Playback Rate 1

Timecode: 00:00:00

Zeit für Wissenschaft 044 - Pop-Kultur

Melanie Bartos [00:00:00] Eine neue Ausgabe von Zeit für Wissenschaft, dem Podcast der Universität Innsbruck. Ich freue mich sehr, dass wir heute die erste Aufnahme des Jahres 2020 machen können und gleich mit einem, wie ich finde, sehr interessanten Thema starten können. Ich freue mich sehr, dass sich Frau Professor Maren Lickhardt heute bei mir begrüßen darf. Frau Lickhardt, herzlich willkommen bei Zeit für Wissenschaft.

Maren Lickhardt [00:00:21] Vielen Dank, dass ich eingeladen wurde.

Melanie Bartos [00:00:22] Sehr gerne. Sie sind zwei seit 2017 Assistenzprofessorin hier am Institut für Germanistik an der Uni Innsbruck. Sie haben auch entsprechend Germanistik, Philosophie und Publizistik studiert, und zwar in Mainz. Aufmerksam geworden bin ich auf Sie, weil ein Kollege von mir mit Ihnen schon einen Beitrag gestaltet hat. Und Ihre Forschungsinteressen sind unter anderem Popkultur, Fernsehserien, Romantheorie, Romangeschichte und Popkultur auch sehr in Bezug auf die historische Entstehung dieses Bereichs. Das finde ich sehr spannend, weil ich glaube, dass sich gerade dieses Thema sehr gut anbietet, um noch mal ein bisschen in die Tiefe zu gehen, weil Pop, populär, Popkultur ist? Ist ja, wirklich, kann man sagen in der Wahrnehmung von allen Menschen ein ziemlich inflationär gebrauchter Begriff. Jetzt befassen Sie sich als Wissenschaftlerin ganz intensiv mit der Thematik. Deswegen wäre mein Vorschlag, um einzusteigen in dieses doch sehr breite Thema, dass wir mal versuchen zu umreißen, was damit eigentlich gemeint ist oder woran sie da arbeiten und wie man sich einen wissenschaftlichen Zugang eigentlich vorstellen kann.

Maren Lickhardt [00:01:43] Also zunächst einmal ist es so, dass man je nach dem, je nach Perspektive versteht man unterschiedliche Dinge unter Popkultur. Die meisten Menschen denken wahrscheinlich am ehesten an Musik, wenn sie Popkultur oder so hören, an Popmusik. Also ich als Literaturwissenschaftlerin bin natürlich zunächst einmal von der Popliteratur ausgegangen, die ab den 90er Jahren geboomt ist, im Feuilleton sehr stark diskutiert wurde und die eine bestimmte, einen bestimmten Umgang mit der Konsumkultur pflegt und einen dynamischen Stil aufweist und mit bestimmten AutorenInnenschaftsinszenierungen einhergeht. Aber das ist nur ein Teil von Popkultur im Allgemeinen, die auch in der Wissenschaft von Interesse ist. Und unter Popkultur versteht man im Grunde eben nicht populäre Kultur, weil die Populärkultur etwas ist, was viele betreiben, was bei vielen beliebt ist, also populäre Hobbys oder populäre Fernsehserien oder Tätigkeiten. Popkultur ist nunmal etwas Spezifischeres, weil hier ein bestimmtes Formbewusstsein erst einmal vorliegt, sodass man hier sagen kann, das wird auf eine bestimmte Weise ästhetisch gefasst, was man tut. Und es dient auch zur Distinktion, also zur Unterscheidung von anderen, das heißt, während man also ein Hobby haben kann, das jeder andere auch macht. Das ein populäres Hobby sein kann, dient die Popkultur auch ein bisschen zur Unterscheidung. Und das kann man tatsächlich am besten an der Musik exemplifizieren. Zum Beispiel, dass man, wenn man Punk ist, sich ästhetisch selbst zivilisiert und sich auch von Personen aus anderen Popkultur abgrenzen möchte. Und man möchte auch, dass man das äußerlich sieht. Hier kommt eine bestimmte Ästhetik zum Ausdruck, die der Gruppenbildung dient, und diese Ästhetik setzt sich zusammen aus verschiedenen Aspekten aus Musik, Kleidung, Frisur und so weiter. Und so kann man erst einmal Popkultur sich vorstellen. Und die Popliteratur ist eigentlich eine Literatur, die auf Popkultur reagiert und mit ihr umgeht und zum Beispiel auch dieses Distinktionensspiel zeigt.

Melanie Bartos [00:04:11] Aber das heißt, wenn ich es jetzt richtig verstanden habe, dann heißt das: Das, was populär ist, ist nicht Popkultur?

Maren Lickhardt [00:04:17] Nicht unbedingt, nein. Populär kann alles Mögliche sein, populär können ja auch Sachen sein, die einem gar nicht gefallen, insofern, als viele sie kennen oder sie stark kursieren. Es gibt ja auch populäre Politiker oder so. Das würde ich jetzt zunächst einmal nicht ohne weiteres als Pop bezeichnen, sondern Pop ist schon ein Phänomen, das mit einem Form- und Stilisierungswillen einhergeht und das auch mehr die ästhetischen Formen zum Zwecke der Stilisierung und auch Distinguierung pflegt. Während Populäres tatsächlich alles Mögliche sein kann, also um ein Beispiel zu bringen: Ein Physiker zu sein ist ein Beruf. Und wenn man das mit bestimmten Klischees verbindet, dann könnte man sagen, Schachspielen ist ein populäres Hobby, also nicht allzu populär, aber doch populär. Aber sich als Nerd stilisieren und Big Bang Theory zu schauen ist dann Popkultur.

Melanie Bartos [00:05:28] Das ist dann auch so etwas, wo verschiedene Komponenten zusammenkommen, damit man dann von Pop-Kultur spricht, auch in der Definition, die Sie jetzt sagen, ja.

Maren Lickhardt [00:05:43] Ich habe es ja in Bezug auf die 20er Jahre untersucht. Also die weibliche Angestellte hat zunächst einmal diesen Beruf, der ja auch populär war. Sie hat außerdem vielleicht populäre Freizeitbeschäftigungen verfolgt wie Schwimmen oder Rudern oder ähnliches. Aber sich als die neue Frau der 20er Jahre stilisieren ist wieder ein Teil der Popkultur, weil hier auch wieder eine bewusste Ästhetisierung als Teil einer bestimmten Gruppe am Werk ist und eine bestimmte Kleidung getragen wird.

Melanie Bartos [00:06:11] Ich finde es auch einen ganz interessanten Aspekt, an dem man das jetzt auch noch einmal gut darlegen kann, was Sie jetzt schon geschildert haben. Sie haben ja 2018 das Werk herausgebracht "Pop In den 20er Jahren", und ich habe es sehr nett gefunden, weil Sie sind auch auf Twitter aktiv, und Anfang des Jahres, haben Sie getwittert: "Spätestens ab jetzt werde ich für die nächsten 12 oder 13 Jahre vermutlich jedes Mal, wenn ich ein Datum schreibe, daran denken, was vor 100 Jahren war." Das Thema ist für Sie sehr präsent. Sie befassen sich mit Pop in den Zwanzigerjahren. Die 20er sind ja auch so etwas, die sind heute recht populär. Sehr schönes Vorbild, in vielerlei Hinsicht, auch kulturell. Wie ist da der historische Zugang? Hat Pop in den Zwanzigern begonnen? Kann man das so sagen? Das was Sie jetzt schildern, dass es Eigenschaften gibt, die populär sind. Und dann gibt's zu Bewegungen, wo man sich irgendwie einer Gruppe zugehörig fühlt oder zugeordnet wird. Das ist jetzt vielleicht nicht unbedingt ein völlig neues Phänomen im 20. Jahrhundert. Oder schon?

Maren Lickhardt [00:07:18] Also zunächst einmal: Die Pop-Forschung bezieht sich üblicherweise erst auf Phänomene ab den Fünfzigerjahren, weil es den Laut-Körper ab dann gibt. Man spricht zeitgenössisch von Pop, oder man schreibt sich selbst als das Label Pop erst ab den 50-Jahren zu, und deshalb hat die Forschung nicht systematisch auf die 20er Jahre geblickt, obwohl natürlich auch Kolleginnen und Kollegen immer aufgefallen ist, dass hier bestimmte Dinge schon beginnen. Und ich denke, sie beginnen konzeptuell definitiv in den 20er Jahren, auch wenn es den Begriff noch nicht gibt. Aber ich glaube, dass der Erste Weltkrieg hier tatsächlich eine Zäsur war, die wichtig war. Na ja, das klingt jetzt zu positiv. So positiv würde ich im Kontext des Ersten Weltkriegs das nicht formulieren. Aber die Bedingung der Möglichkeit, diese Zäsur durch den Ersten Weltkrieg war die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass so etwas wie Popkultur entstehen konnte oder musste. Denn in den 20er Jahren entstand das, was man als Massengesellschaft empfunden hat. Die ständische Ordnung war weggebrochen, Klassen, Zugehörigkeiten waren gar nicht mehr so sichtbar. Durch die Inflation gab es Neureiche und neue Armut, und das hat eigentlich das, was man bislang als gesellschaftliche Ordnung begriffen hat, ziemlich stark durcheinander gebracht. Und die Popkultur ist eigentlich eine Art von Kompensationsmittel dafür, wenn man so will, weil, wenn man sich einer Popkultur zugehörig fühlen kann und wenn man sich auf eine bestimmte sichtbare Weise stilisieren kann, dann kann man anderen wieder zeigen, wer man ist und dass man zu einer bestimmten Gruppe gehört. Und so können sich durch popkulturelle Zuschreibungen wieder neue Gruppen konstituieren, nachdem durch den Ersten Weltkrieg die Inflation und andere Prozesse destabilisiert wurden.

