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Krimikritik im Ungleichgewicht

Zur Sichtbarkeit von Krimiautorinnen und Krimikritikerinnen im deutschsprachigen Feuilleton. Von Kirsten Reimers

 

Ende Oktober/Anfang November 2019 sorgte das Krimi-Spezial der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Schwarze Serie“ in den sozialen Medien für Empörung: Von zehn Beiträgen beschäftigten sich acht ausschließlich mit Kriminalromanen von Autoren, rezensiert ausschließlich von männlichen Kritikern. Lediglich in einer Sammelbesprechung – wiederum von einem Kritiker – stammte eines von drei Büchern von einer Autorin. Lediglich ein Beitrag, ein Überblicksartikel zum Krimi als Literatur der Krise, war von einer Frau verfasst, einer Krimiautorin.[1] Männer schreiben über Männer, Frauen tauchen als Autorinnen und Kritikerinnen lediglich am Rande auf. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam die Pilotstudie Zur Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb aus dem Jahr 2018 für die aktuelle Literaturkritik insgesamt: Die ausgewerteten Kritiken wurden im Verhältnis von 4 zu 3 von Männern verfasst; darüber hinaus schreiben Männer vor allem über Männer, so die Studie: „Drei Viertel aller von Männern besprochenen Werke sind von Autoren verfasst worden. Frauen dagegen besprechen Autorinnen wie Autoren tendenziell in eher ähnlichen Häufigkeit.“[2] Besonders eklatant waren die Ergebnisse der Pilotstudie für Besprechungen von Kriminalromanen: „Nicht nur, dass mit 76 Prozent mehr Autoren als Autorinnen vorgestellt werden; es rezensierten zudem 82 Prozent Männer am liebsten Männer in diesem Genre.“ Für die Pilotstudie wurden 2.036 Rezensionen aus 69 deutschen Medien vom 1. bis 31. März 2018 ausgewertet. War das Ergebnis nur eine Folge des kurzen Zeitraumes?

Um dieser Frage nachzugehen, wurden für die Studie Sichtbar unsichtbar. Krimiautorinnen und Krimikritikerinnen im deutschsprachigen Feuilleton (Print) und bei genrespezifischen Preisen [3] unter Rückgriff auf die Datenbestände des Innsbrucker Zeitungsarchivs (IZA) Beiträge[4] aus den Jahren 2015, 2016 und 2018 aus siebzehn überregionalen Tageszeitungen, Wochenzeitungen und Magazinen aus dem deutschsprachigen Raum ausgewertet.[5] Die Zeitschnitte orientieren sich aus pragmatischen Gründen an den Berichtsjahren, für die auch Jahresstatistiken des Innsbrucker Zeitungsarchivs vorliegen.[6] Für allfällige Vergleiche ist allerdings zu beachten, dass zum einen die zugrundeliegenden Korpora in Hinblick auf die Anzahl der berücksichtigten Zeitungstitel voneinander abweichen und zum anderen im vorliegenden Fall eine andere Zählweise bzw. ein anderes Konzept von „Besprechung“ angewendet wurde als in der IZA-Reihe Literaturkritik in Zahlen (s. u.).[7]

Oft wird im Zusammenhang mit Zahlen zu Krimibesprechungen gefragt, in welchem Verhältnis Kriminalromane von Autorinnen und Autoren erscheinen. Dies ist jedoch für die Auswertung von Kritiken unerheblich. Zum einen bildet Kritik, auch Genrekritik, nicht den Markt ab, sondern wählt nach bestimmten Kriterien die zu besprechenden Bücher aus. Zum anderen ist die Menge der jährlich erscheinenden Kriminalromane so hoch – im Jahr 2017 wurden zum Beispiel 3.450 Spannungsromane allein als Printausgaben veröffentlicht –, dass Kritiker*innen nicht einmal 10 Prozent des Angebots lesen können (das entspräche ungefähr sieben Romane pro Woche, einem pro Tag).[8] Was gelesen wird, ist also ein Bruchteil des Angebots, der bewusst ausgewählt wurde nach persönlichen Kriterien der Kritiker*innen.[9]

 

Wer bespricht wen?

