"Ich habe keine Zeit!"

Das Tempo wird ständig erhöht und trotzdem bleibt am Ende nur wenig Zeit. Die Körber-Stiftung hat heuer für die Studierenden aller Hochschulen und aller Fachrichtungen den mit insgesamt 100.000 Euro dotierten 4. Deutschen Studienpreis zum Thema "Tempo! - Die beschleunigte Welt." ausgeschrieben.
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"Ich habe keine Zeit!" - eine Klage, die nahezu jedem vertraut sein dürfte. Alles soll immer schneller gehen. Trotzdem scheint am Ende für nichts wirklich Zeit zu sein. Per Mausklick erreichen wir in Sekunden Bibliotheken in Paris, Sydney oder Palo Alto. Aber verschafft uns das mehr Zeit für die nächste Aufgabe? Wohl kaum! Denn der schnelle Zugang zu Informationen in jedem Winkel der Welt ist längst auch Verpflichtung. Überschallflugzeug, Sofortbildkamera, Fastfood und Just in time-Produktion - das olympische Motto "höher, schneller, weiter" scheint zum universalen Kennzeichen moderner Gesellschaften geworden zu sein. Immer größere Entfernungen werden immer zügiger überwunden, immer mehr Informationen und Reize gilt es in kürzeren Intervallen aufzunehmen, Schul- und Studienzeiten sollen bei wachsenden Wissensbergen verkürzt werden, immer mehr Güter und Dienstleistungen werden immer schneller produziert. Die Welt scheint sich in einem kollektiven Geschwindigkeitsrausch zu befinden - und damit immer öfter direkt im Stau zu landen, im Verkehrsstau ebenso wie im Reform- und Innovationsstau.

Wie viel Tempo können wir ertragen?

Der Einzelne profitiert von der allgemeinen Beschleunigung. Sie verschafft ihm unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ohne lästige Wartezeiten. Die Bilder eines verknipsten Films bekommt man innerhalb einer Stunde, Scannerkassen verhindern Warteschlangen im Supermarkt und dank Mikrowelle, Pizzaservice und 5-Minuten-Terrine verschwenden wir auch beim Kochen keine Zeit mehr. Allerdings leidet der Einzelne auch unter der Geschwindigkeit. Informationen und Sinneseindrücke strömen immer schneller auf uns ein. Die Zeit, in der mit einigermaßen konstanten Lebensverhältnissen gerechnet werden kann, wird kürzer. Aufwendige Anpassungsleistungen sind in immer zügigeren Rhythmen zu erbringen. Die Planungssicherheit nimmt ab, ein Gefühl der Unsicherheit, des Beschleunigungszwangs und der Zeitknappheit greift um sich. Was gestern noch zwei Stunden dauern durfte, soll heute in der Hälfte der Zeit erledigt sein. Kein Wunder, dass Zeitmanagementseminare Konjunktur haben. Aber wie viel Tempo können wir ertragen? Der Wunsch nach Zeitoasen wächst, nach Wellnesswochenenden, Klosteraufenthalten und Sabbaticals. Sind das nur Luxusbedürfnisse der Gewinner", für die die Verlierer, die "Zwangsentschleunigten" - die Kranken, die Alten, die Arbeitslosen - kaum Verständnis haben dürften?

"Just in time"

In der Gesellschaft wird Beschleunigung mit wachsendem Wohlstand gleichgesetzt. Denn erst die industrielle Beschleunigung der Produktionsabläufe erlaubte es überhaupt, Güter massenhaft und zu erschwinglichen Preisen herzustellen. Für die Wirtschaft ist die zeitliche Verkürzung von Produktionszyklen und die schnelle Distribution von Waren ein wesentlicher Wettbewerbsfaktor. Damit besteht aber auch der Zwang zu stetiger Steigerung von Produktions- und Transportgeschwindigkeiten. "Just in time" heißt das Label unserer Zeit. Oder wird das Konzept der "Beschleunigung" maßlos überschätzt? Wir müssen z.B. immer noch regelmäßig mehrere Stunden schlafen, und Schwangerschaften dauern gemeinhin immer noch neun Monate. Prägen also im Kern doch die biologischen Eigenzeiten und Rhythmen unser Leben? Und gönnen wir uns als Ausgleich zur Arbeit nicht so viel Urlaub wie nie zuvor? Traditionelle Strukturen jedenfalls scheinen bei aller Veränderungsdynamik enorme Beharrungskräfte zu haben, im Privatleben ebenso wie in der Gesellschaft. Beziehungsmuster hier, Hierarchien und Entscheidungsprozesse dort sind erstaunlich veränderungsresistent.