Melanie Bartos [00:09:26] Wenn Sie es jetzt auch in diesem historischen Kontext bringen, das ist so ein Reagieren auf diese extremen, alles bisher Dagewesene eigentlich irgendwie zerstört habende historische Ereignisse. Dass man sich so ein menschliches Handeln eigentlich, dass man sich dann wozu gehörig fühlt.

Maren Lickhardt [00:09:52] Und es wird ja auch dann erst möglich. In einer ständischen Gesellschaft oder in festeren und starreren Gesellschaftsordnungen ist es einem selbst ja gar nicht möglich, sich zu stilisieren oder sich selbst zu definieren und auch selbst zu erschaffen. Und dass es dann ab den 20er Jahren auch viel leichter möglich, zumal es ja eine Flut von massenmedialen Vorbildern in Zeitschriften und Kinofilmen gibt. Man muss allerdings hinzufügen, dass der Haken daran ist, dass man sich das natürlich leisten können muss. Es ist an bestimmte ökonomische Ressourcen durchaus gebunden.

Melanie Bartos [00:10:28] Wenn Sie sagen, das muss man sich leisten können oder das ist an gewisse soziale Voraussetzungen gebunden. Wie hat denn das begonnen, wenn Sie sagen, man kann das so nach dem Ersten Weltkrieg verorten? Wann hat es angefangen, dass es so eine eine Tendenz in diese Richtung gibt? Und wie und wo war das sichtbar am ehesten?

Maren Lickhardt [00:10:51] Ich glaube, das war am sichtbarsten auf jeden Fall in Berlin. Das würde ich schon sagen, ist das Zentrum der Popkultur der 20er Jahre. Auch Wiener Schriftstellerinnen wie Lili Grün oder Vicki Baum waren ja dann auch in Berlin. Sie sind ja nicht in Wien geblieben. Der Ullstein Verlag war ein Verlag, der einen wichtigen Motor erst mal auf dem literarischen Sektor für sowohl Populärliteratur als auch popkulturelle Stilisierungen war. Und angefangen hat es sicherlich nicht vor vor 24, als die Phase der relativen wirtschaftlichen Stabilisierung, der sogenannten, eingetreten ist und die Inflation beendet war damit, weil erst dadurch natürlich erst wieder ein bisschen Ruhe reingekommen ist. Und Berlin, Berlin der Zwanziger, ist sozusagen das Zentrum. Hier fängt es an in einem bestimmten Kreis der Avantgarde, auch wenn sie sich selbst nicht als Avantgarde bezeichnet haben und sie auch nicht im literaturwissenschaftlichen Sinne zu den Avantgarden gehören, also nicht Dadaisten waren oder so. Aber hier hat es angefangen, und es ist auf jeden Fall ein Großstadt-Phänomen. Man findet es sicherlich in den 20er Jahren so nicht auf dem Land.

Melanie Bartos [00:12:14] Was findet man nicht? Wie hat sich das geäußert?

Maren Lickhardt [00:12:18] Ich kann das natürlich nicht mit Gewissheit sagen, weil mir hier, auch weil die Quellen da natürlich seltener sind. Da gibt es weniger Quellen, und die Literatur, die sich auf das Landleben bezieht, ist eben nicht Popliteratur und hat eben nicht diese Popkultur zum Gegenstand, sondern da sind dann ganz andere Phänomene relevant. Und leider weiß ich nichts über die Rezeption zum Beispiel von Publikumszeitschriften in den Zwanzigerjahren. Das würde ich gerne wissen, denn die Frage war ja, wie die verbreitet waren. In Berlin wurden die produziert, und man konnte sie auch an jeder Straßenecke kaufen und Tageszeitungen sowieso bis zu viermal am Tag an jeder Straßenecke. Und ich bin mir gar nicht so sicher wie die Zeitschriften, insbesondere die Zeitschriften-Rezeption auf dem Land war. Also wenn ich mal nicht als Wissenschaftlerin, sondern anekdotisch spreche, kann ich sagen, dass meine Großmutter die Zwanziger als Jugendliche erlebt hat und das auf keinen Fall kannte.

Melanie Bartos [00:13:22] Und Zeitschriften? Was waren das für Zeitschriften? Was kann man sich da vorstellen, wenn Sie auch im Vergleich zu Tageszeitungen abheben?

Maren Lickhardt [00:13:30] Es gab zum Beispiel die Zeitschrift Uhu. Die war für ein junges Publikum, sehr bei einem jungen Publikum beliebt. Die wurde von Ullstein-Verlag vertrieben und ziemlich gute, also sehr gute Literatur, Literatinnen und Literaten haben für diese Zeitschrift geschrieben, und wir haben hier zum ersten Mal viele Fotografien und Illustrationen. Das heißt es, die gehen schon in die Richtung dessen, was wir heute unter Zeitschriften verstehen. Es gibt auch partizipative Elemente wie zum Beispiel, dass man Kreuzworträtsel lösen kann oder Spiele mit so zerschneidbarem Papier machen kann, wo man so Muster macht oder ähnliches. Und es gibt Leser- und Leserinnen-Brief-Aktionen und die Inhalte der Zeitschrift beziehen sich auf Mode und Lifestyle und alles, was ein junges Publikum interessiert, auch auf Musik, aufs Grammophon hören, auf Kinofilme, Starkult. Es werden dort auch Abbildungen von Stars präsentiert. Natürlich nicht so, wie wir das von der Bravo kannten. Aber, aber so ein bisschen. Allerdings finden sich darin auch lange Texte, die wir so heute aus Zeitschriften nicht mehr kennen. Also Reportagen, Dokumentationen, Reiseberichte, aber auch Magazine, Novellen, also fiktionale Geschichten, die.

Melanie Bartos [00:15:00] Ja, die waren, das können Sie so weit sagen, beziehungsweise gehen Sie davon aus, dass das ja auch die Rezeption dieser Magazine wahrscheinlich eher ein Stadt-Phänomen war?

Maren Lickhardt [00:15:11] Sicher nicht nur, aber es wurde auf breiter Ebene war es sicherlich auch in Großstadt-Phänomen. Und da hat sich das so wechselseitig bestätigt, dass diese Magazine die Großstadt-Kultur zum Ausdruck gebracht haben und in Geschichten thematisiert haben und auch bildlich gezeigt haben, dass eine bestimmte Gruppe von Leuten, die es sich leisten konnte, das auch so gelebt hat.

Melanie Bartos [00:15:35] Das heißt, da hat man dann auch Vorbilder gehabt. Viele haben ja auch diesen Kleidungsstil vor Augen, wahrscheinlich gerade, wenn es Berlin der Zwanzigerjahre ist. Da gab es ja auch diese Babylon Berlin Serie, die das alles noch einmal ein bisschen in Erinnerung gerufen hat. Sie haben gesagt, dass das durchaus auch an eine gewisse Form des Wohlstands gebunden ist, ob man überhaupt bei so einer Popkultur- Bewegung, -Gruppe oder was sein kann und dass die eigentlich die Popkultur-Literatur sozusagen auf dieses gesellschaftliche Phänomen reagiert hat. Was kann man da festmachen an dem wie das dann in der Literatur war? Was für Literatur ist daraus dann entstanden?

Maren Lickhardt [00:16:19] Also, da würde ich gerne drei Personen nennen. Zum einen Ruth Landshoff-York, die das deutsche It-Girl schlechthin war und die nicht nur Literatur geschrieben hat, wo sie Protagonistinnen entworfen hat, die ihr durchaus auch ähnlich waren und die auch als It-Girls durch die Welt gereist sind, sondern die auch selbst fotografiert wurde und deren Abbildungen in Zeitschriften gezeigt wurden, die auch als sehr attraktive Frau inszeniert wurde und zum Mode-Vorbild wurde. Das ist das eine. Das zweite ist, wen ich ganz interessant finde, ist Wilhelm Speyer, Willy Speyer genannt, der den Roman "Charlott etwas verrückt" geschrieben hat. In diesem Roman geht es darum, dass eine sehr mondäne, kapriziöse Figur durch eine ebensolche Gesellschaft wandelt, und man reist auch um die Welt und trägt schöne Kleider und macht merkwürdige Schelmen-Stücke würde ich es jetzt mal nennen. Und das ist schon märchenhaft. Das übersteigt tatsächlich das reale Vermögen der normalen Leserinnen und Leser. Und dann, als Gegenbeispiel, fällt mir Lili Grün ein, die österreichische Schriftstellerin Lili Grün, die aber in Berlin gelebt hat zeitweise und die eine Protagonistin entworfen hat, die das Ganze beobachtet und die da reinkommen möchte. Da kann man die Anstrengung sehen anhand dieser Figur, wie das eigentlich ist, wenn man gerne in dieser Kultur partizipieren würde. Diese Figur ist aber erstens nicht immer up to date und informiert und braucht ihre Freundinnen, die ihr sagen, wie sie sich jetzt kleiden soll und welche Frisuren sie tragen soll. Und zweitens kann sie sich das kaum leisten. Und Lili Grün thematisiert auch die Anstrengungen, die damit verbunden sind. Wenn man gerne mithalten möchte, es sich aber beim besten Willen nicht leisten kann und die, wie eine ihrer Figuren sagt, in einem Punkt: "Ich lerne das Feschsein nie".

