Naturgefahr Berg: Risikomanagement und Verantwortung. Herausforderungen für die Gesellschaft und das Recht

Bericht über die Ergebnisse der Tagung vom 10.-11.11.2022
Eröffnung Tagung Naturgefahren
Bericht zur Tagung „Naturgefahr Berg: Risikomanagement und Verantwortung. Herausforderungen für die Gesellschaft und das Recht“ - 10.-11.11.2022

Am 10.-11. November 2022 fand an der Universität Innsbruck die Tagung „Naturgefahr Berg: Risikomanagement und Verantwortung. Herausforderungen für die Gesellschaft und das Recht“ statt. Diese vom Institut für Italienisches Recht, Universität Innsbruck, organisierte Veranstaltung bettet sich in das im Herbst 2020 gestartete Forschungsprojekt „Naturgefahr Berg: Risikomanagement und Verantwortung (M_Risk)“ ein, das mit dem Jahr 2022 zu Ende geht. Für die wissenschaftliche Leitung zeigten sich verantwortlich Margareth Helfer (UniIbk), Alessandro Melchionda (UniTn), Klaus Schwaighofer (UniIbk) und Kolis Summerer (UniBz).

Forschungsprojekt

Im Rahmen des zweijährigen Euregio-Forschungsprojektes mit den Partnern Universität Innsbruck (Leadpartner), EURAC Research Bozen, der Freien Universität Bozen, der Universität Trient sowie weiteren wichtigen lokalen und regionalen technisch-alpinen Partnern (ÖAV, AVS, CAI/SAT, AINEVA, Agentur für Bevölkerungsschutz und Amt für Geologie der Autonomen Provinz Bozen) wurden bei Bergunfällen häufig auftretende Rechtsfragen näher untersucht. Insbesondere die rechtliche Beurteilung von Naturkatastrophen, wie Lawinen, sowie die Frage der strafrechtlichen Relevanz der Eigenverantwortung spielten eine zentrale Rolle.

Tagung

Die Tagung als wissenschaftliche Abschlussveranstaltung des Forschungsprojektes wurde mit der Vorstellung der geleisteten Projektarbeit und der erzielten Ergebnisse eingeleitet. Im Vordergrund stand dabei die strafrechtliche Haftung für Unfälle am Berg und die Skizzierung neuer Erkenntnisse und Lösungsansätze, um konkurrierende rechtliche Verantwortlichkeiten am Berg besser und gerechter auseinanderdividieren zu können. Auch wurden die Ergebnisse einer empirischen Umfrage zur Risikowahrnehmung am Berg präsentiert, die von EURAC Research Bozen in Zusammenarbeit mit den anderen Projektpartnern durchgeführt worden war.

Es folgte eine Diskussionsrunde mit verschiedenen Stakeholdern aus Tirol, Südtirol und dem Trentino mit Kompetenzen in den Bereichen Bevölkerungsschutz, Gefahren am Berg und deren Absicherung und Prävention. Auch Einzelfälle aus der juristischen Praxis sowie aktuelle Ereignisse wurden dabei thematisiert. Näher beleuchtet wurde ein Vorfall, der sich im Frühjahr am Pragser Wildsee ereignet hatte. Eine Vielzahl an Menschen hatte trotz Warnung die bereits zu dünne Eisdecke betreten, so auch eine Frau mit Kleinkind, die dann in den See einbrach und nur unter sehr schwierigen Verhältnissen von der Bergrettung aus dem eisigen Wasser gerettet werden konnte. Obgleich dieses tragischen Ereignisses war am folgenden Tag dasselbe Bild zu sehen: Viele Menschen auf dem dünnen Eis des Pragser Wildsees.

