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"anders geschliffene Gläser"

Ein Nachruf auf die Literaturkritikerin Ruth Klüger, die uns beibrachte, Texte anders zu lesen. Von Veronika Schuchter

 

Zu sagen, dass es viele Nachrufe auf Ruth Klüger gegeben habe, wäre übertrieben. Vor allem gemessen an ihrer Bedeutung als Autorin, Wissenschaftlerin, Kritikerin und Zeitzeugin, waren es nicht sonderlich viele und vor allem in den bundesdeutschen Medien, bis auf wenige Ausnahmen, wenig substanzielle.

Gewürdigt wurde sie fast nur als Zeitzeugin, als Überlebende der Shoah, was selbstverständlich berechtigt ist, denn das war sie und sie hat spätestens seit weiter leben ihr Leben auch in den Dienst der Erinnerung an die Shoah gestellt und gerade für die breitere Öffentlichkeit ist dieser Aspekt ihres Lebens verständlicherweise der wichtigste. Ob ihr selbst das in den Kram gepasst hätte, sei dahingestellt. Darüber definiert zu werden, was ihr zugestoßen ist, und was ihr zugefügt wurde, ohne dass sie darauf einen Einfluss hatte, lehnte sie jedenfalls entschieden ab. weiter leben betitelte sie ihre Autobiographie, nicht überleben, das ist wichtig. Ihr berühmt gewordener Ausspruch „ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien“ unterstreicht das in dem ihr eigenen, nüchternen Tonfall. Ihre Errungenschaften als Wissenschaftlerin und Kritikerin gingen in den Nachrufen aber zu einem großen Teil offenbar ‚unterwegs verloren‘, um den Titel des zweiten Teils ihrer Lebenserinnerungen zu zitieren, in denen ihr berufliches Leben eine große Rolle spielt.

Die Idee, Ruth Klüger als Kritikerin zu porträtieren, hatte ich schon lange, nur umgesetzt wurde sie leider nicht. Mit diesem Nachruf möchte ich einen ersten Schritt setzen, Klügers Arbeit als Literaturkritikerin und -vermittlerin zu würdigen.

 

Feministische Literaturkritik

Ruth Klügers für die feministische Rezeptionsforschung wegweisendes Werk Frauen lesen anders erschien 1996. Mit klarem Blick legt sie dort dar, wieso es gar nicht anders sein kann, als dass Frauen anders lesen. Ihr Zugang war ein soziologischer: Wo wir in der Gesellschaft verortet werden, unsere Sozialisierung, unsere Herkunft, prägt selbstverständlich unseren Blick auf Literatur. Klüger machte aus dem Blick von unten, der Außenseiterperspektive, eine Tugend und sah darin eine Chance: genauer zu lesen als jene, die aus der Privilegienposition des Angesprochenseins und Abgebildetwerdens beständige Affirmation erfahren und dabei blind werden, für andere Zugänge, für Details. Immer machte sie klar: Ich lese und kritisiere hier als Jüdin und Frau, meine auf diesen Gegebenheiten aufbauenden Erfahrungen bestimmen meinen Blick auf die Welt und damit auch auf die Literatur.

Die kanonisierte, männliche Literatur einer kritischen (durchaus auch wertschätzenden) Relektüre zu unterziehen, war das eine Anliegen, der Literatur von Frauen eine Plattform zu bieten, das andere. In der Literarischen Welt erschien jahrelang die Rubrik „Bücher von Frauen“ (manchmal auch unter dem Titel „Ruth Klüger hat Bücher von Frauen gelesen“). Klüger ging es dabei nicht um einen dezidiert feministischen Blick auf diese Bücher (der war für sie sowieso Grundvoraussetzung) und auch nicht um feministische Texte. Sie behandelt darin unterschiedlichste Autorinnen und Genres, mal neue Bücher, mal alte, Sachbücher genauso wie Belletristik. Ihr ging es darum, einen Ausgleich zu schaffen und Autorinnen eine Bühne zu geben, die ihnen sonst verwehrt blieb. Frauen seien „die größte Minderheit in der Leserlandschaft, eine Randgruppe, die eigentlich die Mehrheit ist“[1]. Eine Auswahl dieser Kolumnen erschien im Band Was Frauen schreiben. Beim Wiederlesen ihrer eigenen Kritiken war sie selbst erstaunt, über die Qualität der Texte und was sie über das Leben aussagen: „Im Aggregat bewirken sie eben doch einen Blick aufs Leben durch anders geschliffene Gläser.“[2]