Melanie Bartos [00:18:22] Das ist etwas, was dann sozusagen in allen Spektren, dort ist dieses neue gesellschaftliche Phänomen, wie es in den 20er Jahren noch war, auch in der Literatur schon abgebildet worden war. Da war das so etwas wie Selbstkritik auch dabei?

Maren Lickhardt [00:18:41] Ja, zum Beispiel bei Irmgard Keun findet sich das in ihrem Roman "Das kunstseidene Mädchen", der es sehr reflexiv gestaltet, das heißt, er reflektiert seine eigenen Produktions- und Entstehungsbedingungen. Und auch, dass er sich sehr stark im Rahmen der Muster und Klischees der zeitgenössischen Filmproduktion und Zeitschriften bewegt. Das heißt, der Roman tut das einerseits mit Freude, aber andererseits stellt er das auch ganz ostentativ aus. Dass er aus Klischees besteht, und man soll das auch als Klischees goutieren und nicht mit der Wirklichkeit verwechseln oder so. Und das zeigt dieser Roman. Abgesehen davon, dass er eine Ich-Erzählerin präsentiert, die durchaus auch sehr schwere Zeiten in Berlin durchlebt und wo man auch sieht, dass das Ganze ein Auf und Ab sein kann, wenn man, wenn man also jenseits einer festen Ausbildung und einer bürgerlichen Laufbahn sozusagen wirklich versucht, ganz bohemehaft diese Popkultur zu leben, dann hat man es sicherlich schwer. Das will jedenfalls, "Das kunstseidene Mädchen durchaus mit seiner Ich-Erzählerin zum Ausdruck bringt. Aber interessant finde ich eben, diese Romane verschleiern ja nicht, dass es intermediale Texte sind und dass sie sich auch auf eine bestimmte Medienkultur beziehen. All diesen Romanen ist ein Bewusstsein dafür eingeschrieben, dass sie Medienkultur zum Gegenstand haben und nicht die normale und schnöde Realität.

Melanie Bartos [00:20:10] Können Sie das ein bisschen näher erläutern? Wie meinen Sie das, intermedial? Also so selbstreferenziell auch?

Maren Lickhardt [00:20:17] Die Texte sind sehr selbstreferenziell, aber sie beziehen sich auch zitat- und collagenhaft auf andere Medien. Im "kunstseidenen Mädchen" ist es am ehesten auf die Spitze getrieben, dass die Ich-Erzählerin zu Beginn ja auch sagt, sie will schreiben wie Film. Das heißt, hier wird auch schon die Rezeptionsanweisungen erteilt, man möge das möglicherweise auch bei der Rezeption mit dem Film abgleichen, was hier passiert. Und dann kommen, fallen in dem Roman Sätze, die nicht dem Duktus der Figur selbst entsprechen, sondern wo man auch merkt, dass es sich hier zumindest um simulierte Collageversatzstücke aus zeitgenössischen Zeitschriften handelt. Und in "Gilgi - eine von uns", dem ersten Roman von Irmgard Keun, merkt man das auch sehr stark, dass die Figur paar Phrasen und Slogans von sich gibt, die sie aus diesen Medien gelernt hat. Und es soll aber nicht diese Phrasen reproduzieren, sondern es soll sie auch als Phrasen sichtbar machen.

Melanie Bartos [00:21:17] Sie haben gesagt, dass ab 1924 lässt sich das Ganze ungefähr festmachen. Bis wann dauert denn dann diese Popkultur der Zwanziger an? Weil wir wissen ja, was danach passiert ist. Und dass dann alles in noch dunklere Zeiten eingetaucht ist, als es davor eigentlich fast war, muss man sagen, es hat ja ganz furchtbare Entwicklungen dann genommen, auch ja, durchaus schon in den 20er Jahren angelegt, sozusagen. Was ist da eigentlich passiert? Weil das, was Sie schildern, ist ja... Das ist ja auch in der heutigen Wahrnehmung die 20er Jahre und so weiter das ist alles, muss eine tolle Zeit gewesen sein und viel Lebensfreude auch irgendwie da. Wie kann man das aus Ihrer Sicht einordnen?

Maren Lickhardt [00:22:04] Ab 1929 wurden die Zwanzigerjahre Jahre schon destabilisiert oder stark verändert durch die Weltwirtschaftskrise. Das darf man nicht vergessen, dass die Zwanzigerjahre kurze 20er Jahre sind. Wenn man wirklich die wirklich goldenen 20er Jahre meint, also 1929, war die Weltwirtschaftskrise schon ein großes Problem. Und natürlich sprechen wir jetzt vom Nationalsozialismus, der 33 in Deutschland, 38 in Österreich dem Ganzen vermeintlich ein Ende bereitet hat. Und da muss man in zwei Richtungen denken. Zum einen ist es so, dass der Nationalsozialismus durchaus popkulturelle Formen übernommen und für sich instrumentalisiert hat. Und einige dieser Zeitschriften sind auch unter dem Nationalsozialismus noch eine Zeit weitergelaufen, zum Beispiel "Die Dame", die Modezeitschrift. "Die Dame" lief noch bis Mitte der vierziger Jahre etwa weiter, bis Anfang der vierziger Jahre. Aber formal, kann man schon auch sagen, bedient sich der Nationalsozialismus popkultureller Elemente, auch wenn er natürlich mit Pop überhaupt nichts mehr zu tun hat, weil es überhaupt nicht mehr um diese Funktion geht, sondern im Nationalsozialismus geht es ja um eine Restabilisierung essentialistischer Kategorien. Da ist es wichtig, was auch immer arisch zu sein, deutsch, österreichisch zu sein, Frau sein, Mann sein, was auch immer. Das ist dann für den Nationalsozialismus wichtig, und durch diese Form der essentialistischen und biologistisch festgeschriebenen Grenzziehung kann das Spiel mit der Identität natürlich nicht mehr das gleiche sein. Das muss man schon sagen. Allerdings will ich trotzdem darauf hinweisen, dass es die Formen eben gibt und der Nationalsozialismus ja einiges für sich instrumentalisieren konnte, ohne dass die Funktionen dann weiter laufen konnten. Aber was jetzt meine Gruppe von Personen betrifft, endete es besonders traurig. Wenn es um die Trägerschaft dieser Popkultur geht, dann endet das Ganze drastisch und kann gar nicht weiterlaufen im deutschsprachigen Bereich. Walter Serner und Lili Grün wurden im Konzentrationslager ermordet. Ruth Landshoff-York musste aus Deutschland fliehen, und das ging auch fast allen anderen Popliteraturliteraten so, oftmals, weil es sich beim Nationalsozialismus ja um eine antisemitische Ideologie handelt und die Schriftstellerinnen und Schriftsteller Juden waren. Aber trotzdem liegt es auch an der Literatur selbst, die von den Nationalsozialisten als Asphalt-Literatur klassifiziert wurde, weil sie auch sehr liberal oder libertär, sehr freizügig war. Und eben genau das Gegenteil gemacht hat, was später der Nationalsozialismus gemacht hat, nämlich ästhetische Kategorien postuliert, für die man sich als Mensch freiwillig entscheiden kann.

Melanie Bartos [00:25:11] So, in der Popkultur habe ich die Wahl, welcher Gruppe ich mich zugehörig fühlen kann und werde dafür auch nicht verurteilt, je nachdem, was ich wähle. Und im Nationalsozialismus, wie wir wissen, hat das alles natürlich überhaupt keinen Platz.

Maren Lickhardt [00:25:25] Genau. Die Popkultur der 20er Jahre in Berlin war auch durchaus Geschlechter. Bis zu einem gewissen Grad. Ich will das jetzt nicht übertreiben. Aber es gab natürlich einen queeren Diskurs, auch in Berlin oder Ruth Landshoff-York bekannte sich offen zu ihrer Bisexualität, und auch das war natürlich dann leider nicht mehr möglich danach.

Melanie Bartos [00:25:47] Sie schauen aber auf diese goldenen Jahre, die Sie jetzt geschildert haben, vor allem. Was sind da für Sie so diese... Wenn Sie jetzt diese Popkultur in dem frühen Stadium oder in dieser ersten historischen Phase so für sich einordnen oder darstellen müssten, was sind denn da die wichtigsten Schlagworte Ihrer Meinung nach, aus Ihrem Zugang zu der Thematik? Damit vielleicht die Zuhörerinnen und Zuhörer auch eine andere Perspektive darauf bekommen, wie man sich diesem Thema annähern kann, wenn man eine wissenschaftliche Perspektive einnimmt?