Da es in der Studie wie auch in diesem Artikel in erster Linie um die Sichtbarkeit von Autorinnen und Kritikerinnen geht, wurde nicht einfach die Zahl der Beiträge insgesamt ausgewertet, die im Auswertungsjahr erschienen sind, sondern es wurde analysiert, wie oft und in welchem Umfang Autor*innen von Kritiker*innen besprochen wurden.[10] Das bedeutet konkret: Werden in einer Sammelbesprechung drei Autor*innen besprochen, wird je einzeln analysiert, mit wie vielen Worte jede*r Autor*in rezensiert wurde. Hat also Kritikerin X in ihrer Kolumne Autorin A, Autor B und Autorin C besprochen, fließt in die Auswertung ein: Kritikerin X zu Autorin A mit soundso viel Worten; Kritikerin X zu Autor B mit soundso viel Worten; Kritikerin X zu Autorin C mit soundso viel Worten; aus einem Beitrag werden so drei Besprechungen von Autor*innen.[11]

Auf diese Weise wurden für 2015 insgesamt 365 Besprechungen, für 2016 insgesamt 361 Besprechungen und für 2018 insgesamt 386 Besprechungen analysiert (vgl. Tabelle 1)[12] und unter folgenden Gesichtspunkten ausgewertet: Geschlecht der Rezensierenden (im Folgenden Kritikerin/Kritiker), Geschlecht der Bücherschreibenden (im Folgenden Autorin/Autor), Original-/Lizenztitel, aus welcher Sprache der Lizenztitel übersetzt wurde, Herkunftsland von Autorin/Autor, Länge der Besprechung in Wörtern.[13]

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Tabelle 1: Gesamtanzahl der Besprechungen

 

Im Mittel stammten in den ausgewerteten deutschsprachigen Feuilletons 22 Prozent der besprochenen Bücher von Autorinnen und 78 Prozent von Autoren. Nicht einmal ein Viertel der Kriminalromane, die im deutschsprachigen Feuilleton besprochen werden, ist also von Autorinnen verfasst (vgl. Grafik 1).

 

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Grafik 1: Alle ausgewerteten Besprechungen

 

Im Laufe der Jahre steigen die Besprechungen zu Kriminalromanen insgesamt ein wenig an (insgesamt um 6 Prozentpunkte), und zwar sowohl zu Büchern von Autorinnen (um 5 Prozentpunkte) wie Autoren (um 7 Prozentpunkte, vgl. Grafik 2).

 

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Grafik 2: Besprechungen zu Autorinnen und Autoren

 

Die Zahl der Kritikerinnen und Kritiker hingegen geht im gleichen Zeitraum zurück: Schrieben 2015 noch 47 Kritikerinnen für die verschiedenen Medien, sind es 2018 nur noch 40; bei den Kritikern ist ein Rückgang von 72 auf 67 zu verzeichnen (vgl. Tabelle 2 und Grafik 3).

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Tabelle 2: Anzahl der Kritikerinnen und Kritiker

 

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Grafik 3: Anzahl der Kritikerinnen und Kritiker

 

Differenziert man die Besprechungen dahingehend aus, wer über wen schreibt, ergibt sich eine Ungleichheit, die deutlich stärker ausfällt als in der Pilotstudie von 2018: Im Mittel besprechen Kritikerinnen zu 32 Prozent Bücher von Autorinnen und zu 68 Prozent Bücher von Autoren; während Kritiker zu 17 Prozent Bücher von Autorinnen und zu 83 Prozent Bücher von Autoren besprechen (vgl. Tabelle 1 und Grafik 4).

 

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Grafik 4: Prozentuale Anteile: Besprochene Autorinnen und Autoren durch Kritikerinnen und Kritiker 

 

Insgesamt lässt sich ein leichter Anstieg der Besprechungen zu Autorinnen durch Kritiker verzeichnen, allerdings fällt der Anstieg der Besprechungen zu Autoren durch Kritiker noch größer aus, während die Zahl der Besprechungen durch Kritikerinnen zu Autorinnen und Autoren zurückgeht (vgl. Grafik 5 und Grafik 6).

