es bedeutet, dass Menschen die liebende Todeshingabe Jesu für sich übernehmen. Bereits Paulus hat die entscheidende Spur dafür gelegt: Wenn wir mit Christus gestorben sind, dann werden wir auch mit ihm leben. Mit Christus sterben heißt, ihm alles übergeben, so wie er in seinem Liebestod alles dem Vater übergeben hat.87 Es geht um eine Lebensübergabe – d.h. eine Übergabe von allem: was man hat an Gutem und Schlechtem, an äußeren Besitztümern und an inneren Fähigkeiten, was man erhofft und was man befürchtet – mit derselben Restlosigkeit, wie sie der physische Tod erzwingt, nur eben freiwillig. Lassen wir die Frage, wieweit wir dazu fähig sind, einmal dahingestellt. Es geht auch nicht um eine überzogene moralische Forderung, sondern um den Aufweis eines Sachzusammenhangs. Und dieser ist folgender: Wenn einem Menschen eine solche Lebenshingabe restlos gelingt – nicht um alles zu verlieren, sondern um das Jeweilige für jeden Augenblick immer neu sich dankbar als Gottes Geschenk zuschicken zu lassen –, dann wird die Macht von Angst und Begierde gebrochen. Erlösung als Aufsprengung der Mächte des Todes wird also in dem Maße konkret erfahrbar, als Menschen eine solche radikale Lebensübergabe verwirklichen.

75
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Aber wie realistisch ist eine solche Forderung? Jedenfalls so sehr, dass sie für jeden Christen am bestimmenden Anfang seines Christseins steht, – im Sakrament der Taufe. Diese ist nämlich nach Paulus Taufe auf den Tod Christi, – ein Mitsterben mit ihm, um seiner Auferstehung, seines Lebens teilhaftig zu werden. Taufe ist das Sakrament der Befreiung von den Fesseln der Erbsünde und von daher Sakrament der Erlösung. Dieser meist nur mühsam nachvollziehbare Anspruch wird unmittelbar plausibel, wenn die radikale Lebensübergabe als adäquate Einholung der Taufe begriffen wird. Solange dies nicht geschehen ist, – und das wird mehr oder weniger für jeden von uns zutreffen – bleibt Erlösung erfahrungsmäßig uneingelöst, aber doch immer wieder als Verheißung zeichenhaft erfahrbar. Das entspricht der Eigenart von Erlösung, die nach christlichem Verständnis in Zeichen gegenwärtig und in ihrer Erfüllung noch ausständig ist.

76
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Wozu ist Jesus gestorben? Gibt es auch eine einfache, kurze Antwort? Greifen wir dazu die anfangs gestellten Frage auf: Was kann man einem Kind sagen, das auf ein Kruzifix zeigt und fragt, warum dieser blutende Mann dort hängt? Nicht nur intuitiv, sondern mit der Möglichkeit einer tragfähigen Begründung lässt sich antworten: Das ist Jesus, der Sohn Gottes. Er hat das Schlimmste, das wir uns vorstellen können, in großer Liebe ertragen. Und weil er das getan hat, gibt es nichts mehr auf der Welt, vor dem wir uns wirklich fürchten müssen.

77
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Diese Antwort ist weder neu noch originell. Fast unterschiedslos reiht sie sich ein in den Strom christlicher Tradition. Nicht anders darf es sein! Es muss aber möglich sein, eine solche Antwort auf weiteres Nachfragen hin tiefer zu erklären, auf den Spuren biblischer Soteriologie, ohne logische Sprünge und ohne dass Gottes Güte und des Menschen Freiheit und Verantwortung verunklärt werden. Das wurde in diesem Aufsatz versucht.

78
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Die Verweise auf Publikationen von Willibald Sandler wurden der allgemeinen Publikationsliste am Ende des Buches angepasst.

79
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Amor, Christoph (2009): „Um unseres Heiles willen ...“ Eine Hinführung zum Heilsverständnis bei Thomas von Aquin (ITS 81). Innsbruck

80
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Anselm von Canterbury (1956): Warum Gott Mensch geworden, Darmstadt.

81
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Balthasar, Hans Urs von (1980): Theodramatik. Band III: Die Handlung. Einsiedeln.

82
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Greshake, Gisbert (1983): Erlösung und Freiheit. Eine Neuinterpretation der Erlösungslehre Anselms von Canterbury. In: ders., Gottes Heil - Glück des Menschen. Freiburg i.Br.-Basel-Wien 80-104.

83
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Harnack, Adolf von (1932): Lehrbuch der Dogmengeschichte III, Tübingen.

84
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Ignatius von Loyola (1983): Geistliche Übungen. (übertragen und erklärt von Adolf Haas). Freiburg i. Br. 6. Aufl.

85
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Internationale Theologische Kommission (Hg.) (1997), Gott der Erlöser. Einsiedeln.

86
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Kasper, Walter (1974): Jesus der Christus, Mainz.

87
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Kessler, Hans (1970): Die theologische Bedeutung des Todes Jesu. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung. Düsseldorf

88
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Pröpper, Thomas (1988): Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie. 2. wesentlich erweiterte Auflage.

89
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Rahner, Karl (1958): Zur Theologie des Todes (QD 2). Freiburg i.Br.-Basel-Wien.

90
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Rahner, Karl (1965): Theologie der Freiheit. In: Ders., Schriften zur Theologie, Bd. VI. Einsiedeln-Zürich-Köln 1965, 215-237.

91
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Rahner, Karl (1976): Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums. Freiburg i.Br.-Basel-Wien.

92
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Rahner, Karl (1983): Das christliche Verständnis der Erlösung. In: Schriften zur Theologie, Bd. XV. Wissenschaft und christlicher Glaube. Einsiedeln-Zürich-Köln 1983, 236-250.

93
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Ratzinger, Joseph (1968): Einführung in das Christentum. München.

94
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Seckler, Max (2000): Art. Theosoterik - Autosoterik, in: LTHK3 IX, 1482f.

95
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Seckler, Max (1982): Theosoterik und Autosoterik. In: ThQ 162, 289-298.

96
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Schlier, Heinrich (1977): Der Römerbrief (HThK VI).

97
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Schnackenburg, Rudolf (1960): Art. Kairos – I. In der Schrift. In: LThK, 2. Aufl., V, 1242f.

98
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Schwager, Raymund (1978): Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften. 1. Auflage: München 1978; zitiert nach 3. Auflage: Thaur 1994.

99
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Schwager, Raymund (1986): Der wunderbare Tausch. Zur Geschichte und Deutung der Erlösungslehre. München.

100
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Schwager, Raymund (1990): Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre (IThS 29). Innsbruck, Wien.

