Forschen im Literaturarchiv

Das Brenner-Archiv feiert dieses Jahr sein fünfzigjähriges Bestehen. Als Forschungsinstitut der Universität leistet es einen wertvollen Beitrag zurAufarbeitung der österreichischen und der Tiroler Kulturgeschichte.
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Erste Ausgabe des „Brenner“, des Namensgebers des Archivs. (Foto: Brenner-Archiv)

„Am Anfang stand die Frage: Was soll mit dem Nachlass von Ludwig von Ficker passieren?“, sagt Dr. Anton Unterkircher. Er ist einer von derzeit fünf fest angestellten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Brenner-Archivs, das dieses Jahr sein 50-jähriges Bestehen feiert. Die Existenz des Brenner-Archivs in Innsbruck beantwortet diese Eingangsfrage: „Damals wäre naheliegend gewesen, den Bestand der Nationalbibliothek in Wien zu überlassen. Prof. Eugen Thurnher, 1964 am Institut für Germanistik, setzte sich aber stark dafür ein, den Nachlass in Innsbruck an die Universität zu geben. Und er hat sich durchgesetzt, die Republik hat den Bestand von Ludwig von Ficker – er hat damals noch gelebt – gekauft und der Universität überlassen“, erzählt Anton Unterkircher. Damals eines der ersten Literaturarchive im österreichischen Raum, war das Brenner-Archiv seither auch Vorbild für mehrere ähnliche Gründungen in den anderen Bundesländern. Heute ist das Brenner-Archiv als literarisches und kulturhistorisches Forschungsinstitut und zugleich als Archiv fest verankert; zum Nachlass von Ludwig von Ficker kamen im Lauf der Zeit 232 weitere Sammlungen, Vorlässe und Nachlässe unterschiedlicher Personen hinzu.

Wachsende Forschungsfelder

Der indirekte Archivgründer Ludwig von Ficker war Herausgeber der Kulturzeitschrift „Der Brenner“, die zwischen 1910 und 1954 – mit einer Unterbrechung in der Zeit des Nationalsozialismus – erschien. Sein Nachlass, das Redaktionsarchiv der Zeitschrift, ist Namensgeber des Archivs. „Der ‚Brenner’ kann als eine Art West-Analogie zu Karl Kraus’ ‚Fackel‘ gesehen werden. Fickers Leistung als Herausgeber bestand darin, schriftstellerische Talente und theoretische Positionen durch Veröffentlichungen in die kulturelle Diskussion einzubringen“, erklärt Dr. Annette Steinsiek. Sie hat kürzlich ein FWF-Projekt zur Schriftstellerin Christine Busta abgeschlossen. „Ficker selbst öffnet uns durch seine Korrespondenz mit bekannten Kulturschaffenden immer neue Forschungsfelder“, sagt sie. So liegen im Brenner-Archiv unter anderem Briefwechsel zwischen Ficker und Paul Celan, Martin Heidegger, Christine Lavant, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl und auch mit Christine Busta. Bustas Nachlass haben im Jahr 2007 ihre Erben dem Brenner-Archiv als Schenkung übergeben.

Mit wachsenden Forschungsaufgaben begann sich das Archiv vom Institut für Germanistik zu emanzipieren, auch wenn es nach wie vor eng mit diesem verbunden ist. 1979 wurde das Brenner-Archiv zum eigenständigen Forschungsinstitut erhoben. „Durch diese ‚Umwidmung’ hat sich der Fokus auf die Forschung verstärkt – Forschung ergibt Forschung, buchstäblich, indem man im einen Projekt auf Fragen trifft, die einem Folgeprojekt Impulse geben können“, sagt Annette Steinsiek. „Der Busta-Nachlass, aus dem sich das Projekt ergeben hat, ist nicht zuletzt deshalb in Innsbruck, weil wir den Kontakt mit den Verwandten wegen eines FWF-Projektes zu Christine Lavant gesucht hatten“, ergänzt sie. An die vierbändige Auswahledition der Briefe von und an Ludwig (von) Ficker (1986-1996) etwa schließt nun ein FWF-Projekt an, das sich um Vollständigkeit der Briefe bemüht und die Vermittlertätigkeit Fickers darstellen wird.

