Alltagspraktiken subjektiver Absicherung unter der Lupe

Der Forschungsschwerpunkt Bildung – Generation – Lebenslauf veranstalte am Institut für Erziehungswissenschaften eine Forschungskonferenz zum Projekt „KONGLOMERATIONEN – Alltagspraktiken subjektiver Absicherung“.
Höttinger Breccie
Höttinger Breccie

Am Moderationstisch liegt ein schwerer Brocken eines Steins namens „Höttinger Breccie“, unter Geologen als Exemplar der Gesteinformation „Konglomerat“ bekannt. Dennoch handelt es sich um keine geologische Fachtagung, sondern um die Forschungskonferenz eines sozialwissenschaftlichen Projekts, die von ie von Univ.-Prof. Dr. Tilman Märk, Vizerektor für Forschung und Univ.-Prof. Dr. Heid Möller, Dekanin der Bildungswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Innsbruck so wie der Leiterin des universitären Forschungsschwerpunktes „Bildung–Generation–Lebenslauf“ am Institut für Erziehungswissenschaft, Univ.-Prof. Dr. Lynne Chisholm, eröffnet wurde.

 

 

Der zentrale Ansatz dieses Projekts besteht darin, die Selbstverortung gegenwärtiger Subjekte innerhalb instabiler gesellschaftlicher Rahmenbedingungen theoretisch zu fassen und empirisch zu dokumentieren. Die Projektgemeinschaft, geleitet von den Innsbrucker ErziehungswissenschaftlerInnen Helga Peskoller, Bernhard Rathmayr und Maria Wolf setzt in der Entwicklung des Gesamtprojektes und der insgesamt 12 Teilprojekte auf weitestgehende Kooperation und größtmögliche Offenheit in der scientific community. In einer ersten Forschungskonferenz, der weitere folgen sollen, wurden internationale WissenschaftlerInnen unterschiedlicher kultur- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen gebeten, die grundlagentheoretischen Bezüge des Gesamtprojektes kritisch zu kommentieren. Die Konzeption des Projekts erwies sich dabei in doppelter Hinsicht als tragfähig. Einerseits wurde der Problematik als solcher von allen Vortragenden eine bedeutende Relevanz zugesprochen. Andererseits wurde deutlich, dass die etablierten theoretischen Fassungen dieser Problematik in den Konzepten von Identität und/oder Subjektivität, der gegenwärtigen Verfassung rasch wandelbarer Lebensverhältnisse nicht mehr gerecht werden und dass die Konzeption der „Konglomeration“ eine aussichtsreiche Perspektive darstellt.

 

 

„Identität“ und „Subjektivität“ werden in dieser Konzeption weder als eine immer aufwändiger herzustellende ideale Harmonie gedacht – Stichwort „Patchwork Identity“ – noch als Verlust der gesellschaftlichen Verankerung der Individuen – Stichwort „Flexibler Mensch“ –, sondern als erst in alltäglichen Praktiken der Absicherung herzustellende Gemengelage heterogener Elemente, die inkonsistente und widersprüchliche gesellschaftliche Angebote und Anforderungen zu einer individuell alltagstauglichen Lebenssicherheit zusammen führen. Wie höchst unterschiedliche, zufällig vermischte geologische Substanzen in der Gesteinsform des Konglomerates zu einer vorübergehend stabilen Form verbunden werden, sind moderne Individuen bestrebt, aus dem heterogenen Gemenge gesellschaftlicher Vorgaben alltagstaugliche Konglomerate zu bilden, die nicht mehr aus dem Granit traditionaler Rollenbilder gefügt sind, sich aber auch nicht im Geröll moderner Beliebigkeit verlieren, sondern Vielfältiges in lockeren Festigkeiten zusammenhalten.

 

 

KONGLOMERATION bezeichnet ein Gefüge von homogenen und heterogenen menschlichen Erfahrungen, die durch Ent- und Absicherungspraktiken auf pragmatische Weise zu einer lebenstauglichen Ganzheit zusammen geführt werden. Diese Praktiken entwickeln sich entlang alltäglicher Anforderungen, gestalten und bewältigen sie und stellen zumindest vor–übergehend eine Situation her, die als lebbar erfahren wird. Die so von Alltagsmenschen faktisch hergestellte „Biose“, d.h. (Über)lebensfähigkeit, indendiert eine temporäre individuelle Absicherung in insgesamt unsicher gewordenen Sozialwelten.

