Presseinformation der Universität InnsbruckLogo Universität Innsbruck

Medieninformation

Tagung: Gewalt an Kindern

Ende dieser Woche findet in Innsbruck erstmals für Österreich eine Tagung zur Fürsorge- und Heimerziehung nach 1945 statt. Ein Ziel ist, Forscherinnen und Forscher des gesamten deutschsprachigen Raums zu vernetzen.


„Bis in die jüngste Vergangenheit war der Öffentlichkeit kaum bekannt, dass in den ersten Jahrzehnten nach 1945 Tausende Kinder in Österreich in öffentlichen und privaten Erziehungsheimen lebten. Noch weniger bekannt war, dass sie diesen Anstalten auf eine Weise ausgeliefert waren, die heute kaum noch vorstellbar ist“, sagt Prof. Michaela Ralser. Die Erziehungswissenschaftlerin hat mit ihrem Team (Anneliese Bechter & Flavia Guerrini) im Auftrag der Länder eine Vorstudie für Tirol und Vorarlberg erarbeitet. Darin werden Vorschläge für eine möglichst umfassende Aufarbeitung des gesamten Fürsorgeerziehungssystems vorgelegt. Derzeit wird von den Ländern die Beauftragung mit weiteren Forschungsprojekten erwogen. An diese Arbeit knüpft nun eine von Ralser organisierte, hochkarätig besetzte Tagung in Innsbruck an: Expertinnen und Experten aus Österreich, Deutschland und der Schweiz diskutieren den Stand der Aufarbeitung dieser Geschichte in ihren Regionen. Für Österreich ist diese Veranstaltung die erste Gelegenheit, Forscherinnen und Forscher aus allen Bundesländern in Kontakt zu bringen – präsentiert werden unter anderem die neuesten sozialhistorischen Forschungsergebnisse und Forschungsprojekte aus Wien, Salzburg und Oberösterreich. Auch mehrere Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler der Universität Innsbruck werden referieren.

 

Heimgeschichte als Erziehungsgeschichte

Die Gewalt und die Misshandlungen, denen Heimkinder in der Nachkriegszeit ausgesetzt waren, entspricht dabei in langen Phasen der Erziehungsgeschichte durchaus dem historisch-pädagogischen, insbesondere heil- und sonderpädagogischen „State of the Art“. Innerhalb der pädagogischen Theorien, auch der jüngeren Zeit, finde sich durchaus auch eine Art Feindlichkeit gegenüber dem Kind, erläutert Michaela Ralser: „Die Gewalt, die im Namen der Erziehung und zum angeblichen Wohle der Kinder ausgeübt wurde, gehört zu den belastendsten Fragen, der sich eine Erziehungswissenschaft heute stellen muss.“ Diese Geschichte der Erziehung und der Pädagogik im 20. Jahrhundert wird die Münchner Historikerin Dr. Miriam Gebhardt bei einem Abendvortrag am Freitag in Erinnerung rufen. „Wir müssen derzeit mit wieder populär gewordenen Rufen nach mehr Disziplin und gerechten Strafen etwa hinsichtlich des Schulschwänzens in gewisser Weise einen Schritt zurück in diese Richtung beobachten“, sagt die Organisatorin.

 

Aufarbeitung in Deutschland und der Schweiz

Ein zentrales Anliegen der Tagung ist auch der Austausch mit deutschen und Schweizer Forscherinnen und Forschern. Die Funktion und Aufgabe des deutschen „Runden Tisches Heimerziehung“ und den Stand der aktuellen Forschung in Deutschland wird die Bochumer Erziehungswissenschaftlerin Prof. Carola Kuhlmann in einem Vortrag am Samstag erläutern. Sie beschäftigt sich seit mehreren Jahren wissenschaftlich mit der Thematik und hat ihre Expertise auch für den „Runden Tisch Heimerziehung“ zur Verfügung gestellt. „Wenn auch mit den Runden Tisch längst nicht alle Forderungen der Betroffenenorganisationen angemessen beantwortet wurden, so steht mit diesem bundesweiten Organ zur Anerkennung illegitimer Gewalt und zur Entschädigung der Opfer doch ein wichtiges gesamtstaatliches Gremium zur Verfügung. Ein solches wird für Österreich seit langem gefordert, steht aber bislang aus“, erklärt Ralser.

 

„Es freut mich zudem außerordentlich, mit Prof. Hans Thiersch den Doyen der deutschen Sozialpädagogik für einen Vortrag gewonnen zu haben“, sagt Michaela Ralser. Prof. Hans Thiersch, Emeritus von der Universität Tübingen, wird beim Eröffnungsvortrag die Geschichte und Entwicklung der deutschen Jugendwohlfahrt beleuchten.

 

Die Situation in der Schweiz ist wieder anders als in Deutschland und in Österreich: Hier gibt es keine breite, nationale Diskussion zu Vorkommnissen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendfürsorge. „In der Schweiz geht die Initiative zur landesweiten Aufarbeitung von einer privaten Stiftung eines ehemaligen Heimkinds aus, die ein Wissenschaftlerteam mit der Erforschung dieser Geschichte beauftragt hat“, sagt Ralser. Neben anderen war in der Schweiz zwischen 1926 und 1972 besonders die jenische Minderheit von Gewalt im Fürsorgesystem betroffen: Sie war Opfer systematischer Kindswegnahmen mit dem Ziel der Zerstörung der jenischen Identität durch Zwangsassimilation der einzelnen Kinder, die teilweise auch adoptiert wurden. Die von der Guido-Fluri-Stiftung finanzierte Aufarbeitung dieser Geschichte leitet der Historiker Dr. Thomas Huonker; in einem Vortrag wird er am Samstag über seine Arbeit und die Situation in der Schweiz berichten.

 

Praktiker und Theoretiker

Zur zweitägigen Veranstaltung im Foyer des Instituts für Erziehungswissenschaft (Liebeneggstraße 8, Innsbruck) werden zahlreiche mit der Jugendfürsorge theoretisch und praktisch betraute Besucherinnen und Besucher erwartet, darunter auch leitende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendwohlfahrt und einzelner Einrichtungen sowie Forscherinnen und Forscher aus ganz Österreich, Deutschland und der Schweiz.

 

Wir laden Sie hiermit ebenfalls herzlich zu dieser Tagung ein, die Vortragenden stehen auf Anfrage auch für Interviews zur Verfügung. Die zweitägige Veranstaltung beginnt morgen, Freitag, um 14:00 Uhr, das detaillierte Programm finden Sie hier als PDF zum Download.