Maren Lickhardt [00:26:29] Angefangen das zu beforschen, habe ich ja aus einem bestimmten Forschungskontext heraus, der Popkultur ab den Fünfzigerjahren Jahren beschreibt. Und ich hatte aber meine Doktorarbeit über Irmgard Keun geschrieben und musste dann feststellen, dass es da sehr viele Parallelen gab, die ich zunächst gar nicht bemerkt hatte. Ich habe zuerst diese Doktorarbeit geschrieben. Zu diesen Texten in textanalytischer Hinsicht und später mich mit Popkultur ab den 50er Jahren befasst und habe gemerkt, okay, das hätte ich bei Keun auch schon alles beschreiben können.

Melanie Bartos [00:27:03] Was war das Thema Ihrer Doktorarbeit?

Maren Lickhardt [00:27:05] Ich habe über die Schriftstellerin Irmgard Keun promoviert. Das Interessante ist zum Beispiel, was ganz wesentlich ist, ist, dass man in der Popliteratur ab den 90er Jahren immer besonders hervorgehoben hat, dass sie Markenbenennungen betreibt. Das war ja im Feuilleton der 90er Jahre sehr relevant. Und das findet man in den 20er Jahren auch. Und das ist ein Indikator dafür, dass es in den 20er Jahren schon eine Konsumkultur gegeben hat, die ein bisschen mit unserer heutigen vergleichbar ist und dass es auch Werbung für Konsumprodukte gegeben hat, die schon ein bisschen mit dem vergleichbar ist, was wir heute kennen. Das heißt, wir haben in den 20er Jahren eine Konsumkultur und eine Warenästhetik, die dann erstens in die literarischen Texte einfließt und zweitens dazu verhilft, dass sich Personengruppen mittels dieser Konsumgüter unter anderem stilisieren können. Und konkret vorstellen muss man sich das als literarischen Niederschlag, dass, wenn Gilgi aus "Gilgi eine wie eine von uns" von Irmgard Keun, eine Creme verwendet, dann sagt sie nicht, dass sich die Haut eingecremt, sondern dass sie dafür "Kaloderma"-Handcreme benutzt. Das wiederum verhilft den Leserinnen und Lesern, sich sehr genau vorzustellen, wer diese Gilgi ist, weil sie auch die Kaloderma-Werbung kennen, die dann wiederum auch Bilder beinhaltet. Und möglicherweise verschiebt man das, verschränkt man das in der Fantasie, diese Werbebilder und diese Figur Gilgi. Und man verwendet sie ja auch gleich selbst, die Kaloderma-Creme. Und das führt wieder ins eigene Leben und in den Alltag zurück. Und so entsteht so ein Dreieck zwischen Personen, Rezipienten der Popkultur oder Konsumentinnen der Warenkultur, dieser Konsumkultur Warenästhetik auf der anderen Seite und der Literatur, die das Ganze auch noch einmal reflektiert.

Melanie Bartos [00:29:16] Es sind auch wirkliche Parallelen, die Ihnen dann erst aufgefallen sind, als sie sich dann in der Hinsicht damit befasst haben?

Maren Lickhardt [00:29:26] Vereinzelt ist es auf jeden Fall in der Forschung schon aufgefallen, dass es in den Zwanzigern Vorläufer gab. Und mir ist es dann aber auch später dann aufgefallen, als ich anfing, mich mehr mit Popkultur zu beschäftigen, dass ich das aus meiner früheren Forschung zu den Zwanzigern schon kenne. Und dann habe ich mir das systematisch angeschaut.

Melanie Bartos [00:29:45] Der Popkulturbegriff ist ja etwas, was sich generell, wie ich eingangs schon gesagt habe, in Ihren Forschungsinteressen sehr stark abbildet. Und das beschränkt sich nicht nur auf die Entwicklungen in den Zwanzigerjahren, auch wenn sie eine große Rolle spielen. Sehr interessant für mich war auch die Tatsache, weil es begegnet einem nicht so oft wenn man mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu tun hat, dass sie sich auch mit Serien beschäftigen. Auch aus diesem Hintergrund, den wir jetzt versucht haben darzulegen. Wie kann man sich da Ihren Zugang vorstellen? Ganz banal gefragt: womit beschäftigen Sie sich dabei? Serien ist ja mittlerweile was, was doch sehr stark Einzug gehalten hat in den Alltag, wovon wir ja alle irgendwie unsere Erfahrungen damit haben. Wie kann man sich das vorstellen, wenn Sie sich das jetzt anschauen?

Maren Lickhardt [00:30:36] Also Serien schaue ich mir unter verschiedenen Gesichtspunkten an. Das können auch ganz andere Gesichtspunkte als popkulturelle sein. Da habe ich auch einen gewissen Fokus auf die Geschlechter-Thema-Verhandlungen in diesen Serien oder so. Was ja nochmal was anderes ist thematisch. Aber was mache ich da? Erst einmal bin ich persönlich seriensüchtig und kenne sehr viele. Und das ist schon mal keine schlechte Voraussetzung, weil man ja das vergleichen muss und auch eine historische Einordnung vornehmen muss. Und ich kann behaupten, dass ich seit den 80er Jahren seriensüchtig bin. Das heißt, ich habe da eine große historische Vergleichsbasis.

Melanie Bartos [00:31:20] Da hat sich auch einiges getan, glaube ich.

Maren Lickhardt [00:31:24] Und ich habe diese Veränderungen alle mitbekommen, sozusagen erstmals als Rezipientin. Und ja, und dann ist klar, dass man etwas, was derart stark rezipiert wird, selbstverständlich auch wissenschaftlich analysieren muss. Das hat natürlich eine große Relevanz, sich auch unter einem wissenschaftlichen Gesichtspunkt anzuschauen, worüber alle Leute reden. Und dann kommt es dann je nach Fragestellung, oder oder es kommt dann auf das Artefakt an, was dann im Speziellen interessant ist. Aber zum Beispiel finde ich an der Serie "Glow" interessant, dass es hier wieder zu einer Selbstthematisierung der Popkultur kommt. "Glow" ist eine Serie, die in den Achtzigerjahren spielt, also eine aktuelle, jetzt laufende zeitgenössische Serie, die ein Szenario in den 80er Jahren aufmacht, und zwar rankt sich diese Serie um eine zusammengewürfelte Frauengruppe von Wrestlerinnen. Und das ist deshalb so interessant, weil sich in dieser Serie die Populärkultur erst einmal sehr stark selbst reflektiert und das Thema Wrestling, das ja im amerikanischen Bereich wirklich sehr virulent ist, aufruft. Und tatsächlich gab es in Deutschland auch mal so Anfang der 90er Jahre einen Wrestling Boom, oder man nannte das damals Caching oder Cachen, und dass das hier nochmal so eine Selbsthistorisierung der Popkultur vollzogen wird, indem ein in den 80er Jahren vor allem sehr populäres Phänomen zum Gegenstand der Verhandlungen wird. Und außerdem ist die Serie insofern natürlich raffiniert, als sie hier diese Frauengruppe darstellt. Und in den 80er Jahren haben wir auch einen sehr starken feministischen Schub, wenn man so will, der sich darin abbildet in dieser Serie, weil es hier um weibliche Cacherinnen oder Wrestlerinnen geht. Und dann machen diese Frauen ja auch eine eigene Fernsehshow, und in dieser Fernsehshow erproben sie alle möglichen Formate, die improvisieren die ganze Zeit, verkleiden sich, machen alles Mögliche, erfinden Dialoge und überlegen sich, was dem Publikum gefallen könnte. Und das heißt jetzt hier historisiert die Serie auch einen bestimmten Bereich des Fernsehens, indem man einerseits Trash produziert hatte und auf der anderen Seite einen gewissen Freiraum hatte, sehr innovativ zu sein und unheimlich viel auszuprobieren und auch neue Kunstformen zu entwickeln. Und das wird tatsächlich neben dieser Wrestling-Handlung wird das sehr deutlich gemacht, wie viel Spaß diese Frauen dabei haben, kreativ zu sein auf ihre ganz eigene Weise, weil sie dieses Fernsehformat entwickeln, für das es eben keine Vorbilder gibt und für das man auch keine Bildung braucht, das aber trotzdem ästhetisch raffiniert und witzig und intelligent ist. Und dann ist natürlich auch nicht uninteressant, dass es in die Zeit des Kalten Krieges zurückführt, weil diese Wrestlerinnen ja Antipoden darstellen, die Russin und die Amerikanerin. Das erinnert uns jetzt auch noch an eine Zeit, die sich sehr von unserer heutigen unterschieden hat. Und so greift diese Serie unheimlich viel von dem auf, was man seit den 80er Jahren kennt, wenn man in der Medienkultur der 80er und später gelebt hat.

Melanie Bartos [00:34:58] Also ist es eine Art historische Aufarbeitung in einer Serie? Ist ja auch so etwas, was ich so als - weiß nicht, ob ich das als Popkultur sehen darf, dass man die auch so bisschen verherrlicht? Oder wahrscheinlich, weil man sich auch irgendwo die Kindheit an die eigene Jugend zurückerinnert, wo es gerade auch mit dem Stranger Things, glaub ich, so einen Hype in die Richtung, wo es ganz stark um diese Ästhetisierung der Achtzigerjahre auch gegangen und der 90er Jahre. Wieso? Ist es Zufall, dass das jetzt so aufgegriffen wird? Oder warum glauben Sie kommt das in der Form?