 

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Grafik 5: Besprechungen von Büchern von Autorinnen

 

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Grafik 6: Besprechungen von Büchern von Autoren

 

Originaltitel und Lizenzen

Oft wird behauptet, im deutschsprachigen Feuilleton werden in erster Linie Kriminalromane (Übersetzungen/Lizenztitel) aus dem englischsprachigen Raum besprochen. Ist an dieser Behauptung etwas dran?

Zunächst lässt sich feststellen, dass in der Tat deutlich mehr Lizenztitel als Originaltitel besprochen werden (vgl. Tabelle 3, Grafik 7, Grafik 8) und dass die Anzahl der Besprechungen zu Lizenztiteln von 2015 bis 2018 sowohl total wie auch prozentual ansteigt (Besprechungen im Mittel: 35 Prozent der Besprechungen sind zu Originaltiteln, 65 Prozent der Besprechungen zu Lizenztiteln).

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Tabelle 3: Besprechungen von Original- und Lizenztiteln

 

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Grafik 7: Besprechungen von Original- und Lizenztiteln

 

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Grafik 8: Besprochene Original- und Lizenztitel im Verhältnis zueinander

 

Differenziert man diese Daten wiederum nach Besprechungen zu Autorinnen und Autoren aus, zeigt sich, dass Originaltitel von Autorinnen am seltensten besprochen werden, im Mittel machen diese Besprechungen 9 Prozent aus. Besprechungen zu Lizenztiteln von Autorinnen machen 13 Prozent aller Besprechungen aus. Besprechungen zu Originaltiteln von Autoren machen rund ein Viertel aller Besprechungen aus (26 Prozent), während der Löwenanteil Besprechungen zu Lizenztiteln von Männern sind (52 Prozent, vgl. Tabelle 4 und Grafik 9).

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Tabelle 4: Besprechungen zu Original- und Lizenztiteln von Autorinnen und Autoren

 

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Grafik 9: Besprechungen von Original- und Lizenztiteln von Autorinnen und Autoren (Mittelwerte in Prozent 2015, 2016 und 2018)

 

Insgesamt gehen die Besprechungen zu Originaltiteln von Autorinnen zwischen 2015 bis 2018 etwas zurück, während jene zu Lizenztiteln von Autorinnen im gleichen Zeitraum etwas ansteigen. Das gleiche Bild zeigt sich bei Büchern von Autoren: Während die Besprechungen zu Originaltiteln weniger werden, steigt die Anzahl jener zu Lizenztiteln (vgl. Grafik 10).

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Grafik 10: Besprechungen zu Original- und Lizenztiteln

 

Auch bei den Besprechungen zu Original- und Lizenztiteln zeigt sich die oben schon erkannte Verteilung (vgl. Tabelle 5): Kritiker besprechen in erster Linie Lizenztitel von Autoren (im Mittel 59 Prozent), während Originaltitel von Autorinnen kaum Beachtung finden (im Mittel 6 Prozent, vgl. Grafik 11). Kritikerinnen besprechen zwar im Mittel etwas mehr Originaltitel von Autorinnen (14 Prozent), doch konzentrieren auch sie sich auf Lizenztitel von Autoren (41 Prozent, vgl. Grafik 12).

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Tabelle 5: Besprechungen von Original- und Lizenztitel von Autorinnen und Autoren durch Kritikerinnen und Kritiker

 

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Grafik 11: Besprechungen von Original- und Lizenztiteln von Autorinnen und Autoren durch Kritiker (prozentual im Mittel 2015–2018)

 

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Grafik 12: Besprechungen von Original- und Lizenztiteln von Autorinnen und Autoren durch Kritikerinnen (prozentual im Mittel 2015, 2016 und 2018)

 

Es lassen sich deutliche Entwicklungen der Besprechungen im Zeitraum von 2015 bis 2018 erkennen: Während Kritiker etwas mehr Lizenztitel von Autoren besprechen, bleibt die Anzahl der Besprechungen zu Original- wie Lizenztiteln von Autorinnen nahezu identisch. Besprechungen zu Originaltiteln von Autoren werden hingegen weniger (vgl. Grafik 13).


