Exotische Beute

Neben klimatischen Entwicklungen zählt der Einfluss invasiver Arten aus der Tier- und Pflanzenwelt zu den wichtigsten Ursachen für den globalen Wandel. Dr. Anita Juenuntersucht die Auswirkungen der Ankunft eines asiatischen Regenwurms auf Räuber-Beute-Beziehungen in einem der ältesten Wälder der Erde in den USA.
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Der asiatische Regenwurm Amynthas agrestis tritt als invasive Art in den USA immer stärker in Erscheinung. Bild: Anita Juen

Sie lockern das Erdreich auf, kompostieren abgestorbene Pflanzenreste und tragen zu einem „gesunden“ Boden bei: Regenwürmer gelten als Nützlinge und sind in jedem Garten gern gesehene Gäste. Doch bereits seit einigen Jahren beginnt das positive Image dieser Würmer immer stärker zu wackeln. „Einige Arten breiten sich angesichts der verstärkten internationalen Vernetzung auf der ganzen Welt aus und können unter Umständen ganze Ökosysteme verändern“, erklärt Anita Juen vom Institut für Ökologie der Universität Innsbruck. Die Wissenschaftlerin befasst sich mit Themen wie Artenvielfalt in landwirtschaftlich genutzten Flächen oder natürliche Schädlingsregulation und erforscht mithilfe molekularer Methoden Entwicklungen in Nahrungsnetzen. In einem vom FWF geförderten Projekt mit dem Titel „Einfluss invasiver Arten auf Räuber-Beute-Beziehungen“ untersucht die Ökologin am Beispiel der asiatischen Regenwurmart Amynthas agrestis mögliche Konsequenzen dieser Invasion nicht-heimischer Würmer in einem Nationalpark im Osten der USA. Während zahlreiche Studien die teils massiven Auswirkungen auf Bodenstruktur oder Vegetation belegen, ist das Wissen über potenzielle Veränderungen in Nahrungsnetzen bisher sehr lückenhaft. „Regenwürmer spielen in der Nahrungskette eine wichtige Rolle und stehen am Speiseplan zahlreicher Arten“, sagt Juen. „Ich habe mir die Frage gestellt, ob das Eintreffen einer neuen Spezies Auswirkungen auf das Beuteschema räuberisch lebender Tiere hat“.

Regenwurm auf Reisen

Der Great-Smoky-Mountains-Nationalpark erwies sich als idealer Ort, um nach Antworten auf diese Frage zu suchen. Der Nationalpark liegt in den Appalachen auf dem Gebiet der beiden US-Bundesstaaten North Carolina und Tennessee. Als Weltnaturerbe gehört er nicht nur zu den ältesten Wäldern der Erde, sondern zeichnet sich durch Unberührtheit und Artenvielfalt aus. Neben heimischen und einigen europäischen Regenwurm-Arten fiel im Nationalpark in den letzten Jahren ein stark vermehrtes Vorkommen von Amynthas agrestis auf. „Mein Kooperationspartner vor Ort, Dr. Paul Hendrix von der University of Georgia, forschte viele Jahre zum Thema invasive Regenwürmer und machte mich auf diese Entwicklung aufmerksam“, erzählt Juen. Die nicht-heimischen Würmer gelangten im Zuge der internationalen Schifffahrt in die USA, die Ausbreitung im Nationalpark erfolgte vermutlich durch Fischer, die den asiatischen Regenwurm gerne als Köder benutzten. „Der Zeitpunkt des Beginns dieser Invasion ist schwer rekonstruierbar, da Regenwürmer aufgrund ihres Lebensraumes nicht sofort auffallen".