Maren Lickhardt [00:35:35] Dass "Glow" die 80er aufgreift, fügt sich in einen 80er Jahre Boom oder Trend. Das ist erst einmal, da haben Sie ja jetzt schon beschrieben oder gesagt. Und in Zürich gibt es auch im Sommersemester eine Veranstaltung zu den 80ern und dem 80er Jahre-Boom, also an der Uni Zürich, wo ich eingeladen bin. Das heißt, das fügt sich wirklich in einen Trend, sodass es tatsächlich jetzt schon diese Ringvorlesung zu den 80er Jahren dort gibt und so. Ich weiß nicht so genau, woran das liegt. Zum einen ist es sicherlich so, dass die Popkultur hier nochmal einen Schub erlangt hat. Vor allem deshalb, weil nun Popkulturen entstanden sind, die sich auch so ein bisschen von dem politischen Impetus mancher Popkultur der 70er Jahre gelöst haben. Hier war viel mehr Ästhetik um ihrer selbst Willen am Werk und so, und damit neigen wir vielleicht dazu, das aus heutiger Perspektive als Pop par excellence zu bezeichnen. Während Hippies zwar auch irgendwie Pop waren, aber die werden auch noch in den politischen Diskursen ganz anders verortet. Jedenfalls vermute ich, dass es so ist, und das zweite ist bestimmt, was sie gesagt haben dass das unsere eigene Erinnerung ist, dass unsere Generation jetzt ihre Midlife-Crisis sozusagen im Spiegel der 80er Jahre auslebt.

Melanie Bartos [00:37:03] Ich weiß nicht, inwieweit man das vielleicht auch in dieser Hinsicht einordnen kann, was sich da entwickelt hat. Weil Sie sagen, dass Sie auch schon seit den 80er Jahren Serien anschauen. Aber dass wir heute hier sitzen und dass man an Serien solche Analysen überhaupt machen kann, ist ja auch was... vielleicht war es lange unterschätzt, was Serien eigentlich auch leisten. Weil vor ein paar Jahren wären wir wahrscheinlich dagesessen, und wir hätten uns über irgendein Filmwerk unterhalten. Ich weiß nicht, inwieweit sich das jetzt entwickelt hat, aber die Serien, glaube ich auch in der Hinsicht ja eine Entwicklung durchgemacht haben, wie Sie geschildert haben. Also dass man da über eine Serie redet, hätte man vor einiger Zeit noch gerne in der Form für möglich gehalten, dass die auch solche Dinge abbilden kann...

Maren Lickhardt [00:37:55] Man hätte das in der Wissenschaft vermutlich nicht gemacht, weil es nicht aufgefallen war. Das heißt aber nicht, dass es nicht eigentlich auch relevant gewesen wäre. Da ist sozusagen der Punkt. Die Fernsehserie hat sich sehr stark verändert. Zum Beispiel hat sie sich im Wesentlichen umgestellt von einem episodischen Format auf einen progressives Format, das viel größere Storyline erzählt werden und nicht mehr diese Monster of the Week-Geschichten. Und damit hat sie auch eine größere Komplexität erlangt. Und durch die neuen Möglichkeiten des Verbreitens über Streaming-Anbieter und das sogenannte Binge-Watching, also das Schauen einer ganzen Staffel. Gibt es eine andere Form der Handlungsführung und auch eine andere Form der Komplexität. Außerdem ist das Budget größer geworden, wodurch auch mehr Figuren mitspielen können, was die Sache auch nochmal komplexer macht. Unter popkulturellen Gesichtspunkten ist sie aber, sind die neuen Serien nicht interessanter als die alten Serien. Denn die alten Serien versammeln ja auch alle möglichen Diskurse, die wir interessant finden. Zum Beispiel ist eine sehr beachtenswerte Serie Remington Steele mit dem jungen Pierce Brosnan in der Hauptrolle und Stephanie Zimbalist lässt als weibliche Hauptdarstellerin. Diese Serie ist hochgradig reflexiv und thematisiert permanent ihre eigenen Entstehungsbedingungen und macht Witze über sich selbst und integriert pro Folge unglaublich viel an zeitgenössischen Diskursen und popkulturellen Diskursen. Diese Serie ist besonders komplex und besonders kulturhistorisch relevant. Aber man wäre früher vielleicht weniger auf die Idee gekommen, sie zu untersuchen. Und durch diese neue Form der Serie, die man für komplexer und qualitativ hochwertiger hält, hat sich der Fokus umgestellt auf die Serien.

Melanie Bartos [00:40:02] Würden Sie gar nicht sagen, dass die unbedingt besser geworden sind, auch erzählerisch? Außer, dass sich das Erzählen verändert hat. Aber die sind nicht zwangsläufig auch besser geworden, oder? Oder ist es schon auch irgendwo so ein Effekt, dass wenn einem Genre mehr Aufmerksamkeit geschenkt, dass dann vielleicht auch mehr...

Maren Lickhardt [00:40:20] ... ja, die Leistungsdichte größer ist. Ich glaube schon, dass es sehr, sehr viel mehr gute Serien jetzt gibt. Aber das heißt eben nicht, dass es nicht auch gute Serien schon in den Achtzigern gegeben hat. Aber natürlich hat sich der Markt völlig verändert und dadurch auch die Quantität der Produktionen und auch die Qualität.

Melanie Bartos [00:40:43] Wir haben uns im Vorfeld schon ein bisschen abgesprochen, weil ich ja schon wusste, dass sie sich mit Serien befassen. Man muss es ja dann doch auch wenn es Zeit für Wissenschaft ist, irgendwo ein bisschen eingrenzen. Die zweite Serie, die Sie genannt haben, die Sie persönlich ganz interessant finden, ist Pose, auch eine Netflix-Serie. Was ist an de besonders interessant? Weil die jetzt auch in das gut reinpasst, was wir besprochen.

Maren Lickhardt [00:41:09] Die ist unter popkulturellen Gesichtspunkten deshalb interessant, weil es um Drag Queens geht und hier geht es ganz klar um das Thema, der Selbsterschaffung über Ästhetik, also die Selbstermächtigung, also dass der biologische Körper einen nicht determiniert, sondern man durch Ästhetik sich eigentlich erst zu der Person macht, die man sein möchte und damit auch traditionelle Grenzen überschreitet. Und das ist interessant für die Popkultur, wobei selbstverständlich auch Drag Queens nur ein Segment im transgender und queeren Bereich ist, das ist klar. Aber dieser Bereich wird in dieser Serie beleuchtet, und es wird die Ballroom Kultur gezeigt. Diese Drag Queens gehören verschiedenen Häusern an und treten in Shows gegeneinander an, in Kategorien wie Eleganz oder das schlichteste oder auch das auffälligste Kleid. Und so weiter und so fort. Das heißt, hier geht es auch wieder um diese, um die Reflektion der Stilisierung, indem das ja thematisch in die Serie integriert wird durch diese Ballroom Auftritte. Die Serie ist aber eigentlich todernst, weil sie HIV thematisiert und weil tatsächlich auch einige Figuren sterben und man sich als Zuschauerinnen oder Zuschauer daran gewöhnen muss, die Figuren zu verlieren. Ebenso wie man das ja in den 80er Jahren tatsächlich eine Zeitlang teilweise erleben musste. Und insofern ist die Serie todernst aber, aber trotzdem zeigt sie das Spiel mit der Identität, dass eben ein popkulturell ästhetisches Spiel ist.

Melanie Bartos [00:42:53] Das heißt, dass eigentlich dieser Bezug auf vergangene Zeiten in Serien, gerne auch auf popkulturelle Phänomene der Vergangenheit eigentlich ist. Wieso ist das, was gut abbildbar ist?

Maren Lickhardt [00:43:13] Sicherlich, weil es, weil die Popkultur sich darin auch selbst reflektiert, weil es ja ein reflexives Verfahren ist, sich auf Pop zu beziehen, wenn man selbst Teil von Pop ist als Serie. Aber auch, weil es auf jeden Fall, weil es unterhaltsam ist. Keine Frage. Es gibt aber natürlich ohnehin auch ganz andere Serien, die das nicht machen und sich nicht auf Popkultur beziehen. Aber die Serien, die das tun, sind ziemlich bekannt und beliebt, weil man eben auch visuell ganz gut mit dieser Ästhetik umgehen kann. Also diese Wrestlerinnen in Glow zu zeigen, in ihren Kostümen. Das ist ja visuell auch irgendwie schön.

Melanie Bartos [00:43:53] Das hab ich gemeint mit dem Abbild.

Maren Lickhardt [00:43:54] Genau. Oder die Drag Queens sind ja wunderschön, die dann zu zeigen, wie sie sich selbst aufmachen für ihre Auftritte oder so... Das heißt, es lässt sich sehr gut personifizieren und visualisieren, und zwar auf eine wirklich schöne Art und Weise. Ich glaube schon, dass man das dann nimmt, aber das ist das Vehikel, um dann auch ernste Themen drauf zu packen. Im Falle von Pose HIV, im Falle von Glow um die Beschränkungen, die die Frauen erleben müssen als Frauen. Mir fällt auf meine Studierenden haben die 80er ja nicht erlebt. Man erschreckt sich ja manchmal darüber, wie alt man geworden ist. Und vielleicht rührt die Faszination auf dieser Seite auch daher, dass das für die wirklich Geschichte und echte Vergangenheit ist. Wobei das für eine andere Generation, für die, die das erlebt haben, ist es noch Teil der eigenen Identität. Aber für die junge Generation unserer Studierenden ist es wirklich Geschichte, die man erst mal lernen muss, die sie so ohne weiteres gar nicht kennen.