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Grafik 13: Besprechungen durch Kritiker

 

Im gleichen Zeitraum besprechen Kritikerinnen weniger Originaltitel von Autorinnen wie von Autoren, die Anzahl der besprochenen Lizenztitel von Autoren bleibt nahezu identisch, lediglich die Besprechungen zu Lizenztiteln von Autorinnen steigen an (vgl. Grafik 14).

 

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Grafik 14: Besprechungen durch Kritikerinnen

 

Sprachverteilung

Unter den Sprachen, aus denen die Lizenztitel übersetzt werden, dominiert Englisch eindeutig (vgl. Tabelle 6 und Grafik 15): Im Zeitraum 2015–2018 waren 77 Prozent aller besprochener Lizenztitel Kriminalromane, die aus dem Englischen übersetzt worden waren (vgl. Grafik 16).

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Tabelle 6: Häufigste Sprachen

 

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Grafik 15: Besprochene Lizenztitel nach Sprache

 

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Grafik 16: Am häufigsten vertretene Sprachen unter übersetzten Lizenztiteln 2015, 2016 und 2018 (im Mittel und im Verhältnis zueinander)

 

Besprechungen zu Lizenztiteln aus dem Englischen machen aber nicht nur den größten Teil unter jenen zu Lizenztiteln aus, sie umfassen auch fast die Hälfte sämtlicher Besprechungen: Im Durchschnitt machten Besprechungen zu Krimis aus dem Englischen 45 Prozent aller Krimibesprechungen im deutschsprachigen Feuilleton aus (vgl. Grafik 17).

 

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Grafik 17: Besprechungen zu Übersetzungen aus dem Englischen im Vergleich zur Gesamtzahl der Besprechungen 2015–2018

 

Differenziert man die englischsprachigen Lizenztitel nach Herkunftsland der Autorinnen und Autoren aus, zeigt sich, dass es eine nicht überraschende Dominanz des angloamerikanischen Raums gibt (vgl. Tabelle 7 und Grafik 18).

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Tabelle 7: Besprechungen englischsprachiger Titel nach Herkunftsland von Autorinnen und Autoren[14]

 

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Grafik 18: Besprechungen englischsprachiger Titel nach Herkunftsland von Autorinnen und Autoren

 

Das ist zunächst nicht weiter überraschend. Erstaunlich wird es jedoch, wenn man diese Zahlen nach dem Geschlecht der Schreibenden ausdifferenziert (vgl. Tabelle 8). Es zeigt sich, dass von den Autorinnen vor allem jene aus Großbritannien und Irland besprochen werden, während bei den Autoren jene aus den USA dominieren (vgl. Grafik 19).

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Tabelle 8: Besprechungen englischsprachiger Titel nach Herkunftsland von Autorinnen und Autoren

 

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Grafik 19: Besprechungen englischsprachiger Titel nach Herkunftsland von Autorinnen und Autoren

 

Länge der Besprechungen

Im Mittel umfassten Besprechungen zu Kriminalromanen im Jahr 2015 Ø 416 Wörter, 2016 Ø 371 Wörter, 2018 Ø 383 Wörter. Die mittlere Länge nahm also leicht ab. Differenziert man dies nach Besprechungen zu Autorinnen und Autoren aus, zeigt sich, dass die mittlere Länge der Besprechungen zu Autorinnen wie Autoren 2015 und 2016 nahezu ausgeglichen war. 2018 jedoch fallen die Besprechungen zu Autorinnen im Mittel deutlich kürzer aus, nämlich um annähernd 100 Wörter: Durchschnittlich 309 Wörter lange Besprechungen über Autorinnen stehen 403 Wörter lange Besprechungen über Autoren gegenüber (vgl. Tabelle 9 und Grafik 20).