Schlüssel Darminhalt

Der bis zu 20 Zentimeter lange asiatische Regenwurm, im Englischen auch als „crazy snake worm“ bezeichnet, bewegt sich schlangenartig fort und kann bei Gefahr springen. Er lebt an der Bodenoberfläche unter der Streu und wäre somit potenzielles Futter für viele Tiere. Gemeinsam mit der Dissertantin Daniela Straube sowie sieben Diplomandinnen und Diplomanden nahm die Ökologin schließlich drei räuberische Tiergruppen in ihre Untersuchungen auf: Laufkäfer, Hundertfüßer und Salamander. „Diese Räuber kommen im Nationalpark in sehr großer Anzahl vor und wir wissen, dass sie Regenwürmer grundsätzlich fressen.“ In insgesamt drei mehrmonatigen Forschungsaufenthalten legte die Ökologin zunächst Standorte mit Vorkommen des asiatischen Regenwurms und Vergleichsstandorte ohne Vorkommen fest. An diesen Orten untersuchte Juen das Beutespektrum der Räuber anhand des Darminhaltes, allerdings durften die Tiere entsprechend einer Auflage des Nationalparks dabei nicht zu Schaden kommen. Die Ökologin und ihr Team verwendeten daher non-invasive Methoden und bezogen ihre Informationen aus Untersuchungen von Proben in Form von Kot-Pellets oder Regurgitaten (Erbrochenem). „Nach einem Verdauungsvorgang bleiben nur sehr wenige erkennbare Beutereste übrig. Die Bestimmung der Nahrungsquelle ist daher nur mithilfe modernster molekularer Techniken möglich“, erklärt Juen. Die Forscherin erstellte nicht nur für den Regenwurm Amynthas agrestis, sondern auch für eine Vielzahl anderer potenzieller Beutetiere so genannte „molekulare Marker“. „Diese Marker detektieren innerhalb kürzester Zeit die DNA der Beutetiere in den Proben – unabhängig davon, wie stark das Gefressene bereits verdaut ist“. Diese molekularbiologischen Darminhaltsanalysen ermöglichen somit genaue Aussagen über das Nahrungsspektrum und dessen Veränderungen, auch wenn die Tiere nicht direkt beim Fressen beobachtet werden können. Die Analyse basiert auf einem DNA-Vervielfältigungsmechanismus, der Polymerasen-Kettenreaktion (PCR), die in Kombination mit spezifischen Markern die DNA der jeweiligen Beute zuweisen kann. Diese Marker werden für all jene Arten oder Tiergruppen designt, die im Beutespektrum vermutet werden und detektieren bereits kleinste DNA-Mengen im Darminhalt, Kot oder in Regurgitaten.

Weitere Invasoren

Die Analyse der Nahrung von Laufkäfern, Salamandern und Hundertfüßern zeigt, dass Amynthas agrestis zwar grundsätzlich gefressen wird, aber keine bevorzugte Beute darstellt. „Der Anteil des asiatischen Regenwurms im Beutespektrum bewegt sich zwischen zwei und 15 Prozent“, verdeutlicht Juen. „Die Tiere scheinen von den Neuankömmlingen relativ unbeeindruckt zu sein. Das Gleichgewicht in den bereits bestehenden Räuber-Beute-Beziehungen wird in unseren Standorten kurzfristig nicht gestört“. Die Betonung liegt laut Juen aber auf kurzfristig. „In einem Untersuchungszeitraum von drei Jahren können wir nur Teilaspekte dieser komplexen Zusammenhänge beleuchten, aber wir müssen davon ausgehen, dass die weitere Ausbreitung der invasiven Regenwürmer auf lange Sicht nicht ohne Konsequenzen für die Nahrungsketten bleibt, da sich die Habitate der heimischen Tiere ändern“. Die Forscherin stellte im Zuge ihrer Untersuchungen unerwartet fest, dass sich bereits zwei weitere asiatische Regenwurm-Arten im Nationalpark etablieren konnten. „Hier gäbe es noch viel Forschungsbedarf, denn das Wissen über Nahrungsbeziehungen und die Dynamik in Nahrungsnetzen ist nicht nur von ökologischer Bedeutung, sondern hat auch praktische Relevanz, da es die Grundlage für die Entwicklung nachhaltiger Regulationsstrategien darstellt“, sagt Juen.

Dieser Artikel ist ursprünglich im Forschungsmagazin der Uni Innsbruck, „Zukunft Forschung“, erschienen. Eine digitale Version der Magazin-Ausgabe ist hier zu finden (Einzel-PDFs).