Melanie Bartos [00:45:01] Ja, das ist auch ein interessanter Aspekt. Darf man vielleicht auch nicht aus den Augen verlieren, dass das oder zumindest auch wenn man selber jetzt noch relativ jung war, aber dass man halt trotzdem irgendwo nahe bei den Eltern oder sonst irgendwo erlebt hat, wie diese Zeit damals war. Ist ja auch eine gewisse Ästhetisierung der Neunzigerjahre durchaus auch im Gange. Mich würde es interessieren dann konkret in Ihrer Arbeit, diesen Sprung von den 20er Jahren, die in der Hinsicht, wie Sie sagen, Pop hat erst offiziell mit den Fünfzigern dann irgendwie begonnen, hin zu den heute bei bekannten Streaming-Anbietern laufenden Serien. Und sich das anschauen. Wie suchen Sie da immer nach Parallelen oder versuchen Sie zu identifizieren, was kann ich da aus der Vergangenheit in die Gegenwart mitnehmen? Oder wie kann ich mir das vorstellen? Das ist ja ein brutaler Bogen oder ist vielleicht gar nicht so brutal?

Maren Lickhardt [00:46:08] Doch das ist ein brutaler Bogen, und ich suche auch keine Parallelen. Man kann eine Parallele finden, zum Beispiel in der Serie Sex and the City, die sehr, sehr ähnlich konstruiert ist wie einige Romane, die ich aus den 20er Jahren kenne. Das ist aber nur eine zufällige Ähnlichkeit. Das würde ich jetzt nicht wirklich wissenschaftlich miteinander in Verbindung bringen wollen. Und ansonsten ist der Bogen brutal weit, und das sollte auch bleiben. Mein Interesse für Populäre oder Popkultur ist zwar prinzipiell vorhanden, aber das heißt nicht, dass die Phänomene etwas miteinander zu tun haben müssen, wenn ich sie untersuche. Und meine Serien-Forschung ist also, gehört für mich einfach zu einem anderen Forschungsfeld als die 20er Jahre Forschung. Das habe ich so schon abgesteckt und voneinander getrennt. Und das gehört eigentlich überhaupt nicht zusammen, obwohl immer wieder mein Interesse für Populäres und Pop und Popularisierung zum Ausdruck kommt, in all meinen Forschungsfeldern, aber immer auf ganz unterschiedliche Weise liegt es dann in den Artefakten vor, und deshalb vermische das auch nicht.

Melanie Bartos [00:47:24] Dass sozusagen Popkultur eine Erscheinung ihrer Zeit auch irgendwie ist das nicht unbedingt, sich auf schon Vorhandenes oder schon Passiertes beziehen muss, sondern immer aus der Zeit, in der sie gerade ist, entsteht.

Maren Lickhardt [00:47:37] Popkultur ist ein immer sehr gegenwärtiges Phänomen. Sie ist nicht blind für Vorhergegangenes, natürlich nicht. Aber es ist ein Aspekt von Popkultur, dass sie sehr die Gegenwart selbst feiert und dass jene, die Akteurinnen und Akteure der Popkultur in der Gegenwart leben.

Melanie Bartos [00:48:00] Können wir vielleicht auch, wenn Sie sagen, die Serien, die Sie jetzt genannt haben, die haben sie ja eigentlich alle recht positiv bewertet oder die das auch wirklich, wenn ich sie richtig verstanden habe, gut machen. Ich habe gerade auch bei Glow den Großteil selber angeschaut und finde es auch eine sehr gelungene, auf vielen Ebenen gelungene Produktion, so wie viele andere Serien auch, weil ich teile ihre Begeisterung dafür schon durchaus. Gibt es etwas, was sie sagen, das ist auch irgendwo in einer Popkultur einzuordnen, die gesellschaftliche Bilder transportiert, die nicht in der Form sehr positiv sind oder die vielleicht Klischees bedienen oder verstärken oder die vielleicht nicht so gelungen sind, wie die sie jetzt genannt haben? Oder sehen Sie das so in einer Wertung gar nicht?

Maren Lickhardt [00:48:49] Als Wissenschaftlerin werte ich nicht. Das würde ich jetzt nur als Privatperson gibt es ja immer mal wieder etwas, was einen ärgert. Aber das ist auch im Bereich der Literatur, was einem nicht gefällt oder was man weniger gerne liest oder sieht. Als Wissenschaftlerin versuche ich das ohnehin aus der eigenen Logik heraus zu verstehen. Wenn ich begeistert bin über dieses Wrestling-Format, das sind Glow erfunden wurde, dann bin ich schon begeistert von diesem ästhetischen Dreh, der dadurch entsteht, und dem historischen. Ich persönlich interessiere mich nicht für Wrestling, das ist sozusagen schon der Unterschied. Und als Wissenschaftlerin? Und da bin ich, da muss ich vage bleiben, weil ich das nicht systematisch untersucht habe und dann auch als Wissenschaftlerin natürlich auch keine richtig valide Aussage dazu machen kann. Aber was ich merkwürdig finde, ist, dass ein anderes Zeitempfinden transportiert wird durch zum Beispiel Fernsehserien und die Level-Struktur von Fernsehserien oder auch durch Computerspiele. Ach Quatsch. Die Staffel -Struktur von Fernsehserien und die Level-Struktur von Computerspielen. Dieses Gefühl, dass immer alles weitergehen kann und dass alles nur ein Cliffhanger ist und sowieso nie in einer Katastrophe endet oder so, weil die nächste Staffel kommt oder das nächste Level sowieso schon irgendwie starten wird. Das würde ich mir zumindest gerne anschauen. Also, ich kann dazu nichts sagen, nichts Abschließendes. Aber ich halte das zumindest für untersuchungsbedürftig oder für untersuchenswert, welche Vorstellungen von Zeit und von Zyklik oder Linearität oder Endlichkeit und Unendlichkeit sich durch die Staffel-Struktur von Serien oder die Level-Struktur von Computerspielen einstellt.

Melanie Bartos [00:50:48] Sie meinen, auch wirklich konkret die Art und Weise, wie wir diese Dinge mittlerweile konsumieren? Das es eben nicht, was weiß ich, war immer der Dienstag um 20 Uhr 15, da musste ich vor dem Fernseher sitzen, weil einmal in der Woche gab's das, oder überhaupt dieses nicht Abgeschlossene. Und dann hieß es ja oft auch eines für eine Staffel angesetzt. Dann schauen es viele Leute, dann wird gleich schnell mal mit der Produktion der zweiten Staffel begonnen, und es geht dann immer wieder so weiter. Oder bei Breaking Bad war das, glaube ich, auch ein gutes Beispiel, das ja jahrelange Pause gemacht hat und trotzdem den Film, der rausgekommen ist jetzt, schwer erwartet war.

Maren Lickhardt [00:51:32] Ja, und das expandiert ja dann noch in so Franchise-Unternehmen, in so etwas, was Henry Jenkins als Transmedia Storytelling bezeichnet hat. Dass es dann durch verschiedene Formate wandert, so wie sie das beschrieben haben. Erst die Serie, dann der Film, das Computerspiel zum Film, ein weiteres Spin off, eine Zeichentrick-Variante. Das hat man ja bei Star Wars. Also ich kritisiere das nicht. Aber ich frage mich, ob sich dadurch nicht ein anderes Gefühl von Zeit einstellt. Und das ist wirklich eine offene Frage, oder dass das Spielerische jeder Staffel und jedes Levels. Ob das nicht auch zu einer anderen Haltung gegenüber der Weise, wie man Probleme löst, führt oder so, also das frage ich mich, das ist aber eine offene Frage.

Melanie Bartos [00:52:20] Sie meinen jetzt in das alltägliche Leben der Individuen hinein? Ja, das ist spannend. Das habe ich so in der Form noch gar nicht gesehen. Weil Es ist ja wirklich, das ist ja auch das weiß ich von mir selber oder auch im Umfeld oder auch so, wie Sie es schildern, dieser Serien-Charakter oder bei vielen Menschen das Computerspielen. Das ist jetzt nicht irgendein Randphänomen, das mal gelegentlich mal am Samstagnachmittag macht, sondern es ist ja wirklich Teil des Lebens geworden, sozusagen.

Maren Lickhardt [00:53:00] Und ansonsten. Es gibt immer mal wieder etwas kritisch zu sehen im Umgang mit bestimmten Kategorien wie Gender und oder der ethnischen Zusammensetzung von Gruppen oder Ähnliches. Das wird natürlich viel diskutiert und hat sich auch sehr verschoben, und manchmal freut man sich, manchmal ärgert man sich. Das ist eben so. Als Privatperson und als Wissenschaftler, Wissenschaftlerin gilt es natürlich, so etwas immer immer distanziert und auch kritisch mitzuverfolgen.

Melanie Bartos [00:53:36] Ich würde gerne noch ein Thema ansprechen, zum Abschluss sozusagen unseres Gesprächs. Weil es auch die Bandbreite Ihrer Arbeit zeigt. Und zwar arbeiten Sie gerade an einem Sammelband, und zwar beschäftigen Sie sich auch mit Robert Musil, der ja gerade auch in Österreich durchaus eine gewisse Bedeutsamkeit hat. Sagen wir mal so.