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Tabelle 9: Umfänge (in Wörtern) der Besprechungen zu Autorinnen und Autoren insgesamt

 

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Grafik 20: Mittlere Wortlänge von Besprechungen zu Autorinnen und Autoren

 

Differenziert man die Besprechungen nach Länge aus, zeigt sich, dass insgesamt gesehen die meisten Besprechungen zwischen 100 und 1.000 Wörter lang sind. Über die Jahre betrachtet, sind insbesondere Besprechungen mit einer Länge von 251–500 Wörtern mehr geworden, während jene mit einer Länge von 501–1.000 Wörter zurückgegangen sind (vgl. Tabelle 10 und Grafik 21).

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Tabelle 10: Umfänge von Besprechungen

 

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Grafik 21: Entwicklung der Umfänge 2015–2018

 

Wird dies wiederum ausdifferenziert nach Besprechungen zu Autorinnen und Autoren, dann zeigt sich, dass die kurzen Besprechungen zu Autorinnen um 100 Prozent ansteigen (von 9 Besprechungen 2015 auf 18 Besprechungen 2018), während diejenigen zwischen 501–1.000 Wörtern um rund ein Drittel zurückgehen (von 27 Besprechungen 2015 auf 18 Besprechungen 2018). Vergleicht man die Anzahl der Besprechungen über 1.000 Wörter, zeigt sich ein deutliches Missverhältnis: Während es zum Beispiel im Jahr 2015 noch drei Besprechungen mit über 1.000 Wörtern zu Autorinnen gab, erschienen im gleichen Jahr 14 zu Autoren. 2016 und 2018 gab es keinerlei Besprechungen zu Autorinnen, die länger als 1.000 Wörter waren. Insgesamt sind die Besprechungen mit 251–500 Wörtern zu Autoren im Laufe der letzten Jahre deutlich angestiegen (von 58 Besprechungen 2015 auf 93 Besprechungen 2018), während jene mit 501–1.000 Wörtern zu Autoren etwas weniger geworden sind (von 96 Besprechungen 2015 auf 80 Besprechungen 2018, vgl. Tabelle 11 und Grafik 22).

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Tabelle 11: Umfänge der Besprechungen zu Autorinnen und Autoren (Anzahl der Besprechungen)

 

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Grafik 22: Entwicklung: Umfänge der Besprechungen zu Autorinnen und Autoren (Anzahl der Besprechungen)

 

Betrachtet man die Besprechungen von Kritikerinnen und Kritikern hinsichtlich ihrer Länge (in Wörtern), dann wird offensichtlich, dass Kritikerinnen im Mittel deutlich kürzere Besprechungen veröffentlichen als Kritiker: Im Durchschnitt umfassen ihre Besprechungen 100 Wörter weniger als die ihrer männlichen Kollegen (vgl. Tabelle 12). Im Vergleich zu 2015 sind im Jahr die Besprechungen von Kritikerinnen im Durchschnitt 18 Prozent kürzer, jene von Kritikern im Schnitt 6,7 Prozent kürzer.

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Tabelle 12: Umfänge (in Wörtern) der Besprechungen von Kritikerinnen und Kritikern insgesamt

 

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Grafik 23: Umfänge (in Wörtern) der Besprechungen von Kritikerinnen und Kritikern insgesamt

 

Differenziert man dies weiter aus, zeigt sich, dass bei sehr kurzen (70–100 Wörter) und bei kurzen Besprechungen (101–250 Wörter) die Verhältnisse zwischen Kritikerinnen und Kritikern weitgehen ausgeglichen sind. Erst ab einer Länge von 251 Wörtern beginnt das Ungleichgewicht: Kritiker schreiben signifikant häufiger Besprechungen mit mehr als 251 Wörtern als Kritikerinnen (vgl. Tabelle 13 und Grafik 24).