101
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Werbick, Jürgen (1985): Schulderfahrung und Bußsakrament. Mainz.

102
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103
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1 Daran ändert auch das Faktum nicht viel, dass die Theologie zwischen der eigentlichen Soteriologie Anselms und ihren Vulgarisierungen unterscheidet, wobei sie ersterer vor allem in einer Interpretation auf den Ordo der Freiheit hin eine bleibende Aktualität zu attestieren vermag. Vgl. Balthasar (1980); Greshake (1983).

104
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2 Nach Hans Urs von Balthasar kann „der Gott gegenüber schuldige Mensch [nicht] bloß passiv, eingeschläfert auf dem Operationstisch liegen, während das Krebsgeschwür der Schuld aus ihm herausgeschnitten wird“ (Balthasar [1980] 396).

105
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3 Vgl. die zustimmende Verwendung des Wortes Selbsterlösung durch Karl Rahner (Rahner [1983]), sowie den von Max Seckler geprägten Begriff einer Autosoterik (vgl. Seckler [2000]).

106
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4 Vgl. Pröpper (1986) 96f.

107
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5 Die Erlösung durch Jesus Christus ist überdies in einem die gesamte Heilsgeschichteumfassenden Kontext zu sehen, der das Alte Testament (als „Vorlauf“ auf das Erlösungswirken Jesu Christi) ebenso umfasst wie die vom Heiligen Geist initiierte „Aneignung“ dieses in Christus kulminierenden Erlösungsgeschehens im Verlauf der gesamten Menschheitsgeschichte. Zur soteriologischen Bedeutung des Heiligen Geistes siehe unten, Kapitel 4.4.

108
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6 Diese Antwort führt eine lange soteriologische Linie – von Augustinus über Abaelard und Bonaventura über den liberalen Protestantismus des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart – fort, wonach Erlösung durch Demonstration von Gottes Liebe erfolgt, die den Sünder zur liebenden Antwort bewegt.

109
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7 Vgl. z.B. Pröpper (1988) 98.

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8 Dass auch derartige Liebesbeweise Tradition haben, wie etwa beim sprichwörtlichen Älpler, der sein Leben für seine Angebetete riskiert, um ihr aus der Felswand Edelweiß zu pflücken, zeigt nur noch deutlicher, welch verquere Vorstellungen von Liebesbeweisen hier zugrunde liegen.

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9 In diesem Sinne Pröpper (1988) 97: „Seine [Jesu] Bereitschaft, es [das Kreuz] auf sich zu nehmen, ist nichts anderes als die Entschlossenheit, seine Botschaft der Liebe und also auch den Weg der Liebe nicht zu verraten“. Zur Rede von einer kritischen Solidarität zwischen den Straßengräben einer Sendungsverfehlung durch Aggression und durch Resignation vgl. Sandler (2010d).

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10 In diesem Sinn bezeichnete Walter Kasper Jesu Tod als „Verwirklichungsgestalt der Gottesherrschaft unter den Bedingungen dieses Äons", Kasper (1974) 257), zustimmend zitiert von Pröpper (1988) 58f.

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11 Diese Verwirrung geht dann meist in die Richtung, dass eine Gesetzmäßigkeit von notwendiger Stellvertretung („einer muss den Fluchtod sterben, wenn nicht der Mensch, so dafür Jesus“) ohne nähere Erklärung unterstellt wird, – ein Gesetz, das mangels vernünftiger Erklärungen auf eine Willkürverfügung Gottes zurückgeführt zu werden droht.

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12 Gotthard Fuchs hat diesen kirchlichen Verständnisnotstand in Bezug auf die Heilsbedeutung des Kreuzes scharf herausgestellt: „Das Straßburger Urteil auf europäischer Rechtsebene ist in der Tat ein alarmierendes Symptom, zuerst und vor allem für die Sprachnot der Glaubenden. ‚O Lamm Gottes, unschuldig, am Stamm des Kreuzes geschlachtet, allzeit erfunden geduldig, wie wohl du warest verachtet ...‘ Wer soll solch ein um 1522 gedichtetes und über Jahrhunderte hin zweifellos hilfreiches Lied heute noch richtig verstehen? Was geschieht in den Köpfen und Herzen derer, die solche Lieder singen? Wie wirkt das auf andere? Der eigentliche Skandal ist die mangelnde Gewissenserforschung und die fehlende Übersetzungskraft trotz zahlreicher Bemühungen in Theologie und Seelsorge. Nur davon zu reden, dass das Kreuz Christi uns Christen wahrhaft ein Segen ist, wie bei jedem Kreuzzeichen betend praktiziert, genügt nicht. Es muss inhaltlich und argumentativ von allen Menschen guten Willens mitvollziehbar sein, warum es den Christen ein so zentrales Symbol ist. Wo aber ist der Hirtenbrief zur Sache, wo ein Text der vielen bischöflichen Kommissionen und Laiengremien, wo eine Stellungnahme der theologischen Fakultäten? Und zwar Texte, die allgemein vermittelbar und lebensweltlich relevant sind.“ (G. Fuchs, Das Kreuz und die Kirchen, in: Christ in der Gegenwart Nr. 47 (2009) 529f., hier: 529, im Internet: http://www.christ-in-der-gegenwart.de/aktuell/artikel_angebote_detail?k_beitrag=2180816).

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13 Dabei geht es nicht nur darum, angebliche theologische Antworten kindgemäß „herunterzubrechen“, sondern zunächst darum, solche Antworten als auch für Erwachsene nachvollziehbar erst zu finden. Sie müssen überdies so „griffig“ sein, dass sie die christliche Lebenspraxis zu tragen vermögen – wenn auch in einer „zweiten Naivität“ –, und deshalb auch so vereinfacht und verdichtet werden können, dass sie für ein Kind eingängig sind. Eine einfache Antwort auf diese „kinderschwere Frage“ wird am Ende dieses Aufsatzes versucht.

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14 Gisbert Greshakes Feststellung aus dem Jahr 1973, dass „zur Zeit eine ausgesprochene Verlegenheit in der Theologie darüber herrscht, wie die Botschaft von der Erlösung durch Jesus Christus unter den gegenwärtigen Bedingungen glaubhaft und verständlich auszulegen ist“ (Greshake [1983] 81), gilt zumindest für die Verkündigung und das durchschnittliche Glaubensbewusstsein wohl heute noch, und zwar vor allem im Hinblick auf die Heilsbedeutung des Kreuzes.

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15 Raymund Schwager hat nachdrücklich auf die „grundsätzliche Problematik der Selbstzerstörung innerhalb der christlichen Spiritualität“ im Zusammenhang mit unzulänglichen soteriologischen Erklärungen hingewiesen. Vgl. Schwager (1990) 221.

