Bearbeitung: Martina Egger / Konrad Breitsching

Dekret zur Beendigung des Kultes des "Seligen Anderle von Rinn"

(VOBl. Innsbruck, Jg. 69 Nr. 6, Juli 1994, 37.)

Anläßlich der 5. Wiederkehr der Konsekration der Kirche von Judenstein erklärt der Bischof von Innsbruck:

Die Beendigung des Kultes des ,Sel. Anderle von Rinn' mit 2. Juli 1989 wie auch die Umänderung des Patroziniums der Kirche Judenstein auf den Titel "Mariä Heimsuchung" sind definitiv.

Die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils, das die verletzenden und historisch unhaltbaren Traditionen gegen die jüdische Glaubensgemeinschaft verurteilte, haben in Artikel vier der "Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen" folgendes festgehalten:

"Im Bewußtsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus politischen Gründen, sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Haßausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben."

In den Vorbesprechungen zu diesem Text wurden insbesondere die Ritualmordlegenden genannt, die zur selben Zeit wie der Hexenwahn entstanden sind und unzähligen Juden Heimat, Vermögen, Freiheit, Gesundheit und Leben gekostet haben. Einer der typischsten der rund dreihundert bekannten Fälle von Ritualmordbeschuldigungen ist der Prozeß von Trient, wo den Juden unter unmenschlichen Foltern die absurdesten und einander widersprechendsten "Geständnisse" entrissen wurden. Die haltlosen Beschuldigungen wurden aus der allgemeinen Überzeugung vom "verfluchten" Volk und den "Gottesmördern" geboren.

Die Verehrung des angeblichen Märtyrers "Anderle von Rinn" drang aber durch eine viel später wachgewordene Intensivierung des Kultes in der Barockzeit tief in die Volksfrömmigkeit ein. Dies galt in besonderer Weise für die Gemeinde Rinn. Die Verehrung wurde ja durch die kirchlichen Autoritäten gefördert und schließlich am 22. Februar 1755 von Papst Benedikt XIV bestätigt, wenngleich nie ein formaler Seligsprechungsprozess geführt wurde. Der Kult des "Anderle von Rinn" ist ein Beispiel eines als lokales Gegengewicht zu Trient ohne greifbare geschichtliche Grundlage konstruierten Ritualmordfalles. Es ist darum den Verehrern des "Anderle von Rinn" kein Vorwurf zu machen. Und ebenso wäre es ungerecht zu behaupten, dass alle Anhänger dieser Tradition "Antisemiten" gewesen wären. Die Gemeinde Rinn hat in der NS-Zeit deutliche Zeichen des Widerstandes gegeben. Für die Kirche blieb aber die Pflicht der Wahrheit und der Liebe, nach Erkenntnis der unseligen Zusammenhänge dieses Kultes und der historisch wissenschaftlichen Unhaltbarkeit der damit verbundenen Verleumdungen der jüdischen Glaubensgemeinschaft die Konsequenzen zu ziehen. Die in Rinn verehrten Gebeine sind die eines Kindes, das sicher bei Gott ist (es handelt sich übrigens nicht um die Gebeine eines dreijährigen Kindes, wie Fachleute versichern), aber ein Ritualmordmartyrium hat es nie gegeben. Die Ritualmordunterstellung war in ganz Europa eine abergläubische Verirrung.

Aus diesem Grunde wurde schon von meinem Vorgänger, Bischof Dr. Paulus Rusch, das Fest des "Anderle von Rinn" im Jahre 1953 aus dem "Officium proprium" der Diözese gestrichen. Per Dekret vom 5. Mai 1961 wurde von Papst Johannes XXIII. die Sistierung des Anderlekultes verfügt. Ich habe die Neuordnung des Patroziniums der Kirche von Judenstein auf den Titel "Maria Heimsuchung" angeordnet.

Die Veränderung war keine einsame Entscheidung des Bischofs, sondern wurde von der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung gutgeheißen und unterstützt; sie wurde weiters einstimmig getragen von der Zustimmung der gesamten Österreichischen Bischofskonferenz, vom einstimmigen Beschluß des Konsultorenkollegiums, vom einstimmigen Beschluß des Abtrates des Prämonstratenserstiftes Wilten, vom mit einer Gegenstimme gefaßten Beschluß des diözesanen Pastoralrates und vom mehrheitlichen Beschluß des erweiterten Pfarrgemeinderates von Rinn. Die Kirche von Judenstein wurde in diesem Sinne in einer sehr gelungenen Weise umgestaltet und am 2. Juli 1989 neu konsekriert. In den vergangenen fünf Jahren hat sich das Heiligtum steigender Beliebtheit erfreut und ist heute zu einer gern und viel gewählten Hochzeitskirche geworden.

Innsbruck, 2. Juli 1994
Bischof von Innsbruck

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