Und führe uns (nicht) in Versuchung

Der Kapitalismus offeriert den Menschen Freizeitaktivitäten, Konsumgüter und Träume, die die Kirche, die Riten und religiösen Inhalte sukzessive verdrängen.Jochen Hirschle untersucht den religiösen Wandel in der Konsumgesellschaft aus soziologischer Sicht. Jósef Niewiadomski wirft einen theologisch-religiösen Blick auf das Thema.
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Der Weihnachtsmarkt ist ein Konsumangebot, das den religiösen Rahmen verwendet, um ihn mit sozialen Inhalten zu füllen. Foto: TVB Innsbruck/Christoph LacknerBevölkerung

Anfang Dezember und das Weihnachtsfest naht. Seit fast zwei Monaten findet man Lebkuchen, Schokoladennikoläuse, Zuckerstangen, Christbaumkugeln, Lichterketten und Weihnachtsdekoration, die die Bevölkerung als eine Art symbolisches Inventar in eine weihnachtliche Stimmung bringen soll, in den Geschäften. Die Einkaufsstätten sind entsprechend ausstaffiert, die Dekoration wurde gewechselt und der weihnachtlichen Atmosphäre angepasst. „Weihnachten ist ein schönes Beispiel dafür, wie der Markt operiert“, erklärt Dr. Jochen Hirschle vom Institut für Soziologie der Universität Innsbruck. „Man darf sich das nicht so vorstellen, dass Weihnachten aufgrund des Eingreifens des Marktes auf der Sinnebene verschwindet. Der Markt hat kein Interesse daran, kulturellen Wandel an sich zu erzeugen oder die Religion zu verdrängen, sondern der Markt übernimmt vielmehr kulturelle Ideen, um damit Waren absetzen zu können. Weihnachten ist heute kaum noch vorstellbar ohne seine Ausgestaltung durch den Konsumprozess.“ Hirschle spricht von einem religiösen Wandel in der Konsumgesellschaft. Betrachtet man Religion von ihrer sozialen Seite, erkennt man einen Wandel der sozialen Routineaktivitäten von Individuen. Religion hat insofern eine soziale Funktion, als dass sie Menschen auf unterschiedlichste Art und Weise zusammenführt. Ein klassisches Beispiel ist der Kirchgang, den man in allen Religionen – auf die eine oder andere Weise – findet. Dabei werden Menschen räumlich zusammengeführt und durch die Riten zu kollektiven Handlungen angeregt. Die religiöse Praxis spielt daher eine bedeutende Rolle für die Integration der Gemeinschaft auf der Mikroebene. „Seit Jahrzehnten stellt man fest, dass die Religion in Europa an Bedeutung verliert und die Menschen nicht mehr in die Kirche gehen. Mich interessiert, wie man diesen religiösen Wandel erklären kann“, so der Innsbrucker Soziologe.

Religiöser Wandel ist kein Wandel dahingehend, dass Menschen von heute auf morgen ihren Glauben verlieren, sondern dass es zu einem schrittweisen Austausch des Inventars kommt, mit dessen Hilfe man soziale Praktiken ausübt. „Der Konsum übernimmt einige dieser sozialen Funktionen der Religion. Konsum besteht heute nicht mehr nur darin, etwas zu kaufen, um Grundbedürfnisse zu stillen. Konsumieren ist in unserer Gesellschaft kein rein ökonomischer Akt, sondern vielmehr ein kultureller“, erläutert Hirschle den modernen Konsum. Das Angebot an soziokulturell kodierten Produkten, Dienstleistungen und Infrastrukturen wie Shopping Malls, Multiplex Kinos, Kaffeebars, Freizeitparks und Urlaubsressorts ist immens groß. Aus Verkäufersicht geht es um den Verkauf von Produkten, aus Sicht des Konsumenten jedoch vorwiegend um die soziokulturelle Tätigkeit, die mit dem Konsumprozess verbunden ist. „Obwohl der Besuch von Diskotheken, Clubs oder Konzerten mit einer Vielzahl ökonomischer Transaktionen verbunden ist, steht für den Besucher der soziale Aspekt im Vordergrund. Die Eintrittskarte, die Getränke, die Musik und gegebenenfalls die Kleidung, die für den Anlass erworben wurde, dienen weniger dem individuellen Verbrauch, sondern dem Ausleben sozialer Beziehungen.“ Auch der Weihnachtsmarkt ist ein Konsumangebot, das den religiösen Rahmen dazu verwendet, um ihn mit sozialen Inhalten zu füllen. Man trifft sich mit Freunden, um Glühwein zu trinken und gemeinsam eine schöne Zeit zu verbringen oder man besucht den Markt mit der Familie, um Tiere zu streicheln, Süßigkeiten zu naschen und Weihnachtsdekoration zu kaufen. Es geht um die soziale Kommunikation, die dadurch besteuert wird, nicht um den Konsum an sich.