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16 Andererseits wurden genau diese Vorzüge der Anselmschen Satisfaktionslehre auch vehement abgesprochen. Nach Adolf von Harnack liegen die Mängel dieser Theorie „so an der Oberfläche und beleidigen in gleicher Weise die Vernunft und die Moral (von dem Attentat an dem Evangelium zu schweigen) so sehr, daß, wenn die heutige Theologie unter normalen Bedingungen stände, kein Wort über sie zu verlieren wäre“ Harnack (1932) 403f, zitiert nach Greshake (1983) 80. – Dass Anselms Satisfaktionslehre sich trotz ihrer Missverständlichkeiten und trotz schon früh bestehender alternativer Ansätze (nämlich seit Abaelards Deutung des Kreuzes als beispielgebendes Zeichen von Gottes Liebe) so umfassend durchsetzte, dürfte daran liegen, dass die von liberalen Theologen favorisierten alternativen Ansätze die Frage nach der Heilsbedeutung des Kreuzes nicht hinlänglich zu beantworten vermochten. So hat Thomas von Aquin trotz Kenntnis und teilweiser Rezeption von Abaelards Soteriologie doch an Anselms Satisfaktionslehre festgehalten. Vgl. Kessler (1970) 170-188 und Amor (2009) 328-349.

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17 Vor allem die biblischen Motive Opfer, Sühne, Loskauf und Platztausch lassen sich von der Satisfaktionslehre her reinterpretieren. Dabei drohen allerdings auch gefährliche Verzerrungen gegenüber dem ursprünglichen biblischen Verständnis,– wenn zum Beispiel das biblische Platztauschmotiv durch einen Verlust des Moments einer Einigung zwischen Gott und Mensch zum Platzwechsel ohne jede Begegnung degradiert wird (vgl. Balthasar [1980] 246). Die Frage nach der Gesetzmäßigkeit, welche diesem Platztausch zugrunde liegt, kann dann nur noch in der Weise eines „soteriologischen Extrinsezismus“ durch Zusammenhänge beantwortet werden, die den direkt am Kreuzesgeschehen Involvierten – Jesus Christus und seinen Gegnern – äußerlich bleiben. Damit lässt sich Anselms Satisfaktionslehre – und zwar in ihrer theologisch anspruchsvollen Form und nicht nur in ihren Vulgarisierungen – zwar als bibelnahe (trotz der programmatischen heilsgeschichtlichen Abstraktion eines „remoto Christo“), aber nicht als bibelgemäß bezeichnen.

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18 Vgl. die Vorstellung vom in seiner Ehre beleidigten König im Kontext des germanischen Ehrverständnisses: Unmittelbar einsichtig war die Vorstellung, dass, wenn ein Untertan den König öffentlich beleidigte, der damit verursachte Schaden für den Ordo der Gesellschaft weder durch entschuldigende Bemühungen des Übeltäters noch durch eine grundlose Vergebung durch den König behoben werden konnte. Dazu: Greshake (1983) 87-92.

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19 Und zwar wieder vor allem aufgrund des Kriteriums der Eingängigkeit.

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20 – Als Sachgrund für das von Anselm betonte „Gewicht der Sünde“, dessen Satisfaktionslehre von Greshake überzeugend als eine Theologie der Freiheit reinterpretiert und verteidigt wurde. Thomas Pröpper hat sein soteriologisches Hauptwerk „Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte“ konsequent ausgehend von der neuzeitlichen Freiheitsfrage entworfen. Bemerkenswert ist, dass sich die Soteriologien von Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar bei allen Differenzen und Gegensätzen in der Betonung des Gewichts der menschlichen Freiheit treffen.

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21 Vgl. Anselm von Canterbury (1956) 74f.

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22 – Wie es am schärfsten Miggelbrink an Pröppers Soteriologie kritisiert hat. Vgl. Miggelbrink (1989) 400-405.

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23 Dies ist das wesentliche Spezifikum der dramatischen Theologien des 20. Jahrhunderts, begonnen bei ihren Vorformen bei Karl Barth und Gustav Aulén über Balthasars Theodramatik bis zur dramatischen Theologie bei und im Gefolge von Raymund Schwager. Vgl. dazu Sandler (1998a).

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24 Die Einschränkung „nicht definitiv abgelehnte Aspekte Gottes“ ist hier wichtig, weil es eine Totalzurückweisung Gottes – wie auch menschlicher Personen – gibt, die zwar immer auf begrenzten diese Person betreffenden Erfahrungen aufruht, aber dennoch auf die Gesamtheit der Person zielt, mit einer vorgreifenden Ablehnung auch gegenüber möglicherweise sich später offenbarenden, diese Person betreffenden relevanten Fakten. Der Ausruf „Ich will das gar nicht wissen!“ illustriert die Grundhaltung einer solchen vorgreifend totalisierenden Ablehnung.

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25 Dieser hier verfolgte Ansatz wirft allerdings eschatologische (und freiheitstheologische) Probleme auf: Kann es dann überhaupt eine endgültige Entscheidung gegen Gott – und damit so etwas wie Hölle – geben, oder ist Hölle nur noch denkbar als die „Remis-Stellung“ eines – angesichts von Gottes immer neu vertiefter Selbsterschließung – in Ewigkeit perpetuierten Nein? Und gravierender noch: Ist denn damit so etwas denkbar wie ein endgültiges Ja, da doch die traditionell angenommene „Befestigung der Freiheit“ in einem Ja zu Gott durch eine stets noch tiefer mögliche Selbstoffenbarung Gottes doch auch wieder relativiert werden könnte? Ein Ausweg aus dieser Aporie ergibt sich durch die Annahme, dass die Möglichkeiten einer freien Entscheidung gegenüber Gott durch die Begrenztheit des geschichtlich-irdischen „Materials“, an dem sich Freiheit vollzieht, eine natürliche Grenze findet. Das heißt, ein Mensch gelangt dann zur definitiven Endgültigkeit seiner Freiheitswahl – eines Himmel bedeutenden Ja oder eines Hölle bedeutenden Nein zu Gott –, wenn seine gesamte Freiheitsgeschichte mit allen Menschen und Dingen, die darin involviert sind, in diese Entscheidung integriert ist, – und zwar auch dann, wenn immer noch unendliche Potenziale zu einer vertieften Selbsterschließung Gottes vorhanden sind, welche den Himmel zum beseligenden Abenteuer einer ewigen Begegnung mit dem unerschöpflichen Geheimnis Gottes machen.