Maren Lickhardt [00:54:03] Untertrieben.

Melanie Bartos [00:54:06] Konkret geht es da um den Mann ohne Eigenschaften Was ist da 2020 noch zu erforschen?

Maren Lickhardt [00:54:12] Bald erscheint ein Sammelband von Kollegen aus Wien und mir zum Mann ohne Eigenschaften. Und wir dachten natürlich ist daran viel zu erforschen, aber das war gar nicht unsere Frage, sondern unsere Frage war: Wenn so viel über den Mann ohne Eigenschaften geforscht wird, warum wird er eigentlich so selten gelesen? Und wir haben uns dann erst zu einer Gruppe zusammengetan und uns einmal im Jahr getroffen, um kapitelweise über den Mann ohne Eigenschaften zu sprechen. Und das waren alles Literaturwissenschaftler und Literaturwissenschaftlerinnen. Aber wir haben das erstmal auch als privates Vergnügen empfunden, dass wir das tun und dass wir uns erst mal nicht überlegen, was daraus entstehen soll, außer dass wir uns einmal im Jahr treffen. Und das liegt doch schon einige Jahre zurück, als wir angefangen haben.

Melanie Bartos [00:55:07] Sie haben auch viel Zeit, weil es ist ja recht umfassend. Das ist ja nicht unbedingt eine Kurzgeschichte.

Maren Lickhardt [00:55:11] Wir werden noch in unserer Rente daran sitzen? Wir werden auf jeden Fall und hoffentlich auch noch treffen, wenn wir alle schon Greise sind und Greisinnen. Das hoffe ich sehr. Und jetzt haben wir uns aber oft genug getroffen, dass wir dann dachten, wir möchten jetzt aber auch etwas veröffentlichen daraus. Und wir veröffentlichen jetzt den ersten Band einer Reihe zu Mann ohne Eigenschaften, in dem Essays zu diesem Text versammelt werden, die auch wiederum kapitelweise sind. Das heißt, jeder von uns oder jede von uns hat sich eines oder mehrerer Kapitel angenommen, aber jedes Kapitel streng für sich genommen analysiert, und zwar unter einem frei gewählten Gesichtspunkt, natürlich kennt man den gesamten Roman und kennt sich mit Musil aus, das ist natürlich unerlässlich, aber das hat man schon im Hintergrund. Und trotzdem soll sich die Analyse auf dieses eine Kapitel beschränken. Und außerdem sollte es möglichst leicht geschrieben sein und nicht zu akademisch sein, sodass auch nicht Literatur, Wissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler das möglicherweise lesen können und auch zum Anlass nehmen, überhaupt erst mal den Mann ohne Eigenschaften selbst zu lesen, weil man ihn ja kapitelweise lesen kann. Man hat also manchmal nur zwei oder manchmal acht fantastische Seiten von Robert Musil, und mehr muss man ja am Tag eigentlich auch gar nicht lesen. Und dann haben wir sozusagen gedacht: Wir machen eine Art Begleitreihe, in der wir für jedes einzelne Kapitel noch einen Essay mit einem Kommentar zu diesem Kapitel anbieten.

Melanie Bartos [00:56:52] Wenn sie jetzt so viel, wenn Sie sagen, schon seit Jahren sich schon so viel damit befassen und jetzt auch ein Werk, also einen Sammelband, dazu herausbringen und das offenbar auch mit Kolleginnen und Kollegen von Ihnen ein großes Thema ist. Warum? Warum würden Sie? Warum sollte ich? Weil ich habe, als Sie erwähnt haben, letztes Mal selber überlegt. Ich habe selber, muss ich zugeben, nie das Ganze gelesen. Es war immer wieder angefangen oder zwischendurch mittendrin was gelesen. Weil ich kenne dieses Phänomen, dass man zwei, drei ganz tolle Seiten erwischen kann, so unter Anführungszeichen, das würde ich auf jeden Fall teilen. Warum sollte man das lesen?

Maren Lickhardt [00:57:34] Als Nicht-Wissenschaftlerin würde ich sagen, man sollte es lesen, weil es auch wirklich witzig ist und eigentlich viel unterhaltender, als man denkt, wenn man mal so ein bisschen sich eingelesen hat. Und es wirkt nur wie ein fettes Konvolut. Es ist eigentlich gar nicht so schwer zu lesen, wenn man mal drin ist. Es macht einfach Spaß. Es ist nämlich stilistisch ganz großartig geschrieben und sehr, sehr witzig. Aber als Wissenschaftlerin schätze ich Musil natürlich vor allem aus kulturhistorischen Gründen, weil er so scharf wie kaum jemand sonst die Zeit der Moderne, die frühe Moderne oder die klassische Moderne beschrieben hat. Und er hat den Roman nach dem Ersten Weltkrieg herausgebracht. Er hat Teile davon früh angefangen mal anzudenken und zu schreiben. Er hat ja ein ganzes Leben daran gearbeitet. Aber auf jeden Fall ist der erste das erste Buch des Mann ohne Eigenschaften ist 1932 rausgekommen, also nach dem Ersten Weltkrieg. Der Text spielt aber ein Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, und damit macht er eine Ursachenanalyse oder versucht, Ursachenanalyse zu betreiben. Wie es soweit kommen konnte, und versucht doch, etwas sehr Unfassbares in eine sinnliche Formation zu bringen, indem er es in sehr plastische Figuren, in plastischen Figuren verkörpert und auf eine erzähltechnisch sehr raffinierte Weise mit der Frage nach dem Verlauf der Geschichte umgeht und nach der Frage der Kausalität der Geschichte. Geschichte verläuft zwar kausal, weil eins irgendwie aus dem anderen hervorgeht, aber das heißt eben nicht, dass Geschichte sinnvoll oder motiviert verläuft. Und mit diesem Phänomen ringt Musil auf ganz faszinierende Weise in dem Roman.

Melanie Bartos [00:59:38] Ist das jetzt das, was sich aus ihrer Forschungsarbeit ergeben hat, auch weil wir das zeitliche ungefähr wo unterwegs sind, wo sie historisch in Ihrer Arbeit, also von den Jahren her, ansetzen? Oder ist es auch so was? Waren Sie schon immer Musil-süchtig, so wie Sie schon früh seriensüchtig waren? Oder wie ist das entstanden?

Maren Lickhardt [01:00:01] Also abgesehen von meiner Serien-Sucht ist es so, dass man das, was ich wissenschaftlich analysiere, wenig von dem ausgeht, was mir persönlich gefällt. Das kommt zufällig zusammen bei den Serien oder auch bei Musil oder so. Aber ich erforsche, oder meistens ist es so: diese Begeisterung, die ich jetzt gerade an den Tag lege, die habe ich erst nach meiner Beschäftigung, aber nicht davor. Das heißt ja, der Grund, warum ich mich Dingen zuwende, ist eigentlich nichts Persönliches. Und dass ich am Ende total drin bin, das liegt daran, dass ich mich schon damit beschäftigt habe, dass es umgekehrt - ausser bei den Serien. Und bei Musil ist es so, dass ich tatsächlich sehr viele Seminare an der Uni über die Klassische Moderne und auch österreichische Literatur in der Klassischen Moderne belegt habe und meine Magisterarbeit über Musil geschrieben habe. Und das ist dann erstmal lange in den Hintergrund getreten. Und irgendwann hatten ein Kollege und ich mal die Idee, dass wir gerne uns gründlich mit dem Text beschäftigen möchten. Aber andere machen das auch. Es gibt ja sehr viele Musil-Forscher und Forscherinnen, die sich sehr gründlich mit dem Text beschäftigen. Aber wir wollten das in kleinen Happen machen, und so ist dann als langfristiges Projekt und so ist dann das Format entstanden, von dem wir dann das Gefühl hatten, dass das eigentlich auch für die Öffentlichkeit interessant sein könnte. Und dann haben wir angefangen, das Ganze als Buchreihe zu planen.

Melanie Bartos [01:01:35] Sie haben mir gesagt, Sie begeistern sich oft erst im Nachhinein, durchaus auch mal für ein Thema. Wenn man das Wissen über Thema hat, dann tut man sich vielleicht auch einfach leichter. Aber woher beziehen Sie denn die Motivation oder Faszination für Ihre Arbeit? Weil es ist ja so, wie Sie das schildern, Sie haben ein sehr breites Themenspektrum, natürlich durchaus nachvollziehbar oder sehr interessant, wenn man sich, wenn man sich zum Beispiel Serien aus diesem Gesichtspunkt ansieht. Die Zwanzigerjahre glaube ich auch, also kann ich gut nachvollziehen, wo die Faszination dazu kommt. Trotzdem ist es ja auch, wenn man sich dann in so Themen einarbeiten muss, ja mit großem Aufwand verbunden. Das ist viel Lektüre, das ist auch viel Schauen.

