Die Erfindung der Tradition

Vor etwa drei Jahren hat die Architekturtheoretikerin Bettina Schlorhaufer das Archiv der Südtiroler Entrepreneure Musch und Lun geöffnet.Die über 100 Kassetten erzählen viel über die Gründerzeit in Südtirol und die Dynamik von Innovation.
Historische Aufnahme der Villa Ultenhof
Die Villa Ultenhof in Meran, kurz nach der Fertigstellung: Das Foto zeigt auch den bis heute gut erhaltenen Garten. Foto: Stadtarchiv Meran, Sign. 16881

Die unter Denkmalschutz stehende Villa Ultenhof in Meran ist für Priv.-Doz. Dr. Bettina Schlorhaufer vom Institut für Architekturtheorie ein Schlüsselbauwerk, das Wesentliches über die Arbeit der Südtiroler Entrepreneure Musch & Lun offenbart. Ab 1880 in Südtirol tätig trieb das höchst erfolgreiche Bureau für Architektur und Ingenieurbau Merans Entwicklung zur Stadt maßgeblich voran. Musch & Lun brachten wichtige technologische Fortschritte wie die Elektrizität in die Region und prägten die Tourismusarchitektur Südtirols maßgeblich. Sie realisierten zudem zahlreiche Projekte für private Bauherren, so auch die Villa Ultenhof, die der österreichische Bildungsreformer Armand Freiherr Dumreicher von Österreicher für seine Frau Adele bauen ließ. Die an eine Burg erinnernde Villa mit ihren pittoresken Türmen, Loggien, Zwillingsfenstern und dem großen Saal im Inneren wirkt auf den ersten Blick wie eine Nachahmung des sogenannten Überetscher Stils, der ins 16. Jahrhundert zurückdatiert. Bei einer genauen Studie des Objekts, das sich heute im Privatbesitz befindet, kam Bettina Schlorhaufer gemeinsam mit ihren Master-Studierenden zu einem anderen Ergebnis: „Die Villa ist überhaupt nicht rückwärtsgewandt. Im Gegenteil, sie stellte das Neueste dar, was es damals überhaupt gab.“ Die Innovation beginnt beim scheinbar historischen Erscheinungsbild, das ein von Musch & Lun beauftragter Künstler durch die bewusste Kombination unterschiedlicher Stilelemente aus unterschiedlichen Gegenden und Epochen entworfen hat. Auch der Überetscher Stil findet in diesem Potpourri seinen Niederschlag, allerdings nicht ganz so offensichtlich, wie es zunächst scheint. So ist zum Beispiel der große zentrale Raum, der als Rückgriff auf den Mittelsaal alter Adelssitze verstanden werden kann, in Wahrheit eine Anlehnung an die in Großbritannien verbreitete Great Hall. „Die Rückbezüge auf scheinbare Traditionen sind ein Phänomen des 19. Jahrhunderts, das sich in vielen Bereichen der Alltagskultur niederschlägt“, erklärt Schlorhaufer und bezieht sich auf die britischen Historiker Eric Hobsbawm und Terrence Ranger, die zahlreiche Beispiele für erfundene Traditionen des 19. Jahrhunderts in ihrem Buch „The Invention of Tradition“ anführen, zu denen nicht zuletzt der schottische Kilt zählt. „Vor diesem Hintergrund müssen wir auch den Regionalismus in der Architektur neu einordnen. Er ist eine Innovation und sollte als solche betrachtet werden“, so Schlorhaufer, die das Werk von Musch & Lun aus der Perspektive der Innovationsforschung betrachtet. „Die Innovationsforschung beschäftigt sich mit der Frage, was zur Verbreitung einer Innovation beiträgt, das interessiert uns Architekturtheoretiker natürlich auch.“ Innovativ ist Villa Ultenhof übrigens auch in technologischer Hinsicht: Sie hat keinen Keller, sondern ein völlig ausgebautes Untergeschoß, in dem eine hochmoderne Niederdruckdampfheizung, eine der ersten Formen der Zentralheizung, eingebaut war.