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26 Zwar wird Gott an den Mörder – nicht zuletzt durch das ihm erwiesene Vertrauen – appellieren, ‚das Messer wegzulegen‘; aber ihn gegen seinen Willen zu entwaffnen, würde bedeuten, dass Gott ihn der Würde der Freiheit, mit den er ihn qua Geschöpf eingesetzt hat, beraubte. Überdies ist gegenüber diesem Vergleich zu betonen, dass Gott dem Sünder nicht als Gott – in seiner Liebesmacht und Gutheit – offenbar ist, sondern (infolge der sündigen Perversion seiner Gottes- und Gewissenserkenntnis) allenfalls als unzumutbarer ihn drangsalierender Anspruch.

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27 Vgl. dazu Balthasars Überlegungen zur Vorsichtslosigkeit bzw. Unvorsichtigkeit der göttlichen Liebe, „die in der Hingabe keine Schranken und Rücksichten auf sich selbst kannte“ (Balthasar [1980] 305f, vgl. ebd. 214).

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28 So wie im Gleichnis von den bösen Winzern der Weinbergbesitzer nicht einfach nur selber zu den Pächtern geht, sondern andere Menschen schickt, zuletzt seinen Sohn, so riskiert Gott nicht nur sich selbst, sondern auch seine geliebten Kinder. Dem Einwand, Gott würde andere vorschicken, anstelle sich selber zu riskieren, entkommt man dabei durch Ausfaltung der trinitarischen Einsicht, dass Gott in seinem Sohn (und in den zu Opfern gemachten Menschen, mit denen sich der Sohn identifiziert) notwendig auch sich selber riskiert.

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29 Vgl. Sandler (2010b), besonders das 4. Kapitel. Betroffen wären jedenfalls jene Anteile von Leid, welche der Schuld von Menschen zuzurechnen sind.

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30 Dass Gott durch vertiefte Selbstoffenbarung (in Jesus Christus) auch das Schicksal der Opfer der Geschichte auffangen kann, wird in diesem Argumentationsgang, der sich auf die Erlösungsmöglichkeit eines verstockten Sünders konzentriert, nur behauptet, aber nicht begründet. Vgl. aber unten, Anm. 66.

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31 Balthasar (1980) 314f.

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32 Zum Konzept einer Fundamentaloption vgl. Rahner (1965) 234.

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33 Zum Folgenden vgl. Rahner (1976) 97-104.

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34 Vgl. dazu Rahner (1976) 99. Eine subtile Sicht von Tätern als Opfer entwickelt Schwager (1990) 218, 237.

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35 Vgl. dazu die Problematik einer Sünde gegen den Heiligen Geist, und dazu unten, Fußnote 46.

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36 „Kein Zweifel: Jesu Ankunft hat das schlummernde Nein der Welt aufgeschreckt“ (Balthasar [1980] 319) – „Das vollkommene Ja Christi zu Gott und zur Welt treibt erst das vollkommene Nein, das dämonische, antichristliche, aus seiner Latenz hervor“ (ebd. 399). – Wenn zum Beispiel ein Pharisäer zum größten Teil von einer echten Sehnsucht nach dem anbrechenden Gottesreich getrieben war und seine Leidenschaft für Gott nur zu einem kleineren Teil aus einem Ressentiment z.B. gegen die Zöllner bezog, dann musste Jesu bedingungslose Zusage von Gottes vergebender Liebe für ihn doch dort zur schlimmen Provokation werden, wo Jesus unterschiedslos auch Zöllner einbezog. — Mit einem bildhaften Vergleich lässt sich sagen: Gerade dass sich Gottes Gnadenstrom über die weiten Ebenen einer offenen Bereitschaft von Menschen ergießt und mühelos die kleinen Täler und Hügel (vgl. Lk 3,5) einer eigentlich ungewollten Schuldverstrickung einnimmt, lässt diese Flut umso schärfer gegen jene Barrieren anbranden, die einer echten Verweigerung gegen Gott entspringen.

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37 Bei Jesu Predigt in Nazaret, wie sie als Summarium von Lukas in Lk 4,16-30 beschrieben ist, schlug eine anfänglich allgemeine Zustimmung zu Jesus (Lk 4,22a) nach wenigen Worten Jesu um in eine kollektive Wut, welche die zuvor eher passive Synagogengemeinschaft in einen zum Lynchmord bereiten Mob verwandelte. Vgl. dazu: Sandler (2007j), Kapitel 2.2.

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38 Vgl. dazu meine Ausführungen zum „Community-Test“ in Sandler (2007j).

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39 Hier spielt das soteriologische Motiv eines Siegs Jesu über Teufel und Dämonen eine zentrale Rolle. Vgl. dazu: W. Sandler (2009c).

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40 Unter einem dramatischen Prozess kann hier in erster Näherung ein Prozess verstanden werden, der wesentlich durch ein konfliktives Wechselspiel von Freiheiten – zwischen Gott und Mensch und zwischen Menschen untereinander – konstituiert wird. Vgl. Sandler (1998).

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41 Dem entspricht Raymund Schwagers heilsdramatisches Schema von fünf Akten in Jesu Wirken: 1. Gottesreichbotschaft, 2. Gerichtsansage, 3. Kreuz, 4. Auferstehung, 5. Geistsendung. Vgl. Schwager (1990) 41-202.

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42 Vgl. Mk 1,15: „Kairos engiken ...“. Wie weit sich dieser Kairos erstreckt, kann nicht eindeutig festgelegt werden; hier ist wohl auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig anzusetzen: Zunächst ist es sicher die Zeit des Auftretens und Wirkens Jesu, im Vorlauf auf Jesu Stunde seines Kreuzestodes, die wohl als Zielpunkt des Kairos von Jesu öffentlichem Wirken auch als Kairos bezeichnet werden kann. Ohne diese weite Dimension zu vernachlässigen, lässt sich sagen: Der Kairos von Jesu wirksamer Gegenwart verdichtet sich für die jeweils ihm Begegnenden im Augenblick dieser Begegnung (vgl. Lk 4,21). Zum neutestamentlichen Begriff des Kairos vgl. Schnackenburg (1960); Sandler (2010b) Kapitel 2.1 und 2.2.

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43 Das ist die freiheitsgeschichtliche Ausfaltung von dem, was wir vorher bildhaft ausgedrückt haben: Dass das verborgene Nein und seine (satanische) Macht an die Oberfläche getrieben wird.

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44 Es ist ein hermeneutisches Prinzip von dramatischer Theologie (bei Balthasar durch das geschichtstheologische Grundgesetz einer dramatischen Eskalation [vgl. oben, Haupttext zu Anm. 31], sowie bei Schwager durch seine Unterscheidung von erstem und zweitem Akt; vgl. Schwager [1986]), dass dort, wo Jesus Menschen konfrontiert, ein vorausgehend erfahrener und abgelehnter Kairos anzunehmen ist. Mit einem solchen Ansatz kann der Unterschied begründet werden zwischen Situationen, in denen Jesus Sündern bedingungslos vergibt, und Situationen, in denen Jesus Menschen ihre Sünde schärfstens vorwirft (vgl. Joh 9,41; 15,24). Vgl. dazu Schwagers Auseinandersetzung mit Peter Fiedler, ebd. 72, 130f u.ö.