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Tabelle 13: Umfänge der Besprechungen von Kritikerinnen und Kritikern (Anzahl der Besprechungen)

 

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Grafik 24: Umfänge der Besprechungen von Kritikerinnen und Kritikern (Anzahl der Besprechungen)

 

Zusammenfassung der Ergebnisse

Im deutschsprachigen Feuilleton stammten im Untersuchungszeitraum die besprochenen Kriminalromane zu 78 Prozent von Autoren, lediglich 22 Prozent wurden von Autorinnen verfasst. Auch für das Krimigenre gilt: Männer besprechen Männer. Nur 17 Prozent und damit nicht einmal jedes sechste Buch, das von Krimikritikern besprochen wird, wurde von einer Autorin verfasst.

Neigen in der Belletristikkritik insgesamt Kritikerinnen zu einem eher ausgeglichenen Verhältnis, was die Besprechungen von Bücher von Frauen und von Männern angeht, so gilt dies nicht für die Krimikritik: Auch Kritikerinnen besprechen zu 68 Prozent Kriminalromane von Männern.

Der Eindruck, dass vor allem fremdsprachige Kriminalromane, und vor allem solche aus dem anglo-amerikanischen Raum besprochen werden, bewahrheitet sich: Im Durchschnitt betreffen 65 Prozent aller Besprechungen Lizenztitel, 45 Prozent aller Besprechungen beziehen sich auf Übersetzungen aus dem Englischen.

Es gibt bei den Besprechungen eine klare Hierarchie in der Krimikritik: Am seltensten werden Originaltitel von Autorinnen besprochen (9 Prozent), etwas häufiger sind Besprechungen zu Lizenztitel von Autorinnen (13 Prozent). Besprechungen von Originaltiteln von Autoren machen 26 Prozent aller Besprechungen aus (mehr als die Besprechungen zu Original- und Lizenztitel von Autorinnen zusammengenommen); und den weitaus größten Teil machen Besprechungen der Lizenztitel von Autoren aus: 52 Prozent.

Im Mittel waren die Besprechungen zu Kriminalromanen von Autorinnen und Autoren in den Jahren 2015 und 2016 gleich lang; für 2018 tut sich jedoch eine deutliche Kluft auf: Im Durchschnitt sind in jenem Jahr die Besprechungen zu Krimis von Autoren 100 Wörter länger als jene zu Autorinnen.

Kritikerinnen schreiben im Durchschnitt Besprechungen, die 100 Wörter kürzer sind als jene von Kritikern. Im Verlauf von 2015 bis 2018 sind zwar im Durchschnitt alle Besprechungen kürzer geworden, jene von Kritikerinnen jedoch in einem deutlicheren Maße als jene von Kritikern.

Im Grunde sind dies keine erstaunlichen Zahlen. Sie bestätigen, was schon längst vermutet wurde. Traurig ist es dennoch, dass sich tatsächlich jedes Klischee über die Krimikritik mit Zahlen belegen lässt.

 

Kirsten Reimers, 13.03.2020

 Zur vollständigen Studie Sichtbar unsichtbar.

 


[1] Vgl. Süddeutsche Zeitung, Nr. 252 vom 31.10/1.11.2019, S. 19-22.

[2] Zur Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb, hrsg. von Janet Clark, Carlos Collado Seidel, Nina George, Valeska Henze, Kirsten Reimers mit Unterstützung von Elizabeth Prommer. Institut für Medienforschung der Universität Rostock, 1.10.2018, S. 4. URL: http://frauenzählen.de/studie_downloads.html.

[3] Diese Studie konnte erstellt werden dank der finanziellen Unterstützung durch die Mörderischen Schwestern e. V. und des Syndikat e. V. – Verein zur Förderung deutschsprachiger Kriminalliteratur sowie dank der Bereitstellung der Materialgrundlage durch das Innsbrucker Zeitungsarchiv.

[4] Dabei handelt es sich um Beiträge, die in der Datenbank des Innsbrucker Zeitungsarchivs in der Kategorie „Besprechung“, d. h. als Rezensionen erfasst sind. Interviews oder Porträtartikel wurden nicht erfasst.

