Auf der Suche nach der EINEN französischen Sprache

Sprachliche Variation in Vergangenheit und Gegenwart war das Thema eines Symposiums, zu dem der interdisziplinäre Frankreich-Schwerpunkt der Universität Innsbruck am Freitag, 30.11. und Samstag, 1.12.2007, eingeladen hatte.
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Die TeilnehmerInnen des Symposiums mit dem Organisationskomitee Prof. David Trotter (5. v. li.), Prof. Maria Iliescu (neben Prof. Trotter), Prof. Françoise Gadet (neben Prof. Iliescu) und der Leiterin des interdisziplinären Frankreich-Schwerpunkts der Universität Innsbruck, Prof. Eva Lavric (neben Prof. Gadet).

„Soll die Geschichte des Französischen neu geschrieben werden?“, unter diesem Titel debattierten fünfundzwanzig hochkarätige ForscherInnen aus dem Bereich der romanistischen Varietätenlinguistik. Organisiert wurde die Tagung von Prof. Maria Iliescu (Innsbruck) gemeinsam mit Prof. Françoise Gadet (Paris) und Prof. David Trotter (Aberystwyth).

 

Nach einem fulminanten Auftakt am Donnerstag Abend, als im Rahmen des heurigen Frankreich-Tags der Universität Innsbruck die Frankreich-Preise an vier herausragende Nachwuchswissenschaftlerinnen verliehen wurden, eröffnete Rektor Karlheinz Töchterle am Freitag früh das eigentliche Symposium in sehr angemessener Weise, nämlich in lateinischer Sprache.

 

Latein ist ja bekanntlich die Mutter aller romanischen Sprachen und damit auch des Französischen. Und so konnten nach diesem Einstieg die ForscherInnen bei den Vorträgen gleich mit den Alt- und Mittelfranzösischen Sprachen anschließen, von denen sie im Laufe der beiden Tage bis zu den aktuellen Sprachstufen in Frankreich und der Frankophonie vordrangen.

 

Leitgedanke war dabei der Begriff der Variation: Denn eine Sprache ist kein einheitliches, monolithisches Ganzes, auch wenn sie von den normativen Grammatiken gerne so beschrieben wird. Sie variiert „diachron“ in der Zeit (ältere Sprachstufen), „diatopisch“ im Raum (Dialekte und Regiolekte), „diastratisch“ je nach sozialer Schicht der SprecherInnen (Soziolekte) und „diaphasisch“ je nach – formeller oder informeller – Gebrauchssituation (die sogenannten Sprachregister).

 

Diese vielfältige sprachliche Variabilität ist erst in letzter Zeit verstärkt in den Fokus der sprachwissenschaftlichen Forschung gerückt. Nachdem im 19. Jahrhundert die großen europäischen Sprachen in historischer Perspektive („diachron“) erforscht worden waren, hatte sich das 20. Jahrhundert im Anschluss an Saussure mit der „synchronen“ Linguistik, d.h. mit der Beschreibung der Gegenwartssprachen, beschäftigt. Beide Strömungen hatten allerdings dazu tendiert, die soziale und regionale Variation als marginal zu betrachten und sich in ihrer Beschreibung stark auf die – als einheitlich angenommene – Standardsprache konzentriert. Das seit dem 17. Jahrhundert (Académie française!) stark normierte Französisch bot dafür scheinbar ideale Voraussetzungen.

 

Nun, im 21. Jahrhundert, erkennt die Forschung allerdings, dass selbst das als monolithisch bekannte Französisch in sich eine beträchtlich Bandbreite an Variationen aufweist, und zwar nicht nur in den frankophonen Ländern (Belgien, Schweiz, Québec, Karibik, Afrika…), sondern auch innerhalb Frankreichs selbst. Und es stellt sich heraus, dass dem eigentlich immer schon so war, dass aber die sozialen und regionalen Varietäten wie auch die situationalen Register von der Forschung bisher weitgehend ausgeklammert worden waren.

 

Daher ist es tatsächlich an der Zeit und genau jetzt auch der Moment gekommen, Grammatik und Geschichte des Französischen neu zu schreiben. Zwei monumentale Projekte sind diesbezüglich in Frankreich gerade im Laufen bzw. vor kurzem begonnen worden, und von beiden konnten die Galionsfiguren zum Innsbrucker Kolloquium eingeladen werden: Françoise Gadet (Paris) stellte ihr Projekt einer neuen Grammatik der französischen Sprache vor, die soziale und regionale Variation systematisch einbezieht; und Christiane Marchello-Nizia (ebenfalls Paris) präsentierte ein ähnliches Projekt, aber in der Diachronie, und bestätigte damit die im Titel des Kolloquiums geäußerte Vermutung, dass die Geschichte des Französischen tatsächlich neu geschrieben werden muss.

 

Als ein Beispiel für einen neuen Blick auf bekannte sprachgeschichtliche Materialien sei hier noch der Vortrag von Andres Kristol (Neuchâtel, Schweiz) zitiert, der an das bekannte Tagebuch von Jean Héroart aus dem beginnenden 17. Jahrhundert mit ganz neuen Fragestellungen heranging. Jean Héroart war der Leibarzt des kindlichen Ludwig XIII., und er führte ein minutiöses Tagebuch über den  Alltag und die Entwicklung seines königlichen Patienten, indem er dessen kindersprachliche Äußerungen und generell die Gespräche rund um den künftigen König sehr getreu wörtlich aufzeichnete. In diesem Material untersuchte nun Kristol die Anredeformen sämtlicher Beteiligten, als Ausdruck der – übrigens streng hierarchischen – sozialen Struktur. Er fand heraus, dass die königlichen Kinder (legitime und illegitime Nachkommen Heinrichs IV.) bis zu ihrer Taufe im Alter von sieben oder acht Jahren keinen Vornamen besaßen und auch nicht mit einem solchen angesprochen wurden; die männlichen Sprösslinge hatten einen Adelstitel (Monsieur le Dauphin, Monsieur d’Anjou, Monsieur d’Orléans…), dank dem man sie von den anderen unterscheiden konnte; die Mädchen aber wurden undifferenziert alle als Madame bezeichnet, was durchaus auch zu Unklarheiten und Missverständnissen führen konnte.

 

Sämtliche TeilnehmerInnen lobten das Kolloquium als eines, das mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben hat, was für eine wissenschaftliche Veranstaltung an der Speerspitze der aktuellen Forschung durchaus als Adelsprädikat aufzufassen ist.