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45 Auch Jesu aufdeckende Worte sind als ein Sprachhandeln zu begreifen, in dem das Aufgedeckte nicht nur benannt, sondern durch Jesu Worte auch an seinen Gegnern offenbar wird. Vgl. in diesem Sinn Lk 4,23-30.

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46 So hat Jesus ausgegrenzte und abgewertete Menschen in die Mitte gestellt und damit bei den Menschen, die aus diesen Grenzziehungen ihr Selbstverständnis bezogen, eine regelrechte Identitätskrise (individuell und kollektiv) hervorgerufen. In diesem Sinn lässt sich hier von einem „Community-Test“ Jesu sprechen; vgl. dazu Sandler (2007j) Kapitel 3.7.

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47 Lästerung gegen den Heiligen Geist ist eine wissende und gewollte Zurückweisung des sich selbst offenbarenden Gottes. Sie bedeutet eine Selbstauslieferung an eine Dynamik des Bösen, welche sowohl die Erkenntnis als auch das Wollen des Sünders in Bann schlägt, – sodass aus einem wissenden Nein in einer scheinbar nicht so gravierenden Angelegenheit (etwa die Unterstellung an den unbequemen Jesus, dass er mit dem Teufel den Beelzebul austreibe; vgl. Mk 3,22par) eine Dynamik von Hass und Verblendung resultieren kann, mit der höchst gravierenden Konsequenz, dass Menschen den Gottessohn ans Kreuz schlagen, ohne aber zu „wissen, was sie tun“. Wer also den Heiligen Geist lästert, sperrt sich in ein Gefängnis von Angst und Begierde, Verblendung und Hass, aus dem er weder sich selbst befreien kann, noch von Gott, der das freie Nein respektieren muss, einfach durch Vergebung befreit werden kann. Er liefert sich somit einer gottlosen Situation aus, aus der er „in Ewigkeit keine Vergebung findet“, sodass seine Sünde „ewig an ihm haften“ würde, – wenn Gott nicht durch Jesu Kreuzestod eine vertiefte Selbstoffenbarung in diese ausweglose Situation bewirkte. Wie, ist im Folgenden noch aufzuweisen.

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48 Vgl. Balthasar (1980) 247-262, der unter dem soteriologischen Leitbegriff Solidarität neben Hans Küng und Hans Kessler vor allem Karl Rahner behandelt. Balthasar benennt für die neuere Soteriologie die beiden Hauptmotive Solidarität und Substitution und neigt dazu, sie gegeneinander auszuspielen. Dennoch kann er sich einer positiven Wertung des Begriffs Solidarität nicht ganz entziehen (vgl. z.B. ebd. 324.) und tendiert zu einer Spannungseinheit zwischen beiden Begriffen bzw. Konzepten (vgl. das zustimmende Zitat von J. Galot, ebd. 276; weiters ebd. 380). Zur soteriologischen Bedeutung eines Konzepts von liebender Solidarität (unter weitgehender Vermeidung des Wortes in diesem Zusammenhang) bei Pröpper vgl. oben, Anm. 9.

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49 Vgl. Schwager (1990) 216-220; Balthasar (1980) 311f, 325; Ratzinger (1968) 242.

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50 Vgl. v.a. Schwager (1990) 232-242; Werbick (1985) 118. Innerhalb der dreifachen Autorschaft in Bezug auf den soteriologischen Schlüsselbegriff „paradidonai“ – der Vater, der Sohn und die Sünder als jene, die Jesus „dahingaben“ – entspricht die skizzierte Option einer Vorrangigkeit des Sohnes als des eigentlichen Handlungsträgers, ohne damit die Verantwortlichkeit der Sünder als den direkten Akteuren der Tötung Jesu auf Jesus selber (oder den Vater) zurückfallen zu lassen. Ein solcher Vorrang wurde von Balthasar gegen Schwager betont, wobei er übersah, dass Schwager dieses Balthasarsche Anliegen mit dem Begriff der Transformation auch wahrgenommen hatte, – und zwar nicht erst in „Jesus im Heilsdrama“, das erst nach Balthasars diesbezüglichen Publikationen entstanden war, sondern schon in Schwager (1979) 217.

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51 Vgl. Schwager [1990] 218, 220.

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52 Es muss also gezeigt werden, wie Jesus durch das Kreuz die Menschen gerade auch dort erreicht, wo sie entschiedene Täter sind. Dies geschieht im folgend skizzierten Ansatz (unten, Kapitel 4.4), weil auch das letztverantwortlich sündige Tun der Menschen als solches zur Kenntnis genommen und transformiert wird. Dazu ist aber ein eigener Vollzug der Umkehr nötig, der erst später durch das aufdeckend-offenbarende Wirken des Heiligen Geistes initiiert wird. Das erfordert die dramatisch-theologische Annahme einer unterschiedenen soteriologischen Wirkdimension des Heiligen Geistes. Raymund Schwager hat dem durch die Annahme eines auf Wirken des Heiligen Geistes fokussierten fünften Aktes entsprochen (im Unterschied noch zu [1986] 305-309, wo Schwager noch von vier Akten sprach"). Die soteriologische Wirkdimension dieses fünften Aktes müsste aber entsprechend der folgend skizzierten Weise weiter entfaltet werden.

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53 Wollte man es anders sehen, dann wäre ja der Akt der Kreuzigung für die Täter zu einem frommen Akt der Gotteshingabe geworden, – ein perverser Gedanke, dem sich aber manche Kreuzestheologie und Messopferspiritualität gefährlich annähert.