In der Beschleunigungsfalle?

Sitzen wir also in der "Beschleunigungsfalle"? Oder haben wir nur eine neue Wahrnehmung für das immerwährende Phänomen des Wandels entwickelt? Sollen wir einfach die Anpassung an neue Herausforderungen betreiben? Ist im Gegenteil die "Entdeckung der Langsamkeit", die "Entschleunigung" die Aufgabe der Zukunft? Brauchen wir eher Schutzbestimmungen für den Menschen oder nur eine sich stetig verbessernde Technik? Oder liegt die eigentliche Herausforderung in der Synchronisation unterschiedlich "schneller" gesellschaftlicher Teilbereiche? Das Thema "Tempo! - Die beschleunigte Welt" reicht von weitgespannten ideengeschichtlichen Überlegungen bis hin zu ganz praktischen Problemen. Gibt es z.B. innovative Verkehrskonzepte, gibt es Ideen, die den individuellen Bedürfnissen nach schneller Verfügbarkeit von Waren und Informationen Rechnung tragen, ohne das globale ökologische Gleichgewicht zu gefährden? Kann die Biologie das Pflanzenwachstum beschleunigen und damit zur Bewältigung des Hungerproblems beitragen, ohne zwangsläufig die Überdüngung des Bodens in Kauf zu nehmen? Wie können Ingenieure all die Hochgeschwindigkeitssysteme dem Menschen so anpassen, dass er mit seinen beschränkten Wahrnehmungskapazitäten wieder die Chance auf ein angemessenes Reagieren hat? Was sagt die Medizin zu dem Faktum der Überforderung durch Beschleunigung? Ist sie hier beschränkt auf eine Reparatureinrichtung für Folgeschäden? Weiß die Psychologie etwas über veränderte Wahrnehmungsmuster durch ständige Reizüberflutung? Wandelt sich vielleicht sogar unser Verständnis von Schönheit, wenn "beats per minute" zum Maß aller Dinge werden? Was verleiht dem Konzept der Beschleunigung Dynamik? Überwiegen in der Moderne langfristig Beschleunigungskräfte wie Digitalisierung und Globalisierung diejenigen der Beharrung? Oder gibt es schlicht unterschiedliche Kulturen des Umgangs mit der Zeit - sowohl innerhalb einer Gesellschaft als auch im interkulturellen Vergleich? Wie kann Politik überhaupt noch (re)agieren unter der Bedingung immer schnellerer Fortschritte in Wissenschaft und Technik, konkret: wie schnell darf beispielsweise ein neues Medikament unter dem Druck des Marktes zugelassen werden? Und was passiert, wenn eine traditionell verfasste Gesellschaft in den rasanten Strudel einer Transformation nach westlichem Muster gezogen wird? Kurz: Wo können, wo wollen und wo dürfen wir überhaupt Zeit sparen? Beschleunigung ist ein Phänomen, das alle Lebensbereiche durchzieht. Die damit verbundenen Fragen und Probleme lassen sich nicht mehr im Rahmen einzelner Disziplinen lösen. Der Deutsche Studienpreis lädt deshalb Studierende aller Hochschulen und aller Fachrichtungen dazu ein, dieses Thema im interdiziplinären Austausch zu erforschen. Einsendeschluss ist der 31. Oktober 2002.