Im Rahmen der Diskussion wurden verschiedene Fragen aufgeworfen und näher erörtert: Welche sind die Voraussetzungen für eigenverantwortliches Handeln? Welche Rolle spielt die Risikowahrnehmung? Braucht es mehr Information? Was nützt Aufklärung, wenn diese beim Empfänger nicht ankommt? Braucht es die Sperrung bestimmter Wege bzw. Gebiete, wenn diese zu gefährlich scheinen? Oder würde die Einführung von „Rangern“, die ein bestimmtes Gelände überwachen bzw. kontrollieren, Abhilfe schaffen? In letzterem Fall würde es allerdings notwendig sein, die Obhutspflichten möglichst präzise zu formulieren, um ein Überfrachten der Position mit Haftungsgarantien zu vermeiden.

Im zweiten Panel am Donnerstagnachmittag diskutierten RichterInnen, StaatsanwältInnen und AnwältInnen der drei involvierten Euregio-Länder unterschiedliche Rechtsfragen zu Bergunfällen und lieferten damit einen interessanten Einblick in die lokale und teils sehr unterschiedliche Rechtsprechungspraxis.

Das dritte und vierte Panel war der Vertiefung der zentralen strafrechtlich relevanten Themen zu konkurrierenden Verantwortlichkeiten am Berg gewidmet. Dies erfolgte in rechtsvergleichender Perspektive unter Einbeziehung von ReferentInnen aus Italien, Österreich, Deutschland und der Schweiz. Im Vordergrund standen Themen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für das Auslösen von Naturkatastrophen (Lawinen) sowie die Relevanz der Eigenverantwortung im Strafrecht als Kriterium für die Haftungsbegrenzung Dritter am Berg (Pistenbetreiber, Skilehrer, Berg- und Tourenführer, Führer aus Gefälligkeit, Lawinenkommissionen, Wegehalter, Rodelbahnbetreiber). Interessant war der Einblick in die bestehenden unterschiedlichen nationalen Regelungen der verschiedenen Länder des Alpenraums sowie der Austausch und die Diskussion dazu.

Lawine und Strafrecht: wann?

Zur strafrechtlichen Verantwortung für das Auslösen einer Lawine wurde an die im Rahmen des Projektes geleistete Forschungstätigkeit angeknüpft. Die italienische Regelung ist gegenüber den österreichischen, den deutschen und den Schweizer Bestimmungen die einzige, die eine strafrechtliche Verantwortung bereits bei Vorliegen einer abstrakten Gefährdung einer unbestimmten Anzahl von Personen bejaht. Während dazu allerdings in den letzten Jahren die sog. Lehre des anthropisierten Geländes als Auslegungsmaßstab erarbeitet wurde, die eine angemessene, auch an andere nationale Regelungen angenäherte Interpretation zuließ, hat hier insbesondere eine jüngere Rechtsprechungslinie des italienischen Kassationsgerichtshofs eine erneut strengere Richtung vorgegeben. Gemäß dieser könne das Bestehen einer abstrakten Gefährdung nicht bereits deshalb verneint werden, als es sich dabei um ein nicht-anthropisiertes Gelände handle und sich somit im betroffenen Gebiet keine Skipisten, Straßen oder Ähnliches befänden. Denn auch andere Personen könnten – wie der Lawinenauslöser selbst – in dieses Gebiet vorgedrungen und entsprechend durch die Lawine gefährdet worden sein. Diese Interpretation weicht deutlich von der oben genannten Lehre des anthropisierten Geländes ab, wonach das Vorliegen von Elementen bestehender Anthropisierung im Gefahrenbereich der Lawine durchaus ein valides Kriterium für die Bestimmung darstellt, ob im Einzelfall eine abstrakte Gefährdung gegeben ist oder nicht. Denkt man nun aber die vom italienischen Höchstgericht zuletzt gewählte Argumentationslinie zu Ende, so wird eine abstrakte Gefährdung auch immer dann zu bejahen sein, in denen eine Person eine Lawine in einem weit abgelegenen Gebiet verursacht hat, insofern auch andere Skitourengeher, Schneeschuhwanderer usw. in dieses Gelände vorgedrungen hätten sein können. Nicht zuletzt in Anbetracht dieser Rechtsprechung besteht weiterhin Diskussionsbedarf, um die strafrechtliche Regelung von Lawinenauslösungen in Italien auch unter einem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt angemessen auszugestalten.