 

 

Bei der Forschungskonferenz wurden einerseits einige der grundlegenden theoretischen Konzeptionen des Projekts nochmals kritisch durchleuchtet. Gabriele Klein, Universität Hamburg, referierte über die figurative Soziologie des „Menschenwissenschaftlers“ Norbert Elias; Robert Schmid, FU Berlin, über die empirische Erforschung sozialer Praktiken im Rahmen der Praxeologie Pierre Bourdieus, Benjamin Jörrisen, Universität Magdeburg, über Identität im Diskurs der Historischen Anthropologie und Susanne Maurer, Universität Marburg, über die Möglichkeiten einer „Werkzeugkiste“ empirischer Forschung auf der Basis der Denkfiguren und Erkenntnisstrategien Michel Foucaults. Marianne Gronemeyer (FH Wiesbaden) unterzog das für das Projekt zentrale Konzept der Absicherung einer zivilisationskritischen Analyse. Insgesamt zeigte sich ein bei aller Notwendigkeit kritischer Rezeption und Weiterentwicklung ein hoher Grad der Angemessenheit dieser zwischen Gesellschaftsanalyse und Subjekttheorie angesiedelten Denksysteme in Bezug auf die Perspektive des Projekts. Die von Gabriele Klein angeregte Ergänzung des Spektrums aus dem Theorie- und Methodenbestand der Cultural Studies stellt bereits eine solche in der Tagung entstandene Weiterentwicklung dar.

 

 

Die Vorstellung und Diskussion der Teilprojekte am zweiten Tag stellte einen Höhepunkt der Forschungskonferenz dar. Die insgesamt zwölf Teilprojekte orientieren sich alle an der Gesamtperspektive des Projekts und streben an, dieser anhand unterschiedlicher Lebensausschnitte und methodischer Zugänge theoretisch und empirisch nahe zu kommen. Der Anspruch des Projekts besteht gerade in der Herausarbeitung von Übereinstimmungen und Unterschieden konglomerierender Alltagspraktiken in unterschiedlichen Lebenskontexten:

 

  • Kindheit und Erziehung
    Anna Bergmann, Univ. Frankfurt/Oder: Kindheit im Spannungsfeld von Liebe und Arbeit. Wandlungsprozesse des Alltags von Kindern, Müttern und Vätern in der Kultur der Industriegesellschaft

  • Elternschaft
    Dorle Klika, Univ. Siegen: Absicherungspraktiken junger Eltern im Alltagsgeschäft der Erziehung
    Maria A. Wolf, Univ. Innsbruck: Ratlose Eltern? Erziehungspraxis im Spannungsfeld von sozialem Erbe, Entgrenzung von Bildung und der Rückkehr sozialer Unsicherheit

  • Jugend und Familie
    Birgit Althans / Sebastian Schinkel, FU Berlin: Haushaltende Kräfte. Zum Verhältnis von Interesse, Distanz und Verausgabung in Jugend und Familie
    Birgit Althans: Produktive Verschwendung und Figurationen von Respekt in der Clique
    Sebastian Schinkel: Umgangsweisen mit Langeweile und Konflikt in der Familie 

  • Konsum
    Gabriele Sorgo, Univ. Wien: Die Lebenswelt zusammenfügen. Einkaufen als Taktik subjektiver Absicherung

  • Migration
    Michaela Ralser, Univ. Innsbruck: Mobilität unter den Bedingungen globaler Prekarisierung. Mikrokosmen sozialer Ent/Sicherung an der Schnittstelle zwischen den Mobilen auf hohem und den Mobilen auf niedrigem Niveau

  • Normalität/Psychpathologie
    Edith Seiffert, FU Berlin/Univ. Innsbruck: Psychische Strategien subjektiver Absicherung

  • Risiko
    Helga Peskoller, Univ. Innsbruck: Außer Gewohnheit. Eine empirische Vergleichsstudie zur subjektiven Absicherung in extremen Lebenslagen

  • Kunst
    Hanne Seitz, Univ. Potsdam: Temporäre Komplizenschaften. Künstlerische Intervention im sozialen Raum
  • Geschichte/Bilder
    Franz Baur, Univ. Innsbruck: Nähren und Bergen. Eine mittelalterliche Ikonographie der Sicherheit

  • Alltagspraxis
    Bernhard Rathmayr, Univ. Innsbruck: Miniaturen des Selbst. Praktiken subjektiver Selbstermächtigung in der Kontrollgesellschaft

 

Eine Publikation aller Beiträge zur Forschungskonferenz ist für Januar 2008 in den Conference Series der Innsbruck University Press (IUP) geplant.