Geschichten der regionalen Literaturlandschaft

Mit ihrer Forschung leisten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Brenner-Archivs auch einen bedeutenden Beitrag zur Aufarbeitung der Kulturgeschichte des Tiroler Raums: „In vielen Projekten eröffnen sich neue Perspektiven auf die kulturelle Überlieferung, und es lassen sich andere Facetten gängiger Vergangenheitsbilder zu Tage fördern“, sagt Christine Riccabona, die gemeinsam mit Anton Unterkircher das Lexikon „Literatur in Tirol“ aufgebaut hat und weiterhin betreut. Das Brenner-Archiv wird als Literaturarchiv auch von der Tiroler Landesregierung getragen, als Archiv für den Tiroler Raum einschließlich Südtirols. 1997 übersiedelte das Brenner-Archiv an den heutigen Standort in der Josef-Hirn-Straße. Dieser Umzug markiert auch die Gründung des dem Archiv angegliederten „Literaturhauses am Inn“, das auch für öffentliche Veranstaltungen des Archivs genutzt wird. „Dieser Umzug hat uns deutliche Sichtbarkeit gebracht, und mit dem Literaturhaus kommen wir der Aufgabe, die Ergebnisse unserer Arbeit auch der Öffentlichkeit zu vermitteln, besser nach“, sagt Anton Unterkircher.

Im Lauf der Jahre wurden zahlreiche große Projekte abgeschlossen: Etwa eine Wittgenstein-Edition, die zu weiteren Arbeiten zu Ludwig Wittgenstein geführt hat, darunter eine elektronische Aufarbeitung des Gesamtbriefwechsels des Philosophen; die historisch-kritische „Innsbrucker Trakl-Ausgabe“, die die Forschungsmöglichkeiten zu Georg Trakl auf ein neues Niveau gehoben hat; die Biografie des Südtiroler Philosophen Carl Dallago und vieles mehr. Mit dem Lexikon „Literatur in Tirol“ und der „Literatur-Land-Karte Tirol“ haben Forscherinnen und Forscher des Archivs auch online frei zugängliche Portale geschaffen, die einen umfassenden Überblick über (nicht nur) die Tiroler Literaturlandschaft bieten. „Viele unserer Forschungsprojekte haben in letzter Konsequenz eine Verbindung mit dem ‚Brenner’ und mit Ludwig von Ficker. Nicht zuletzt das zeigt die große Bedeutung des ‚Brenner’ für die Kulturlandschaft des 20. Jahrhunderts“, sagt Christine Riccabona. Im Herbst findet in Kooperation mit dem Landestheater eine Veranstaltung zum 60. Todestag des Schriftstellers und Zeichners Fritz von Herzmanovsky-Orlando statt, dessen Nachlass im Brenner-Archiv aufbewahrt wird. Seine Werke wurden in 10 Bänden in den Jahren 1983 bis 1994 herausgegeben. Ein FWF-Projekt zu Joseph Zoderer ist vor kurzem bewilligt worden.

Künftige Herausforderungen

Die Materialität der Nachlässe ändert sich mit den Jahren: Von alten Tonbändern bis hin zu Festplatten der jüngeren Generation muss alles der Langzeitarchivierung zugeführt werden. „Eine Aufgabe für die nächsten Jahre ist sicher der Umgang mit der digitalen Welt: Zum einen geht es da um die Digitalisierung unserer Archivalien, andererseits auch um künftige Nachlässe selbst, da sich die Arbeit einer Schriftstellerin, eines Schriftstellers durch Computer natürlich verändert hat“, sagt Anton Unterkircher. Am 13. Juni fand im Brenner-Archiv außerdem eine Tagung zum 50-jährigen Bestehen des Archivs mit dem Titel „Erster Weltkrieg: Attraktion und Trauma“ statt. Teil dieser Tagung war auch ein öffentliches Interview mit den beiden bisherigen Leitern des Archivs, Prof. Walter Methlagl (1964 bis 2001) und Prof. Johann Holzner (2001 bis 2013) sein. Die Position des Institutsleiters ist derzeit nur interimistisch besetzt, noch 2014 soll aber der neue Leiter bzw. die neue Leiterin gefunden sein.

Dieser Artikel erscheint in der aktullen Ausgabe von „Zukunft Forschung“, dem Forschungsmagazin der Universität Innsbruck. Eine digitale Version der Magazin-Ausgabe ist hier zu finden.