Baukasten-Prinzip

Regionalistisch wirkende Architektur gepaart mit ultramoderner Technologie war im Übrigen ein bewährtes Erfolgsrezept von Musch & Lun, das sie zum Teil wie am Fließband umsetzten. Auch dafür ist die Villa Ultenhof ein Beispiel, sie hatte nämlich in der Villa Hübel einen Zwilling, der nicht mehr erhalten ist. „Sie haben sehr rationell gearbeitet und wollten wie im Baukasten-System bauen“, erklärt Schlorhaufer die Vorgehenswese von Musch & Lun, von der insbesondere ihre Hotelarchitektur zeugt. „Um die Jahrhundertwende entstehen eine Reihe von Hotelbauten auf der Basis eines Grundmodells. Sie sind sozusagen die Erfinder des Berghotels“, hebt Schlorhaufer ein bisher unbekanntes Phänomen hervor, dem sie sich in Zukunft widmen möchte, denn: Eine Hotelgeschichte Südtirol ist noch nicht geschrieben.

Zusammenschau

Und noch etwas Bemerkenswertes kann die Wissenschaftlerin von ihrer Arbeit mit dem Archiv von Musch & Lun berichten: Um ihren Auftraggebern immer die neuesten technologischen Entwicklungen, egal auf welchem Sektor, anbieten zu können, unternahmen sie gezielte Forschungsreisen in ganz Europa und betrieben das, was man heute als Benchmarking bezeichnet. „Ein Beispiel dafür ist das Jugendstiltheater in Meran. Um das Projekt vorzubereiten haben sie vierzehn Theater in Europa besichtigt. Zu jedem Besuch gibt es einen genauen Bericht“, erzählt Schlorhaufer, die sich weitere spannende und kuriose Erkenntnisse von der vertieften Aufarbeitung des Archivs erwartet. Zunächst einmal findet aber von 12. bis 13. November 2015 ein Symposium mit dem Titel „Innovation in Tradition“ in Innsbruck statt, bei dem sie ihre ersten Ergebnisse präsentieren wird. Die Fachveranstaltung markiert den Abschluss des ersten Teilabschnitts des Projekts „Musch & Lun. Architekten, Entrepreneure und Politiker der Gründerzeit in Südtirol“. In Kooperation mit dem Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich lädt man hochkarätige Vortragende wie den Amerikanisten David Nye von der University of Southern Denmark ein, der mit seinen Arbeiten über die großen Blackouts in Amerika bekannt wurde. Musch & Lun sind dabei Ausgangspunkt und Inspirationsquelle, um die Frage nach dem Innovativen in der Tradition aus verschiedenen Fachrichtungen zu betrachten. Wie groß das Interesse an der Veranstaltung ist, zeigt sich laut Schlorhaufer auch an der finanziellen Unterstützung, die sie von ihrem Institut, der Fakultät für Architektur, der Universität, aber auch vom Kooperationspartner, der Universität Zürich bekommt. „Wir werden die Köpfe zusammen stecken und andere Ansätze kennenlernen. Da die Architekturtheorie ohnehin so interdisziplinär angelegt ist, liegt es nahe, die Tore für möglichst viele Fachrichtungen zu öffnen“, freut sich Schlorhaufer auf das Symposium.

Entrepreneure Musch & Lun

Musch & Lun prägten wie kein anderes Bauunternehmen die Kulturgeschichte Südtirols in der Gründerzeit. Über das Leben von Ingenieur Carl Lun (1853–1925) ist einiges bekannt. Er besuchte das Gymnasium in Brixen und maturierte in Feldkirch. Ab 1872 studierte er am Polytechnikum München, ab 1877 an der Technischen Hochschule Wien. Erste berufliche Praxis erwarb Carl Lun in Bozen, 1880 übersiedelte er nach Meran, um gemeinsam dem Architekt Josef Musch (1852–1928) das Bureau für Architektur & Ingenieurbau Musch & Lun zu gründen. Die beiden waren nicht nur geschäftlich verbunden, sondern auch familiär: 1881 heiratete Josef Musch Carl Luns Schwester Maria. Die Wege der beiden trennen sichkurz vor dem Ersten Weltkrieg.

Dieser Artikel ist in der Oktober-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version ist hier zu finden (PDF).