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54 Wenn ich nun doch auf das Konzept einer Identifizierung (als weitestgehende Form einer proexistenten Solidarität) zurückgreife, trotz meiner obigen Kritik an Schwagers Ausarbeitung dieses Konzepts, was verstehe ich dann selber darunter? – Im Sinne Hans Urs von Balthasars würde ich davon ausgehen, dass im Kreuzesgeschehen die Sendung Jesu – in ihren beiden Aspekten von Gottbezug (Sendung vom Vater her) und mitmenschlichem Bezug (Sendung zu den Menschen hin) – zum Ziel kommt. Von daher erweisen sich die beiden Ansätze von Solidarität–Identifizierung (als Ausfaltung des mitmenschlichen Aspekts) und Transformation–Stellvertretung (als Ausfaltung des von Jesus – an Stelle seiner gottlos agierenden Gegner – vollzogenen gottbezogenen Aspekts) als durch den Begriff der Sendung ursprünglich miteinander verbunden. Von diesem Zusammenhang her lässt sich ein soteriologisches Verständnis von Jesu Identifikation mit seinen Gegnern folgendermaßen entfalten: In Treue zu seiner Sendung vom Vater her und zu den Menschen hin ist Jesus so weit zu gehen bereit, dass er die Erfahrung seiner Vaterbeziehung ausschließlich von ihnen her bezieht. Das heißt, in dem Maße, als sich diese für Gott öffnen, öffnet sich für ihn die beglückende und belebende Vaterbeziehung, und in dem Maße, als sie sich in eine Dynamik der Gottferne verlieren, wird auch für Jesus die Erfahrung der Gottesnähe verdunkelt, – bis zum Ausruf: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ (Mk 15,34). Wenn Jesus in einer solchen Situation der Gottferne „mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte“ (Hebr 5,7), dann galt dieses Flehen demnach nicht nur seiner eigenen Todesangst, sondern seinen Gegnern in einer Situation, wo er an ihnen eine glückende Gottesbeziehung in keiner Weise mehr wahrnehmen konnte. In diese Situation hinein vollzog Jesus die Transformation des gottfeindlichen Geschehens zu einem Akt der liebenden Hingabe an Gott.

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55 In diese Richtung geht eine – allerdings nicht weiter ausgeführte – Aussage in einer Studie der Internationalen Theologischen Kommission zur Soteriologie: „Indem Jesus auf den Haß mit Liebe antwortet und einverstanden ist, so zu leiden, als wäre er schuldig, vergegenwärtigt er Gottes erbarmende Liebe in der Geschichte und öffnet einen Weg, auf dem die erlösende Gnade in die Welt überfließen kann.“ (Internationale Theologische Kommission [1997]) 69; Nr. 39. Pröpper spricht (mit Kasper und Werbick) davon, dass Gottes Liebe in der menschlichen Situation wirklich werden muss (vgl. v.a. Pröpper [1988] 57), und auch Rahner betont eine realsymbolische Ursächlichkeit von Inkarnation und Kreuz (vgl. Rahner [1976] 278). Was solches Konkretwerden (als Ankommenkönnen) von Gottes Offenbarung und Heilswillen aber unter den Bedingungen der „konkreten Freiheit“ eines programmatischen Gottausschlusses (was Sünde ja wesentlich ist) bedeutet, müsste im Sinne des Ansatzes erst noch weiter entfaltet werden. Das fällt vor allem in Rahners Soteriologie weitgehend aus. Verfolgt man von Rahner ausgehend diese Spur, dann braucht man nicht mehr die staurozentrische „späte Soteriologie“ des Neuen Testaments als „sekundäre, abgeleitete Aussage der Heilsbedeutung des Todes Jesu“ abwerten (ebd.), sondern kann sie gerade von Rahners Ansatz her als unverzichtbar einholen.

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56 Wobei offenbleibt, wo diese Zurückweisung erfolgt ist, – das muss nicht notwendig in der Beteiligung an Jesu Tötung geschehen sein (vgl. in diesem Sinn Jesu Kreuzeswort: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ Lk 23,34). Sie kann auch in einer weiter zurückliegenden sündigen Unterdrückung einer echten Gotteseinsicht gründen, z.B. in der mutwilligen Abweisung von Jesu Wirken mit dem Argument, er würde den Teufel mittels Beelzebul austreiben, – entsprechend Jesu nachfolgender Warnung vor der Sünde gegen den Heiligen Geist.

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57 Vgl. dazu oben, 2. Kapitel.

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58 Das Messopfer kann von hier aus als symbolisch-sakramentaler Vollzug dieser erlösenden Übernahme von Jesu Transformation des Kreuzesereignisses begriffen werden.

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59 Man beachte hier die zweifache Wende: 1. Annahme von Gottes (den Gottesknecht rechtfertigendem) Urteil. — 2. Eingeständnis der eigenen Schuld — 3. Erkenntnis der Heilsbedeutung dieses Ereignisses für die Schuldigen.

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60 Hier ist eine Differenzierung angebracht: Nicht jede (durch vertiefte Selbstoffenbarung gewirkte) Aufsprengung eines jeden Nein zu Gott setzt direkt den Kreuzestod voraus! Sondern Gottes fortgesetztes Engagement gegenüber der sich gerade an diesem Engagement verhärtenden sündigen Freiheit läuft auf das Kreuz hinaus. So ist das Kreuz der projektiv benennbare und realsymbolisch zur Darstellung gekommene Fluchtpunkt von Gottes Entschiedenheit, jedes Nein durch ein vertieft selbstoffenbarendes Ja zu unterwandern; – mit einem treffenden Bild Balthasars: das Kreuz, das am Ende der Hölle errichtet ist. Vgl. oben, das Zitat zu Anm. 31.

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61 Es stellt sich hier die Frage, wie diese aufdeckende Offenbarung mit der oben genannten vertieften Selbstoffenbarung Gottes zusammenhängen soll. Dazu: Aufdeckung von verdrängter Wahrheit ist ein Aspekt einer vertieften Selbsterschließung Gottes, der mit dieser mit gegeben sein und durch den diese konkret werden kann. Vgl. in diesem Sinn die Reaktion von Petrus auf den wunderbaren Fischfang, an dem ihm Gottes Gegenwart vertieft aufging: „Herr, geh weg von mir; ich bin ein Sünder“ (Lk 5,8).

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62 Vgl. dazu Balthasar (1980) 152f: „Das Böse hat einen Sog zum Je-Böseren in sich; die Rechthaberei des Sünders gegenüber der absoluten Wahrheit, die er in der Lüge leugnet, hat den innern Zug zu einem absoluten Rechtbehalten, so daß er auch alle verfügbaren Mittel zu diesem Ziel in Dienst nimmt. Solche Mittel, die Lüge zu sichern, sind vor allem sophistisch verkürzte und verdrehte Aspekte der Wahrheit, woraus der Sünder sich eine Art «Festung» gegen die wirkliche Wahrheit aufbaut, in deren Scheinwahrheit er sich verschanzt ...".

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63 Vgl. die Pfingstpredigt des Petrus, v.a. Apg 2,23: „ihn, der nach Gottes beschlossenem Willen und Vorauswissen hingegeben wurde, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und umgebracht.“

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64 Selbst die zutiefst erschütternde Damaskusvision – die Ignatius von Loyola als Paradigma für eine geradezu zwingende Gottesoffenbarung versteht (vgl. Ignatius (1983) 63, Nr. 175, zur ersten Wahlzeit) – , zerstört nicht die Möglichkeit des Paulus zu einer freien Stellungnahme, sondern eröffnet sie. In dem Sinn heißt es in der Darstellung des visionären Gottesworts an ihn nach Apg 26,14: „Saul, Saul, warum verfolgst du mich? Es wird dir schwerfallen, gegen den Stachel auszuschlagen.“ – Die Möglichkeit einer Verweigerung ist hier ausdrücklich angesprochen.

