Grammophon
Popkultur unter anderem in Musik und Literatur fand in Deutschland in den 1920ern einen ersten Höhepunkt.

Die „Edel-Punks“ im Berlin der 20er

Die Literatur- und Medienwissenschaftlerin Maren Lickhardt beschäftigt sich mit der ersten Welle der Pop-Kultur: Die gab es im deutschsprachigen Raum bereits in den 1920ern.

Die „Goldenen Zwanziger“: Jazz, Shimmy-Tanz, kurze Röcke und Bubikopf prägen das Bild dieses Jahrzehnts nach dem Ersten Weltkrieg, wie es uns unter anderem in der Erfolgsserie „Babylon Berlin“ begegnet. Diesem gefühlten Aufbruch in den 1920ern und konkret der Pop-Kultur widmet sich Ass.-Prof. Dr. Maren Lickhardt vom Institut für Germanistik: „Nach dem ersten Weltkrieg finden wir in Deutschland und Österreich ein völlig neues Gesellschaftssystem vor. Beide Länder wurden Republiken – die bisher ständisch organisierte Gesellschaft wurde abgeschafft“, umreißt sie die Ausgangslage. Dieser Zusammenbruch brachte auch eine gewissen Orientierungslosigkeit mit sich: „Die alten Gewissheiten, zum Beispiel die, einem bestimmten Stand anzugehören, gingen in der neuen, als gleich-gültig wahrgenommenen Massengesellschaft verloren. Wo gehöre ich hin, wie definiere ich mich, wie grenze ich mich in dieser neuen Ordnung ab – und wogegen? Diese Fragen waren plötzlich relevant.“

Pop-Jahrzehnt

Natürlich gab es in den 1920ern keine Punks – aber das, was Punk ausmacht, entsteht im deutschsprachigen Raum in den 1920ern, nämlich eine breite Pop-Kultur, erklärt Maren Lickhardt: „Pop-Kultur ist ein globales, schichtenübergreifendes, frei gewähltes, ästhetisch codiertes – also: mit Kleidung, Auftreten, Musik, Literatur verbundenes – und von modernen Massenmedien getragenes Phänomen. Am Beispiel Punk: Jeder kann Punk sein, unabhängig von seiner Herkunft, und auch die politische Einstellung ist nicht primär, und wie jede andere Pop-Kultur besteht Punk aus einem Verbund aus Musik, Frisur, Kleidung und weiterer Stilmerkmale.“ Die Pop-Kultur der 1920er definiert sich ebenfalls über Stilelemente: Man hört Jazz, trägt als Frau die Haare kurz, liest eine bestimmte Form der Literatur – und Berlin ist das Zentrum dieses deutschsprachigen Pop. „Pop-Literatur verbinden wir heute meistens mit den 1960ern, aber schon dreißig Jahre davor sind in der Literatur Pop-Elemente vorhanden – eben zum Beispiel der Bezug auf die Pop-Kultur. Die Romane erwähnen zeitgenössische Medien explizit, und die Leserinnen und Leser der Romane kennen die Autorinnen und Autoren auch aus diesen Magazinen. Die Romane beschreiben Lifestyle-Formen und Konsumpraktiken ihrer Zielgruppe – der jungen urbanen Generation der Zeit.“

Das erste It-Girl

Leitmedien der jungen Generation aus der Zeit sind die Zeitschriften „Die Dame“ und der „Uhu“, in ihnen publizieren Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die teilweise zugleich als „Stars“ in den Klatsch- und Gesellschaftsberichten vorkommen und die größtenteils in Berlin leben. „Ein gutes Beispiel für eine Künstlerin, die die Medien zur Selbstinszenierung nutzt, ist Ruth Landshoff-Yorck. Sie ist in den 1920ern und frühen 1930ern das It-Girl schlechthin, gilt als modisches Vorbild, inszeniert sich auch in Bildern als erotische Bohemienne. Das geht sogar soweit, dass zumindest eine Homestory mit ihr in einer Illustrierten erscheint“, sagt Maren Lickhardt. Zugleich war Landshoff-Yorck erfolgreiche Feuilletonistin, unter anderem für „Die Dame“, und Schriftstellerin – ihr erster Roman „Die Vielen und der Eine“ erschien 1930, in dem sie im Grund ihren eigenen Lifestyle literarisiert.

Ein weiteres Beispiel für eine Literatin der Pop-Kultur der 1920er ist Vicki Baum: „Baum war ein Shooting-Star, ihre Bücher schafften es sogar in die Bestsellerlisten in den USA und ihr Roman ‚Menschen im Hotel‘ wurde später mit Greta Garbo verfilmt. Ihre Charaktere und Bücher passen perfekt in das Bild des Pops der 20er, sie selbst war nicht ganz so glamourös, wurde aber in PR-Strategien des Verlages so vermarktet, als sei sie das reale Pendant ihrer Figuren.“ Dieser Verlag, der Ullstein-Verlag, nutzte seinen Einfluss auch crossmedial: In den Büchern wurden die Zeitschriften des Verlags erwähnt, in den Zeitschriften Baums Bücher beworben. Und sogar heute wieder aus Online-Artikeln bekannte Listen mit Tipps spielten in den 1920ern und frühen 1930ern eine Rolle: Klaus und Erika Mann lieferten in „Das Buch von der Riviera“ aus 1931 Listen, welche Orte man als Eingeweihter besucht haben musste und wo es die Kleidung ebenfalls namentlich erwähnter Designer zu kaufen gab. „Markennamen spielten generell eine große Rolle, weil auch die Verwendung bestimmter Marken die Zugehörigkeit zu dieser In-Group signalisierte: So lesen sich Passagen aus Irmgard Keuns ‚Das kunstseidene Mädchen‘ wie ein Blättern durch eine Ausgabe der ‚Dame‘. Sie erwähnt die Puder von Hudnut und Houbigant, die ihre Leserinnen aus ganzseitigen Inseraten in der ‚Dame‘ kennen mussten.“

Vertreibung und Ermordung

Durch die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten findet der Pop in Deutschland ein jähes und brutales Ende: Autorinnen und Autoren des Pop und ihre Anhängerinnen und Anhänger gehörten zur ästhetischen Avantgarde, libertäre Geister, teilweise Juden. Einige, z.B. Walter Serner und Lili Grün, wurden in Konzentrationslagern ermordet oder aus dem Land vertrieben, ihre Bücher verbrannt. „Das Phänomen Pop setzt Freiheit und Demokratie voraus, weil man nur so seine eigenen Konturen setzen und Zugehörigkeiten definieren kann. Man kann selbst entscheiden, dazuzugehören, oder eben nicht“, sagt Maren Lickhardt. „Der Beitrag dieser Autorinnen und Autoren zur Kultur der 1920er ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. An diese Kultur konnten Deutschland und Österreich erst ab den 1960ern wieder langsam anknüpfen. Ein gängiger Eindruck ist, dass die Pop-Literatur der 1960er aus dem Nichts – oder zumindest aus Amerika – zu kommen schien. Das ist falsch: Das gab es in den 1920ern in Deutschland schon.“ Wer sich detaillierter für dieses Kapitel deutschsprachiger Kulturgeschichte interessiert: Maren Lickhardts Buch „Pop in den 20er Jahren“ ist im Universitätsverlag Winter, Heidelberg, erschienen.

Dieser Artikel ist im Magazin „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version ist hier zu finden (PDF).

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