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Poetica

Über Gershom Scholems Schriften zur Literatur. Von Sigurd Paul Scheichl

 

Gershom Scholem: Poetica. Schriften zur Literatur. Übersetzungen. Gedichte. Hg. von Herbert Kopp-Oberstebrink, Hannah Markus, Martin Treml, Sigrid Weigel. 2. Aufl. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2019. 783 S. ISBN: 978-3-633-54292-5. Preis [A]: 59,70 €.

 

Diese Sammlung der literarischen Werke von Gershom Scholem, dem Freund und Briefpartner Walter Benjamins, und seiner Schriften über Sprache und Literatur ist ein großartiges Buch, gerade für jene, die das Judentum nur oberflächlich kennen. Gemeinhin schätzt man den Beitrag assimilierter Jüdinnen und Juden zur deutschen Literatur hoch ein; wie wenig sie mit dem eigentlichen Judentum zu tun hatten, wird einem bei der Lektüre dieses Buchs bewusst, der Schriften eines Mannes, der, noch als Gerhard Scholem, während des Ersten Weltkriegs gegen Widerstände den Weg vom ‚deutschen Juden’ zum Juden, weg vom Deutschen zum Hebräischen gegangen – und 1923 nach Palästina ausgewandert ist. Zwar hat Scholem seine wissenschaftlichen Hauptwerke (und einige der hier in Übersetzung veröffentlichten Essays) auf Ivrit verfasst, doch hat er bis zum Ende seines Lebens immer wieder deutsch geschrieben; zumal für seine Gedichte (nicht der wichtigste Teil dieses Bands) hat er bis zuletzt meistens das Deutsche verwendet. Auch in den brillant formulierten deutschen Texten – ein Höhepunkt sind die hier zum ersten Mal gedruckten wenigen Zeilen von 1926 über Kafkas Prozess (S. 588) – ist das Judentum sehr präsent.

Das Buch ordnet die verstreuten und zum Teil bisher unveröffentlichten kleinen literarischen Schriften Scholems in sechs Abschnitten an: „Klage und Klagelieder“; „Übersetzungen religiöser Texte“; „Sprach- und Übersetzungstheoretisches“; „Chaim Nachman Bialik und Samuel Josef Agnon“ (Übersetzungen und Kritiken); „Literatur und Kritik“; „Gedichte von 1914 bis 1974“; jeder Abschnitt wird durch ein (oft sehr notwendiges) fundiertes Vorwort eingeleitet.

Die ersten beiden Abschnitte enthalten überwiegend noch in Deutschland entstandene Übersetzungen von biblischen und anderen religiösen Texten aus dem Hebräischen ins Deutsche. Für einen Vergleich dieser – schönen – Übersetzungen mit den gängigen deutschen Fassungen der Bibel ist diese Besprechung nicht der geeignete Ort, ganz abgesehen davon dass ich nicht Hebräisch kann. Ein erster Eindruck: Scholems Psalmen und sein Hohes Lied klingen gehobener, feierlicher als die Luther-Bibel. Auf jeden Fall machen diese Texte bewusst, dass eine Übersetzung der jüdischen Bibel für Deutsch sprechende Juden etwas anderes ist als eine des ‚Alten Testaments’ für Christen. Bitter die 1961 an Martin Buber gerichteten Worte über dessen Übertragung der Heiligen Schrift: „Die Juden, für die Sie übersetzt haben, gibt es nicht mehr. Die Kinder derer, die diesem Grauen entronnen sind, werden nicht mehr Deutsch lesen.“ (S. 307)

Am stärksten haben mich die sprach- und übersetzungstheoretischen Schriften im III. Abschnitt beeindruckt, zum Teil wortmächtige Polemiken des jungen Studenten Scholem gegen misslungene Übersetzungen aus dem Jiddischen und dem Hebräischen. Ich greife drei dieser Artikel heraus. „Journalismus und Musivstil“ (1919) bietet eine überraschende Erklärung der großen Rolle von Juden im (deutschen) Journalismus: Dieser greife zurück auf ein traditionelles Stilmittel des Hebräischen, das er aber säkularisiere und damit entleere (S. 247ff.). „Wie soll man Hebräisch lernen?“ (1919) unterstreicht den Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur und stellt daher hohe Forderungen an jeden, der Hebräisch lernen will. „Vielmehr gilt es, das Hebräische so zu durchdringen, daß das Judentum in seinem geistigen Wesen als identisch mit seinem sprachlichen erfaßbar wird.“ (S. 250) Bei allem Respekt vor einer heiligen Sprache denke ich, dass dieses Prinzip auch für weltlichere Sprachen gilt.