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65 Die hier durchgeführte Argumentation baut nicht auf einer schematischen Übernahme von Schwagers fünfaktiger Evangelien-Hermeneutik auf, sondern ist auch unabhängig davon nachvollziehbar. Wenn man aber nach dem Zusammenhang der aus Jesu Wirken erhobenen soteriologisch relevanten Aspekte fragt, kommt man aufgrund starker Sachgründe an Schwagers dramatischem Ansatz kaum vorbei. So stehen die soteriologisch relevanten Aspekte des Christusereignisses in einer gewissen zeitlichen Abfolge, was die Rede von Phasen nahelegt. Allerdings handelt man sich damit das Problem ein, dass zum Beispiel Gottesreichverkündigung und Gerichtsworte nicht als abgeschlossene zeitliche Phasen (im Sinne eines „galiläischen Frühlings“ und einer „galiläischen Krise“ [Mußner]; vgl. dazu Schwager [1990] 77-83) unterschieden werden können. Will man die Unterscheidung von Gottesreichbotschaft und Gerichtsbotschaft nicht übergehen und fragt man, wie Jesus ohne sich zu widersprechen beides vertreten konnte, so kommt man auf ein zeitliches Abfolgeverhältnis, das nicht einfach chronologisch, sondern – wie oben unter dem Leitbegriff „verfehlter Kairos" skizziert – „dramatisch“ zu verfassen ist. Aufgrund von sich zuspitzenden Konfliktdynamiken kann für bestimmte Menschen bereits die Gerichtsbotschaft „dran“ sein (so für Nazaret nach Lk 4,30), während gleichzeitig für andere das Heilsangebot des ersten Aktes noch offen bleibt (so für Kafarnaum in Lk 4,31-37), trotz späterer Gerichtsworte auch an diese Stadt (Mt 11,23). Auch wer Schwagers Fünf-Akte-Modell also nicht einfach voraussetzen will, wird zur Klärung verschiedener soteriologisch relevanter Aspekte im Wirken Jesu in die Richtung von „dramatischen“ Zuordnungskategorien geführt, die bisher am gründlichsten von Raymund Schwager in seiner Theologie von fünf heilsdramatischen Akten ausgearbeitet wurden.

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66 Hier wird der Begriff „Identifikation“ in einem anderen Zusammenhang verwendet wie oben. Ging es oben um eine Selbstidentifikation Jesu mit seinen Gegnern, so hier um dessen Selbstidentifikation mit den Opfern der Geschichte. Insofern jeder Mensch in Bezug auf die verschiedensten Schuldsituationen der Geschichte zum Teil Täter und zum Teil Opfer ist, ergänzen sich beide Verwendungen des Begriffs „Identifikation“ zu einer umfassenden Selbstidentifikation Jesu mit allen Menschen. Dafür ist aber zu zeigen, wie die beiden Begriffsverwendungen von „Identifikation“ in ihrem Sinn und in ihrer Bedeutung konvergieren. Schwager hat das durch den Aufweis versucht, dass in beiden Fällen sich Jesus als Opfer mit Opfern identifiziert, und zwar im ersten Fall mit den Tätern, insofern sie auch Opfer sind (vgl. dazu oben, den Exkurs im Haupttext zu Anm. 51). Mein Vorschlag (s. Anm. 54) zielt darauf, Jesu Identifikation als sendungsgemäße radikale (eucharistische) Selbstauslieferung an die Menschen derart zu verstehen, dass er sich in Verfolgung seiner Sendung entschließt, die Erfahrung seines Gottesverhältnisses ganz über die Menschen zu beziehen, sodass deren drohender Heilsverlust, der ihnen in ihrer Verblendung überhaupt nicht schmerzlich vorkommt, für Jesus das Äußerste der Qualen einer erlebten Gottferne bedeutet. Jesus trägt damit eine Gottferne der Menschen, die sich in deren Rollen von Opfern und Tätern – die meist in (unterschiedlichen) Kombinationen eingenommen werden – höchst unterschiedlich darstellen kann.

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67 Diese Aussage bedarf zumindest zweier Erklärungen. Erstens ist klarzustellen, dass durch eine solche Letztbezogenheit der Lieblosigkeit gegen andere Menschen auf das Kreuz die Schuld gegen diese Nächsten auf keine Weise relativiert, sondern radikalisiert wird (dies gegen Nietzsches Soteriologiekritik; vgl. dazu Pröpper [1988] 20f). In diesem Sinne muss Jesu Identifikation mit den Opfern der Geschichte begriffen werden. — Zweitens ist zu klären, wie die hier – und in der Bibel – behauptete universale Fokussierung aller Sünde auf das Kreuz begründet werden soll. Der Anspruch eines Menschen, dass alle Schuld der Welt zugleich ihn trifft, kann dafür wohl nicht ausreichend sein. Letztlich ist dieser von Jesus erhobene Anspruch nur dadurch begründbar, dass er Sohn Gottes und Schöpfungsmittler ist. Weil und insofern alles Geschaffene in ihm geschaffen ist (vgl. Kol 1,15-20), trifft jedes Leid, das Geschaffenem zugefügt wurde, auch ihn selber. Diese schöpfungstheologische Fundierung der Soteriologie ist christologisch weiterzuführen: „Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt“ (Gaudium et Spes 22). Versöhnung von Menschen untereinander läuft damit auf eine Versöhnung in Christus hinaus, die durch ihn ermöglicht wird (vgl. Kol 1,19f). Folglich muss jeder Versuch zu zeigen, wie Jesus identifizierend in das Innere des Sünders „hineinkommt", scheitern, wenn nicht schon vorausgesetzt wird, dass jeder Mensch qua Geschöpf ftlineimmer schon „in Christus" ist, wie v.a. Hans Urs von Balthasar in seiner Theodramatik immer wieder betont hat (z.B. Balthasar [1980] 380.

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68 Dass Offenbarung hier als Aufdeckung aufscheint, bedeutet keinen Rückfall in ein instruktionstheoretisches Offenbarungsverständnis. Zentraler Inhalt dieser Offenbarung ist und bleibt der Selbsterweis des Gottessohnes durch den Heiligen Geist gemäß der durch die Auferstehung vollzogenen richtenden Zusage des göttlichen Vaters: „Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe“ (Mt 3,17 par; 17,5 par), „der dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten“ (Röm 1,4), – und nicht ein nach Gottes Willen dem Fluchtod überlieferter Gotteslästerer. Dieser vertiefte trinitarische Selbsterweis Gottes (also Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes) ist als solches zugleich Aufdeckung der Wahrheit im Auslieferungsgeschehen des Kreuzes, und zwar einer Wahrheit, die für die Täter zugleich richtend und – im Falle ihres kooperativen Sicheinlassens – befreiend ist (vgl. die doppelte Transformation in Jes 53,5; dazu oben, Anm. 59.

