Lavantgrüße aus Moskau

Die „Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität“ in Moskau lud am 17. und 18. September 2007 zu einer Tagung über die österreichische Schriftstellerin Christine Lavant, an der drei MitarbeiterInnen der Uni Innsbruck teilnahmen.
Christine Lavant [Foto: Erentraud Müller]
Christine Lavant [Foto: Erentraud Müller]

Dr. Ursula Schneider und Dr. Annette Steinsiek (Forschungsinstitut Brenner-Archiv) und Prof. Wolfgang Wiesmüller (Institut für deutsche Sprache, Literatur und Literaturkritik) sind sich einig: „Die Arbeitsatmosphäre war zugleich professionell und herzlich, es fand ein inhaltlicher Austausch statt, der die Forschungen gegenseitig anregte und belebte. Die Einladung war eine Ehre, und wir freuen uns, diese Kolleginnen und Kollegen zu kennen!“

 

 

Die Russische Geisteswissenschaftliche Universität (РГГУ/RGGU, engl. Abk. RSUH) ist eine 1991 gegründete Reformuniversität im Zentrum von Moskau und inzwischen die größte universitäre Neugründung Russlands nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Die Universität legt großen Wert auf ein internationales Profil und war von Anfang an im deutsch-russischen Wissenschaftsaustausch aktiv. Der Lehrstuhl für Deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft („Thomas Mann-Lehrstuhl“) wurde von der RGGU gemeinsam mit dem Deutschen Akademischen Austausch Dienst (DAAD) gegründet. Neben Germanistik kann man am Lehrstuhl für Deutsche Kultur- und Literaturwissenschaft der RGGU auch Austriazistik und Helvetistik studieren. Dr. Natalia Bakshi, die Lehrbeauftragte für diese beiden Fächer, organisierte die Tagung „Christine Lavant. Leben und Werk“, die vom Österreichischen Kulturforum der Österreichischen Botschaft in Moskau finanziell ermöglicht wurde.

 

 

Das zweitägige Symposion wurde mit einem Vortrag von Prof. Wolfgang Wiesmüller eröffnet, der den literaturhistorischen Kontext der österreichischen Lyrik nach 1945 vorstellte. Annette Steinsieks Beitrag stellte einigen kulturell probaten Klischees „Korrekturen aus der Quellenforschung“ gegenüber – die Biographin zeigte Lücken und Tücken sowie neue Ansätze der Biographieschreibung von Christine Lavant auf.

 

 

Prof. Dr. Dirk Kemper, Leiter des Lehrstuhles für Germanistik an der RGGU, analysierte eine Erzählung Christine Lavants im Hinblick auf die Überblendungstechnik, in der, ganz im Sinne der Moderne, eine Fokalisierungsinstanz die Autorisierungsinstanz verdrängt, was den spezifischen literarischen Reiz dieser Prosa ausmacht.

 

 

Der zweite Tag begann wiederum mit einem einführenden Überblick: Wolfgang Wiesmüller referierte zur „Biblisch-christlichen Intertextualität in der österreichischen Lyrik nach 1945“ und gab dabei methodologische Hinweise zur Referenzforschung, die in den darauf folgenden Diskussionen mitreflektiert werden konnten. Ursula Schneider sprach über das ‚Religionsamalgam’ in Lavants Gedichten – nicht nur das Christentum, sondern auch die Auseinandersetzung mit Buddhismus und Judentum haben (neben anderen Glaubens- und Geisteshaltungen) belegbaren Widerhall in den Gedichten hinterlassen. Die folgenden beiden Beiträge waren komparatistisch angelegt und eröffneten den Innsbrucker TeilnehmerInnen neue Perspektiven aus der Sicht der anderen Kultur(wissenschaft): Prof. Dr. Nina S. Pavlova zeigte Parallelen zwischen der Lyrik von Marina Zwetajewa und Christine Lavant auf, Dr. Natalia Bakshi untersuchte Bezüge in der Prosa, besonders zwischen Lavants „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“ und Fjodor M. Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ – wobei sie zeigte, dass in Russland ein anderes Gattungsverständnis von „Aufzeichnungen“ besteht als in deutschsprachigen Ländern.

 

 

An den Nachmittagen fanden Workshops statt – zum gegenseitigen Erklärungszusammenhang von Textanalyse und Edition anhand der Lavant-Editionen am Brenner-Archiv (U. Schneider, A. Steinsiek) sowie zum Versuch und Problem der Übersetzung Lavantscher Gedichte ins Russische, geleitet von Vjatscheslav Kuprijanov, der durch seine Übersetzungen österreichischer moderner Literatur (u.a. Hofmannsthal, Rilke, Fried) und durch eigene literarische Werke in Russland bekannt ist. Auch für die deutschsprachigen TeilnehmerInnen taten sich Abgründe auf – wie übersetzt man die gerade für Lavant typischen Komposita in eine Sprache, die genau diese Form nicht kennt? Wo Lavant „sumpfflockenbüschelige Blicke“ wirft, braucht es mutige Zusammenarbeit, um ihr zu begegnen. Die Ergebnisse werden der Öffentlichkeit in einem Dossier der nächsten „Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv vorgestellt.