Maren Lickhardt [01:02:28] Nein, die Themen kommen ganz streng eigentlich durch Forschungskontexte. Also auch mein Interesse für Populärkultur ist entstanden in meiner letzten Zeit, als ich noch in Siegen an der Universität war, weil dort die Forschungsstelle Populäre Kulturen gegründet wurde, deren Mitglied ich bis heute bin. Und da kam das Thema gemeinsam auf. Es war nicht meine Idee, sondern das kann man im Nachhinein gar nicht mehr sagen wessen Idee das war. Am ehesten sicherlich die von Thomas Hecken, der nämlich sehr viele Bücher über Popkultur geschrieben hat oder über Pop als Phänomen und der Professor an Siegen ist und mein Kollege war. Und wenn man sich unterhält, dann dann denkt man zusammen, und dann unterhalten sich immer mehr Leute, und dann denkt man über immer mehr Facetten nach, und so ergibt sich das dann. Das heißt, an der Siegener Uni hat sich das so getroffen, dass es sehr viele Personen gab, die plötzlich gemeinsam feststellten, dass sie gemeinsame Interessen haben und dass man da was zusammen machen könnte. Auf jeden Fall war es nicht meine Idee, sozusagen. Ich will bei anderen nicht in Abrede stellen, dass es deren persönliche Idee war. Aber ich empfinde das als im wissenschaftlichen Sinne eigentlich als Kollektivleistung oder auch als etwas, was wirklich im Diskurs mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entsteht. Und was nun diese Forschungsstelle betrifft, so erinnere ich mich daran, dass die Gründungszeit in die Zeit der Kandidatur, der Präsidentschaftskandidatur Donald Trumps fiel. Und diese Forschungsstelle beschäftigt sich ja auch mit Populismus und da sind auch nicht nur Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler Mitglied und das heißt auch, dass die Welt einem durchaus die Themen vorgibt, dass wir unter anderem in einem Klima schon diese Forschungsstelle gestartet haben, in der das Thema der Popularisierung hochschulpolitisch und anderswo gab, in der man konstatieren musste, dass Populismus sehr stark in der Gesellschaft grassiert und auf der anderen Seite die Popkultur blüht. Und aus dieser Trias sozusagen haben wir dann gemeinsam Fragestellungen entwickelt, und jeder hat dann seinen speziellen Hintergrund nochmal aktualisiert, und meiner war dann der der Zwanzigerjahre. Und das wiederum basiert schlicht darauf, dass ich ein Promotionsthema damals gesucht hatte und das sich auch dann wiederum in Mainz angeboten hatte, über die 20er Jahre zu promovieren. Promoviert habe ich in Mainz, weil dort viele Professorinnen und Professoren waren, die ihren Forschungsschwerpunkt wiederum da hatten. Das heißt, es ist schon innersystemisch bedingt, wie man seine Themen findet und wählt.

Melanie Bartos [01:05:20] Und wie der Weg dann verläuft. Die Themen werden Ihnen wahrscheinlich nicht ausgehen, oder? Jetzt haben wir so einige Themen umkreist, die Sie beschäftigen oder beschäftigt haben. Sind die 20er Jahre etwas, wo Sie glauben, dass werden Sie mal abschließen und sich mehr anderen Aspekten zuwenden. Oder gibt es einen Themenbereich, den Sie noch gar nicht so wirklich berühren konnten, mit dem Sie sich total gerne vor den Gesichtspunkten, die wir jetzt geschildert haben, auseinandersetzen würden in einer tieferen Art und Weise?

Maren Lickhardt [01:05:50] Also, ich hadere im Moment ein bisschen mit meinen Forschungsfelder. Denn tatsächlich ist es so, dass ich mit einem Kollegen aus Freiburg zusammen, mit Robert Krause zusammen ein Handbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik herausgebe, das 2021 erscheinen soll. Und ansonsten bin ich noch Mitglied der Forschungsstelle Populäre Kulturen und hoffe, dass wir in den nächsten Jahren noch in einem institutionalisierten Forschungskontext gemeinsam forschen können. Aber ansonsten, also abgesehen von diesen beiden Projekten habe ich für mich die Zwanzigerjahre schweren Herzens abgeschlossen, weil ich ein Habilitationsthema zum zeitgenössischen Schelmenroman habe, das damit auch wiederum wenig zu tun hat, auch wenn es eine populäre Gattung ist. Und ich mich jetzt doch mehr mit diesem ganz neuen Thema beschäftigen muss, würde ich sagen. Da bin ich noch nicht so weit, dass sich da soweit drin bin, dass ich mit Begeisterung drüber sprechen kann. Ich halte das Thema aber für wichtig. Ich glaube, man muss es machen, weil wir hier eine Gattung haben, die gerade boomt und ich zufällig auch im 17. Jahrhundert geforscht habe, wo diese, im 16. und 17. Jahrhundert, wo diese Gattung entstanden ist. Und dann bietet sich das ja an, dass ich das wiederum durch diese beiden, durch diesen Schwerpunkt verklammere und mich dieses Themas annähere. Aber das ist wiederum eine Frage, die, oder eine Aufgabe, die mir das Phänomen eher aufgibt. Und da bin ich auch noch nicht an dem Punkt, an dem ich sagen kann ich bin sehr begeistert davon.

Melanie Bartos [01:07:29] Was die 20er Jahre betrifft, sind Sie noch ein bisschen wehmütig, dass das Forschen daran zumindest im Moment...

Maren Lickhardt [01:07:36] Ja, dass es zumindest in den nächsten fünf bis zehn Jahren auslaufen wird, ja.

Melanie Bartos [01:07:43] Können Sie ganz kurz umreißen, wenn wir den Begriff jetzt schon genannt haben: Schelmenromane - was ist das zum Beispiel?

Maren Lickhardt [01:07:51] Zeitgenössische Schelmenromane zum Beispiel, fällt mir als erstes Michael Köhlmeiers Joel Spazierer ein. Köhlmeier ist ja Österreicher, ein sehr bekannter Autor. Der Text ist auch ein wirklich sehr interessanter Text, der in vielerlei Hinsicht eine politische Relevanz hat. Aber da dieser Text nur Teil eines allgemeinen Booms ist, also Ingo Schulze mit Arno Holz, Lillian Faschinger mit Magdalena Sünderin, Christoph Simon mit Planet Obrist. Wir haben in den letzten zehn, 15 Jahren eine Menge Schelmenromane präsentiert bekommen, möchte ich erstens fragen, woher dieser Boom als Ganzes kommt, und zweitens diese Texte analysieren, die jeweils doch ernste Anliegen haben und auch relevante Anliegen.

Melanie Bartos [01:08:39] Aber da arbeiten Sie sich jetzt ein sozusagen, weil Habilitation ist ja doch ein größerer Umfang.

Maren Lickhardt [01:08:44] Ja, ich bin nicht am Anfang der Habilitation, aber ich bin noch am Anfang meiner eigenen Begeisterung. Sagen wir es mal so... Das schadet nicht.Da ich ein sehr analytischer Mensch bin, ist es auch völlig in Ordnung, dass ich sozusagen Phänomene beobachte und sage, dass ploppt plötzlich auf, und es ist es lohnt sich zu analysieren, warum diese Gattung, die eigentlich aus der frühen Neuzeit kommt, jetzt reaktualisiert wird und mit welchem politischen Impetus das geschieht.

Melanie Bartos [01:09:23] Eine Frage habe ich noch an Sie abschließend, weil ich mir vorstellen könnte, wenn ich mir einige Hörerinnen und Hörer, die üblicherweise Zeit für Wissenschaft hören, so vor Augen halte, dass sie das jetzt wahrscheinlich wissen wollen würden. Welche Serie schauen Sie im Moment? Von mir au, auch aus wissenschaftlichen Gesichtspunkten oder auch zum privaten Vergnügen oder beides?

Maren Lickhardt [01:09:44] Also unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten verfolge ich nach wie vor The Walking Dead, obwohl die Serie mich mittlerweile nervt und ich sehr hoffe, dass sie mal enden möge. Aber ich habe einen Aufsatz über The Walking Dead geschrieben, über tatsächlich die Zeit, Struktur und die Entscheidungsstrukturen in The Walking Dead. Und zwar ist dieser Aufsatz ja schon erschienen und ist insofern abgeschlossen. Aber trotzdem fühle ich mich verpflichtet, das Artefakt bis zum Ende durchzuhalten. Also freuen tue ich mich auf etwas, wofür ich mir sogar eine Countdown App aufs Handy geladen habe. In neun Tagen, neun Stunden und 20 Minuten und gleich, und zwar genau jetzt 20 Sekunden startet auf Netflix die Star Trek Serie Picard. Darauf warte ich als Trekkie sehnsüchtig. Ansonsten finde ich, da hab ich mit einem Kollegen neulich drüber gesprochen, und deswegen fällt es mir jetzt ad hoc ein, dass Bloodline eine Netflix-Serie ist, die gar nicht so heiß diskutiert wurde, die ja eigentlich auch unter politischen Gesichtspunkten, wenn man sich auch für die amerikanische Kultur in einer durchaus in ihrer problematischen Variante interessiert, finde ich Bloodline eigentlich sehr interessant.

Melanie Bartos [01:11:10] Sehr schön. Dann freuen wir uns auf in neun Tagen. Und ich danke Ihnen ganz herzlich für das tolle Gespräch, hat mir sehr viel Freude gemacht und mir, nachdem Sie ja jetzt auch wieder ein interessantes Thema aufarbeiten, wird sich ja vielleicht wieder mal die Gelegenheit finden, dass wir darüber miteinander sprechen. Für heute sage ich vielen herzlichen Dank für das Gespräch.

Maren Lickhardt [01:11:35] Ich danke Ihnen, vielen Dank.