Ein Höhepunkt des Bands ist die heftige Polemik gegen eine Übersetzung mystischer jüdischer Literatur (zu der die Herausgeber dankenswerter Weise auch die Replik des Angegriffenen drucken). Wie Scholem hier an Details der deutschen Fassung des Sohar (auch: Zohar), eines Hauptwerks dieser Mystik, grundsätzliches Missverstehen des heiligen Originals nachweist (und zugleich seine Vertrautheit mit diesem unter Beweis stellt), ist ein Meisterwerk der Übersetzungskritik (S. 255-279). Und zugleich eine Bereicherung der deutschen polemischen Literatur, etwa: da „patscht mancher Amhaarez [Tölpel], von Verantwortung für die Verführung seiner Leser ungehemmt, dunkel und anspruchsvoll im mystischen Meer.“ (S. 256); man beachte auch die 1920 ganz aktuelle Pointe (S. 270f.). Es sei an dieser Stelle angedeutet, dass sich Gedichte Scholems ebenfalls durch satirischen und polemischen Witz auszeichnen (z. B. „Nachträgliches zum Golem“, S. 679).

In seinen Aufsätzen zu neuhebräischen Autoren, vor allem Bialik und Agnon, steht ebenfalls ein sprachliches Problem im Vordergrund: der Wandel einer heiligen Sprache in eine Sprache des Alltags; Hebräisch stehe im Begriff, „aus dem Buch ins Leben zu wandern“ (S. 427) und damit seine theologische Qualität zu verlieren. Besonders Scholems Aufsätze über Agnon betonen, dass dieser Erzähler seine Sprache nicht aus dem Ivrith-Umfeld bezieht, sondern dass in ihr stets „die Sprache der alten Bücher“ mitschwingt (S. 471), was das Übersetzen Agnons fast unmöglich mache. Gleichwohl rühmt Scholem die Agnon-Übersetzer Karl Steinschneider und Tuvia Rübner; seine eigenen Übersetzungen von Erzählungen des Dichters ins Deutsche stehen in dem Band.

Noch viele andere lesenswerte Beiträge dieser faszinierenden Poetica ließen sich rühmend vorstellen, die in die Tradition des Hebräischen und in die besondere Stellung des Ivrit einführen, darüberhinaus grundsätzliche Probleme der Literatur und des Übersetzens aufwerfen.

Da ein Rezensent verpflichtet ist, seine gründliche Lektüre unter Beweis zu stellen, seien ein paar Kleinigkeiten verbessert. Die einzige wichtige: Auf S. 244 steht in einem Text von 1919 „Prunkphasen“, es müsste aber wohl ‚Prunkphrasen’ heißen, wenn ich Scholem richtig verstanden habe. Zwei Korrekturen zum insgesamt ausgezeichneten Kommentar, der Rücksicht auf jene Leser*innen nimmt, die mit der jüdischen Kultur wenig vertraut sind: „Das Kompromiss“ war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebräuchlich (S. 308); Alfred Margul-Sperber wurde nicht in Galizien, sondern in der Bukowina geboren (S. 606). Ein grafisches Missgeschick: In die Erläuterungen ist auf S. 707 ein Absatz über Kafka gerutscht, der auf S. 735 steht und nur dorthin gehört.

Damit ist den Regeln der Textsorte ‚Rezension’ Genüge getan – und der Rezensent kann mit vorbehaltlosem Lob schließen, für ein hochinteressantes und schönes Buch, das von den Mitarbeiter*innen des Berliner Zentrums für Literatur- und Kulturforschung mit großem Engagement sehr sorgfältig ediert und erläutert worden ist.

 

Sigurd Paul Scheichl, 23.03.2020

 

Nachbemerkung:

Nach Abschluss dieses kleinen Beitrags erschien eine Rezension des Werks von Michael Brocke ("Gershom Scholems Poetica ediert und malträtiert". In: Kalonymos. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut an der Universität Duisburg-Essen, Jg. 23. 2020, Nr. 1, S. 7-10). Sie weist gravierende Mängel der Edition nach, insbesondere was ihren Umgang mit dem Hebräischen betrifft; wenn Brockes (überzeugend vorgebrachte) Argumente zutreffen, dann muss ich leider einiges von meiner Begeisterung für das Buch und vom Lob des Kommentars zurücknehmen. (23.09.2020).