Eigenverantwortung am Berg im Rechtsvergleich

Das Thema der Eigenverantwortung wurde unter Berücksichtigung verschiedenster Aspekte diskutiert. In Österreich, Deutschland und der Schweiz ist das Prinzip der Eigenverantwortung im Strafrecht als verantwortungsausschließender bzw. -begrenzender Faktor grundsätzlich anerkannt. Gegenstand der Diskussion sind vorwiegend allein die Voraussetzungen, die vorliegen müssen, um von eigenverantwortlichem Verhalten sprechen zu können.

Die italienische Rechtsordnung zeigt sich nach wie vor zurückhaltend, auch wenn sich Teile der Rechtslehre und der Rechtsprechung dazu immer mehr öffnen. Vor allem auf der Ebene der erstinstanzlichen Gerichte wird häufiger auf die Eigenverantwortung gesetzt, um insbesondere in Fällen, in denen das Unfallopfer wesentlich selbst zum Unfall beigetragen hat, die Verantwortung und somit die Haftung des Dritten ausschließen zu können.

Erfreulich zeigt sich auch die Richtung, die jüngst vom italienischen Gesetzgeber mit der Verabschiedung der Reform der Sicherheit im Wintersport im Jahr 2021 eingeschlagen wurde. An verschiedenen Stellen zeigt sich dabei ein klares Bekenntnis zur rechtlichen Relevanz eigenverantwortlichen Verhaltens am Berg.

Alpinpolizei in Österreich: ein Vorzeigemodell für Italien?

Ein weiteres, rege diskutiertes Thema betraf die Unterschiede zwischen Italien und Österreich in Bezug auf Ermittlungsaktivitäten bei Bergunfällen. So besteht in Österreich eine auf die Aufklärung von Unfällen im alpinen Gebirge spezialisierte Einheit der Gerichtspolizei, die sog. Alpinpolizei. Im italienischen Polizeisystem gibt es keine vergleichbare Einheit. Außer Zweifel stand am Ende der Diskussion dazu die Sinnhaftigkeit und Wichtigkeit, die eine derartige Spezialeinheit für die Beweisermittlung und -erhebung mit sich bringen könnte.

Klimawandel und erhöhtes Restrisiko

Ein sich durch die gesamte Veranstaltung ziehendes Thema waren die mit dem Klimawandel einhergehenden Veränderungen der Bergwelt und die damit verbundenen auch zugespitzten Haftungsfragen. Die klimatische Entwicklung wird die Situation am Berg weiter verändern bzw. verschärfen; die bestehenden Gefahren werden zunehmen, das Restrisiko steigen. Dies wird sich unmittelbar auf die rechtliche Analyse von Bergunfällen auswirken. Aktuelle Ereignisse, wie z. B. der Gletscherbruch an der Marmolata, zeigen die leider dramatische Aktualität dieser Thematik.

Resümee und Ausblick

Aus den spannenden Vorträgen und der lebhaften Diskussion mit dem juristischen und technisch-alpinen Fachpublikum konnten wichtige weiterführende Erkenntnisse für die Thematik gewonnen werden. Wesentlich dafür war die sehr konstruktive und positive Stimmung, die den Meinungsaustausch während der gesamten Tagung begleitet und geprägt hatte.

Die im Rahmen der Tagung erzielten Ergebnisse werden gemeinsam mit den zentralen Beiträgen der im März 2021 an der EURAC Research in Bozen organisierten Tagung in einen Tagungsband einfließen und in der ersten Jahreshälfte 2023 veröffentlicht werden. Neben weiterer bereits geleisteter und in unmittelbarer Zukunft anstehender Disseminationstätigkeit soll dies Wissenschaft, Rechtsprechung und Rechtspraxis sowie die Bevölkerung dies- und jenseits des Brenners für die untersuchten Problemfelder und die erzielten neuen Erkenntnisse sensibilisieren. Ziel ist es, eine Risikokultur zu etablieren, die zu mehr Sicherheit in den Bergen beitragen kann.

©Stefan Schwitzer 

 

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