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69 Nicht nur explizite Christuserfahrungen kommen als solche die Wahrheit der Sünde aufdeckende Ereignisse in Frage; vielmehr jedes Ereignis, in dem die Abgründigkeit eines Nein zur Liebe erahnbar wird, – zum Beispiel im Sinne von Emmanuel Levinas, nach dem jedes Urteilen über einen anderen Menschen dessen „Tötung“ betreibt..

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70 Die Vorstellung eines eschatologischen Gerichts ist unverzichtbar, um die Kluft zwischen dem innerweltlich meist unvollkommenen Ja zu Gott und der Erfordernis eines vollkommenen Ja für den Eintritt in die himmlische Gottesherrlichkeit zu überbrücken. Deshalb muss es nach dem Tod ein „Ausreifen“ der irdischen Freiheitsgeschichte auf ein reines Ja zu Gott geben, – wie sich die traditionelle Fegfeuerlehre reinterpretieren lässt (vgl. Rahner [1958] 24; Rahner [1976] 424). Und dieses Ausreifen setzt eine Konfrontation mit der Wahrheit der eigenen Geschichte voraus, die eben bibelgemäß als jüngstes Gericht vorgestellt werden kann. Die Schwierigkeit eines solchen Konzepts besteht darin, dass wir – biblisch und dogmatisch – eine Fortsetzung der Freiheitsgeschichte über den Tod hinaus nicht annehmen dürfen (auch wenn dieser Punkt in einigen jüngeren theologischen Publikationen – selbst von Rahner – relativiert wurde). Die einzig zulässige Möglichkeit für eine nachtodliche Reinigung („Fegfeuer“) besteht darin, dass die irdischen Taten und Entscheidungen (das „Material der Freiheitsgeschichte“) auf ein eindeutiges Ja zu Gott hin neu geordnet werden. Aber wie soll das angesichts der Pluralität und Disparatheit der Entscheidungen während eines menschlichen Lebens möglich sein? Hier gibt die durch Jesu Kreuzestransformation eröffnete Reinterpretationsmöglichkeit von (qua universaler Identifikation Jesu) jeder Sünde eine Spur für eine denkerische Annäherung.

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71 Hier wird das berechtigte Anliegen des oben (im 1. Kapitel, zu Anm. 8) kritisierten Verständnisses des Kreuzes als Beweis von Gottes Liebe eingeholt, allerdings wie gefordert eingebunden in ein Konzept, das beantwortet, wozu der Weg des Kreuzes gut ist.

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72 Vgl. Balthasar (1980) 222-228.

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73 Vgl. Sandler (2002b).

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74 Das ist so, weil es einerseits zum göttlichen – kairologischen – Heilshandelns dazugehört, Freiheit für Menschen freizuspielen, und weil anderseits auch in weitgehend „automatisch“ ablaufenden Entscheidungen die Anteile früherer Freiheitsentscheidungen gebündelt sein können.

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75 Vgl. oben, Anm. 66.

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76 Vgl. Röm 6,3-8; Gal 2,19f; Kol 3,3f; 2 Tim 2,11.

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77 Vgl. Schwager (1990) v.a. 213-215.

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78 Logische Schwächen neuerer soteriologischer Antworten liegen m.E. hauptsächlich darin, dass nicht genügend klar wird, wie die behauptete Wirkung des Kreuzes – z.B. Identifizierung (Schwager), Versöhnung (Rahner), Darstellung von Gottes Liebe (Pröpper), Unterwanderung der Sünde (Balthasar) – den in seiner Freiheit gegen Gott festgelegten Sünder auch wirklich zu erreichen vermag. Traditionell war dieses Problem durch die traktatentheologische Trennung von objektiver Erlösung (Soteriologie) und subjektiver Erlösung (Gnade) verdeckt.

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79 – Sowie darüber hinaus zumindest vorbereitet durch die alttestamentliche Bundesgeschichte. Vgl. Anm. .

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80 Allerdings dürfte die Richtung, in der eine solche Reinterpretation auf der Linie der hier skizzierten Antworten erfolgen könnte, bereits ersichtlich sein. Das Kreuzesopfer erweist sich als Transformation eines gewaltsamen Opferungsvollzugs in den Akt einer freiwilligen Hingabe, welcher von den Menschen – einstimmend in ihre eigene Kreuzesschuld und in Jesu Vollzug ihrer Transformation – übernommen und als solches sakramental – als Messopfer – vollzogen werden kann (vgl. oben, Anm. 58). Sühne wird interpretierbar als Jesu Bereitschaft, den „Preis der Erlösung“ (s.o. 2. Kapitel) zu zahlen, um – qua Identifikation – eine heilswirkende Verbindung zu den sich verhärtenden Sündern wiederherzustellen, indem er ihre Schuldgeschichte durch seine Transformation des ihm zugefügten Schicksals derart modifiziert, dass ihnen durch das aufdeckende Wirken des Heiligen Geistes ein neuer Kairos eröffnet werden kann. Stellvertretung würde mit Jesu exklusiver Transformation des ihm auferlegten Kreuzesschicksals einsetzen, mit der Zielsetzung, dass die Sünder ihre Schuldgeschichte durch Übernahme dieser Transformation – im Sinn einer inklusiven Stellvertretung – selber transformieren können.

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81 Vgl. Rahner (1976) 107, 312.

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82 Vgl. dazu Sandler (2010b) 4. Kapitel.

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83 Das wird belegt durch die Intensität und Kontroversialität der theologischen Rezeption dieses Werks bis in die Gegenwart.

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84 Diese Vorstellung wird von Hans Urs von Balthasar mit dem Bild des Unterwanderns angesprochen (vgl. Balthasar [1980] 309, 461 u.ö. Dieses Konzept wird in der heutigen Soteriologie vielfach zustimmend aufgegriffen. Zumindest in der Rezeption – vielleicht auch bei Balthasar selber – ist nachzufragen, wieweit hier nicht ein eingängiges Bild an die Stelle von Argumentation tritt.

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85 Zu diesem Bild von Cyrill von Jerusalem vgl. Schwager (1986) 34-36.

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86 Zu diesen und den folgenden Überlegungen vgl. Sandler (2009).

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87 Vgl. Röm 6,1-12.

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