 

Neue Blickwinkel

Sich Texten mit unverstelltem Blick zu nähern, das konnte Klüger wie keine andere. Ruth Klüger ist eine uneitle Kritikerin, eine, die ihren eigenen Wert nicht an das symbolische Kapital ihres Gegenstandes kettet. Ihr literaturkritisches Oeuvre umfasst den Höhenkamm genauso wie Krimis und den neuen Harry-Potter-Roman. Klüger zeigt sich als begeisterte Leserin, nicht als überlegene Kritikerin, die aus der intellektuellen Distanz ihr Urteil fällt.

„Zwar ist es das letzte Schuljahr, aber aus ist es mit der Schule. Wir schwänzen, wir spielen auch nicht mehr Quidditch, wir haben Wichtigeres zu tun, wollen wissen, was aus Gut und Böse wird, wie unsere Zukunft ausschaut, kurz, wie alles ausgeht. Ich habe auch diesen Band, wie die anderen sechs auch, in einem Zug ausgelesen.“[3]

„Wir“ sagt Klüger und geht dabei ein Bündnis mit den anderen Leser_innen ein, „unsere Freunde“ sagt sie über Harry, Ron und Hermine, und setzt uns, also sie, die Kritikerin und uns, ihre Leser_innen, dabei in ein Boot mit den Figuren. Literatur war für Ruth Klüger lebensrettend, wie sie in weiter leben beschreibt und das setzt sie auch als Literaturkritikerin um: Wenn es eine engagierte Literatur und Schriftsteller_innen gibt, war Klüger das literaturkritische Pendant. Ihre Besprechungen dienten nie einfach nur dem Selbstzweck, sie konnte die Texte wertschätzen und trotzdem darüber hinaus etwas transportieren wollen. Bespricht sie etwas Isabell Allendes Roman Die Insel unter dem Meer, dann geht es nicht nur um dieses Buch, sondern auch darum ein Statement zu setzen, dafür dass „die Grenzen zwischen U- und E-Literatur […] längst zurecht ins Schwanken gekommen“[4] sind.

Davon, als Kritikerin die eigene Perspektive zu verschleiern, hielt Klüger nicht viel. Ihre Rezeptionsposition machte sie immer klar, ihre Wertungsparameter legte sie offen. Und die waren nie rein ästhetischer Natur. Für Klüger waren Moral und Gerechtigkeit Kategorien, an denen sich ein Text messen lassen musste. Das darf nicht mit der Moral der Autoren verwechselt werden. Die ließ Klüger außen vor, sonst hätte sie bald nichts mehr zu lesen gehabt. Ruth Klüger, ein durch und durch kritischer, ja skeptischer Mensch, verriss sehr selten und wenn, dann nicht, weil ihr ein Text ästhetisch nicht zu Gesicht stand, sondern weil sie Unmenschlichkeit ortete, oder, was das gleiche zu sein scheint, allzu Menschliches. Ein Beispiel für eine Interpretation, die den eigenen Blick auf ein Werk zu verändern vermochte, ist ihre Lesart von Erich Kästners Emil und die Detektive. Aus der von ihr offengelegten Position der Betroffenen liest sie die Verfolgung des Diebes Grundeis als Hetzjagd, die auf einer nicht überprüften Behauptung basiert und autoritäre Strukturen hervorbringt:

„Eine Bande Jungen, die einen Erwachsenen einfach deshalb hetzt, weil ihnen jemand gesagt hat, er sei ein Verbrecher, sollte eigentlich nicht vorbildlich wirken, wie es hier der Fall ist. Betont wird das Zusammengehörigkeitsgefühl, das aber hier, wie so oft, ein Opfer braucht. Man wird einwenden, daß im Rahmen der Erzählung der Mann ja schuldig ist. Aber das ist es gerade: Wäre er unschuldig, so wäre das moralische Problem der Masse, die den Einzelnen verfolgt, deutlich genug.“[5]

Dem muss man nicht zu hundert Prozent zustimmen, aber wie bei so vielen ihrer Rezensionen und Essays bringt Klüger einen auf Fährten, auf die man selber nicht gekommen wäre.

Auch Kästners Darstellung von Frauen war ihr ein Dorn im Auge:

„Man kann Erich Kästner kaum nachsagen, daß er feministische Neigungen gehegt hat. Im Gedicht zieht er gerne über Frauen her, die, obwohl nicht mehr ganz jung, noch Liebesbedürfnisse stillen wollen, oder Frauen, die sich die Nägel färben ("Wenn es Mode wird, die Brust zu färben / oder, falls man die nicht hat, den Bauch ... tun sie's auch"), in seinen Kinderbüchern sind nur die hingebungsvollen Mütter etwas wert, und zu seinen sonstigen Äußerungen gehört auch die Entrüstung, daß jetzt schon Hausfrauen Kinderbücher schreiben, im Sinne von: Das ist doch ein ernsthafter Beruf, und Hausfrauen sind naturgemäß Dilettantinnen.“[6]

Diese Feststellung hielt Klüger aber nicht davon ab, einen Text von seinem Autor und von ihr kritisierten Tendenzen in seinem Werk zu trennen und in die Tiefe zu gehen, in diesem Beispiel etwa lobt sie die Aktualität von Kästners Patriotisches Bettgespräch und endet mit den Worten: „Und so wird aus Polemik Poesie.“ Umgekehrt kritisierte sie Details scharf, auch wenn sie ansonsten begeistert ist, hier etwa die von Klüger sehr geschätzte Gila Lustiger:

„Denn Lustiger zeichnet hier die Karikatur einer verfressenen, sexbesessenen Lesbierin. Das mag amüsant sein, weil es dem gängigen Bild der idealen Französin widerspricht, aber gerade ein Buch über eine verfolgte Minderheit sollte den Vorurteilen gegen gescholtene Minderheiten nicht Vorschub leisten. Das ist aber auch der einzige Mißgriff.“[7]

Ihr unbestechlicher Humanismus, der hier aufblitzt, ist zwar ein zentraler Maßstab, doch Klüger ist eine ganzheitliche Kritikerin, die Texte dreht und wendet, von allen Seiten genau schaut und ihm auf verschiedenen Ebenen gerecht werden will. Sprache und Form sind ihr genauso wichtig, das verwundert nicht, promovierte sich doch über das barocke Epigramm und verfasste selbst von Jugend an Gedichte.

 

Nicht unumstritten

So unumstritten wie Klüger heute scheint, war sie nicht immer. Provokant sei sie gewesen und unversöhnlich, gerne wird die Anekdote erzählt, wie sie einem bekannten Kafka-Forscher ein Glas Wein ins Gesicht kippte. Das Bild der zickigen Frau wird dabei leider oft unterschwellig (und manchmal gar nicht so unterschwellig) mittransportiert. Kennt man den Hintergrund der Episode, den sie in unterwegs verloren beschreibt, bleibt von diesem Bild so gar nichts mehr übrig. Auch in würdigenden Nachrufen dringen mitunter Bewertungen durch, die wohl mit ihrem Geschlecht und den damit verbundenen Rollenvorstellungen zu tun haben, da versteigt sich zum Beispiel einer dazu, vom „Säurebad ihrer Unerbittlichkeit“[8] zu sprechen. Spröde ist auch so ein Wort, mit dem Klüger oft bedacht wird, ihr Stil wird kritisiert, etwa von Siegfried Unseld, der weiter leben als unliterarisch ablehnte, wohl eine der größten Fehleinschätzungen seiner Verlegerkarriere. Dieter Borchmeyer attestierte Klügers Essays „eine provozierende Kraft“. Sie nehme sich „immer wieder das Recht ihrer eigenen, eigenwilligen Lesart von poetischen Texten heraus“, auch wenn er befindet, dass sie dabei „nicht selten über das Ziel hinausschießt“[9], was Iris Radisch in ihrem schönen Nachruf zu der treffenden Frage veranlasst: „Aber was war das Ziel?“[10]