[5] Dabei handelt es sich um folgende Publikationen: Deutschland: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Neues Deutschland, Süddeutsche Zeitung, taz. die tageszeitung, Die Welt, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Die Zeit, Der Freitag, Der Spiegel(inkl. Literatur-Spiegel); Österreich: Der Standard, Die Presse, Die Presse am Sonntag, Falter; Schweiz: Neue Zürcher Zeitung, Tages-Anzeiger, Die Weltwoche, WochenZeitung. – Eine Zusammenstellung der Zeitungsartikel für die Jahre 2015, 2016 und 2018 inklusive Daten zu Medium, Kritiker*in, Autor*in und Länge der Beiträge wurde vom IZA bereitgestellt.

[6] Vgl. Literaturkritik in Zahlen. Die im November 2020 veröffentlichte Jahresstatistik des IZA für 2019 lag zum Bearbeitungszeitpunkt der vorliegenden Studie noch nicht vor.

[7] Die Reihe Literaturkritik in Zahlen wertet für das Berichtsjahr 2015 zwanzig Zeitungstitel, für das Berichtsjahr 2016 einundzwanzig Zeitungstitel und ab Berichtsjahr 2018 fünfundzwanzig Zeitungstitel aus. Da sowohl die Frankfurter Rundschau als auch Der Tagesspiegel und die NZZ am Sonntag dort nicht von Beginn an berücksichtigt wurden, blieben sie auch von der vorliegenden Untersuchung ausgeschlossen. Dagegen wurden die in der IZA-Statistik von Beginn an ausgewerteten Blätter Die Furche und Profil (beide aus Österreich) sowie Die Welt am Sonntag hier nicht mit ausgezählt.

[8] Selbst wenn man berücksichtig, dass Kritiker*innen zahlreiche Romane nicht vollständig lesen, sondern nur kurz prüfen, ob sich die Lektüre unter literaturkritischen Aspekten lohnt, ist es ihnen dennoch nicht möglich, alle Neuerscheinungen zu prüfen.

[9] Erstaunlicherweise wird nie gefragt, in welchem Verhältnis Original- und Lizenztitel auf dem Markt vertreten sind, wenn die Dominanz angloamerikanischer Kriminalromane im Feuilleton bemängelt wird. Lediglich bei Geschlechterverhältnissen scheint diese Frage für Kritiker des Auszählens von Literaturkritiken relevant zu sein.

[10] Die Studie und dieser Beitrag bleiben bei der binären Einteilung in Frau und Mann – nicht weil andere Geschlechterkategorien geleugnet werden sollen, sondern weil es keine Daten zur Geschlechtszugehörigkeit der erfassten Autor*innen, Kritiker*innen und Juror*innen gibt, die über die binäre Zuordnung hinausgehen; die Geschlechterzuordnungen sind somit als Annäherung zu verstehen.

[11] Der Begriff „Besprechung“ wird im Folgenden mithin anders gebraucht, als etwa in den Jahresstatistiken des IZA, wo er sich jeweils auf die erfassten Zeitungsartikel bzw. Texte als Ganzes und deren Wortanzahl bezieht, so dass dort eine Kritik, die drei Bücher behandelt, auch nur als eine Besprechung bzw. Rezension gezählt wird.

[12] Besprechungen, die kürzer als 70 Wörter sind, wurden nicht berücksichtigt, um zu gewährleisten, dass nur Besprechungen, die ein Mindestmaß an kritischer Auseinandersetzung mit dem Text leisten, in die Analyse einfließen.

[13] Besprechungen mit unklarer Rezensentenschaft oder zu Büchern mit unklarer Autorenschaft wurden nicht in die Analyse miteinbezogen, da sie nur einen geringen Prozentsatz ausmachten. Romane von reinen Frauenteams wurden den Frauen, Romane von reinen Männerteams den Männern zugeordnet. Die Kategorisierung nach Herkunftsland ist nicht unproblematisch. Stammt eine Autorin, die in Kanada geboren, in den USA aufgewachsen und seit 30 Jahren in Großbritannien lebt, wirklich aus Kanada? Die Zuordnung von Herkunftsländern ist somit in diesem Beitrag eher eine Annäherung als eine letztgültige Kategorisierung.

[14] Der Einfachheit halber werden Großbritannien und Irland zusammengefasst.