Ihre Kritiken können von den undifferenzierten Zuschreibungen an ihre Person und ihr Schreiben nicht weiter entfernt sein. Zu ihrem 70. Geburtstag schrieb Marcel Reich-Ranicki, der Klüger auch zweimal als Gastkritikerin ins Quartett geholt hat: „Bitte: Machen Sie weiter, unbedingt. Zeigen Sie uns allen, wie man Literatur betrachten kann und soll: liebend und kritisch zugleich.“[11] Das war tatsächlich ihre große Stärke: Sie schreibt begeistert und mitreißend über die von ihr rezensierten Texte. Literatur steht bei ihr mitten im Leben, mitten in der Gesellschaft, sie betrachtet es nicht als Randphänomen, wie viele das tun. Dieses seltsame Pendeln zwischen unterwürfiger und vorausseilender Trennung von Literatur und „richtigem Leben“ und der gleichzeitigen totalen Überhöhung von einzelnen Texten war ihr völlig fremd. Ruth Klüger war auf so vielen Ebenen der Glücksfall einer Kritikerin: Weil sie ihre Leserinnen (um hier fortzuschreiben, wie sie selbst ihr Publikum adressierte) zu besseren, aufmerksameren Leserinnen machte. Weil ihr Urteil soviel wiegt, dass man sich häufig fragt: Was hätte Ruth Klüger dazu gesagt. Und weil ihre Rezensionen kleine – nein, nicht kleine, kurze – Meisterwerke für sich sind, die man immer wieder lesen kann, ohne nur Auskunft über das rezensierte Buch bekommen zu wollen.

 

Veronika Schuchter, 12.11.2020

 


[1] Ruth Klüger: Was Frauen schreiben. Wien: Zsolnay 2010, S. 7.

[2] Ebd., S. 10.

[3] Ruth Klüger: Der letzte Potter. In: Der Standard v. 25. 07.2007, S. 28.

[4] Ruth Klüger: Die Trommeln besiegen die Angst. In: Die Welt (Die literarische Welt), v. 15.01.2011, S. 2.

[5] Ruth Klüger, Korrupte Moral: Ernst Kästners Kinderbücher. In: Frauen lesen anders. München 1996, S. 83-104, hier S. 71.

[6] Ruth Klüger: Aus Polemik wird Poesie. (Teil der Reihe Frankfurter Anthologie). In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12.02.2005, S. 40.

[7] Ruth Klüger: Ohne Glanz und Prüderie. In: Die Welt (Die literarische Welt) v. 02.07.2005, S. 6.

[8] Paul Jandl. Wie man den Holocaust überlebt und das Patriarchat verachten lernt. In: Die Welt (online), veröffentlich am 07.10.2020.

[9] Dieter Borchmeyer: Literatur als Tauziehen. Das Überlebensmittel der gebundenen Sprache: Ruth Klüger zum siebzigsten Geburtstag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30.10.2001, S. 49.

[10] Iris Radisch: Der Sinn ihres Lebens. In. Die Zeit v. 15.10.2020, S. 51.

[11] Marcel Reich-Ranicki: Liebhaberin der Stille. Ein Gruß an Ruth Klüger. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30.10.2001, S. 49.