In einer Studie konnte Hirschle anhand von deutschen Katholiken im Alter zwischen achtzehn und fünfunddreißig Jahren zeigen, dass ein systematischer Zusammenhang zwischen einer Abnahme des Kirchengangs und einer Zunahme des Freizeitbesuchs im Zeitverlauf von 1984 bis 2007 bestand. Hirschle ist der Meinung, dass „die Menschen nicht deswegen nicht mehr in die Kirche gehen, weil sie keinen Glauben mehr haben, sondern weil der säkulare Markt alternative Gelegenheiten für die Verwirklichung sozialer Praktiken bietet. Der Glaube verschwindet dann erst allmählich, weil die Menschen den Kontakt zur Kirche als Sozialisationsinstanz religiöser Inhalte verlieren.“ Den Effekt, dass mit der Abnahme des Kirchgangs langsam auch die religiöse Orientierung zurückgeht, kann man bereits in anderen Ländern wie zum Beispiel Großbritannien, das sehr atheistisch geprägt ist, gut erkennen. Nichts desto trotz hat die Religion einen Bereich, in dem sie Antworten auf essentielle Fragen der Menschen gibt, den der Markt nicht decken kann. „Dennoch wird sie natürlich immer stärker zu einem Randphänomen und je stärker sie zu einem Randphänomen wird, umso weniger wird sie auch für derartige Fragestellungen relevant sein“, so der Soziologe.

Konsum als Religion? - Ein Gespräch mit Jósef Niewiadomski

Der Theologe und Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät Univ.-Prof. Dr. Jósef Niewiadomski sieht Parallelen zwischen Konsum und Religion. Mit inhaltlicher Kontinuität und Kultivierung des menschlichen Begehrens hat die Religion indes einen längeren Atem als die Marktreligion.

Sehen Sie als Theologe den Konsum als Bedrohung der christlichen Religion?

Józef Niewiadomski: Ich würde nicht von einer Bedrohung sprechen. Es erinnert mich grundsätzlich an die geschichtsphilosophische These von Walter Benjamin, der bereits zu Beginn der 20er Jahre einen Kurzaufsatz mit dem Titel „Kapitalismus als Religion“ geschrieben hat. Er weist darin darauf hin, dass der Kapitalismus eine religiöse Form hat und zwar ritueller Natur, aber ohne Inhalte. Und wenn die moderne Soziologie von der sozialen Funktion der Religion, nämlich der Normierung des menschlichen Handelns, spricht, kann man konstatieren, dass der Markt die Religion in diesem Kontext ersetzt hat. Als christlicher Theologe würde ich aber behaupten, dass das Fragwürdige an dem Wandel die Tatsache ist, dass Inhalte zweitrangig werden, darauf macht bereits Benjamin aufmerksam. Konsumenten verlieren ihre Identität, werden damit zu Opfern ihres Konsumverhaltens. Demgegenüber hat die jüdisch-christliche Tradition immer die unverzichtbare Rolle der Inhalte betont; nicht alle Inhalte sind austauschbar. Der Theologe spricht in diesem Zusammenhang die Gottesfrage an. Gott, als der letzte Wert sorgt gewissermaßen durch den Wandel hindurch für eine inhaltliche Kontinuität. Dieser Aspekt fehlt der Marktreligion.

Wenn man die letzten Jahre betrachtet, ist nicht nur eine Abnahme des Kirchgangs erkennbar, sondern auch die Zahl der Kirchenaustritte steigt rapide an. Wird Ihrer Meinung nach irgendwann der Zeitpunkt gegeben sein, an dem man sich wieder rückbesinnt und zur Religion zurückkehrt?

Niewiadomski: Das weiß ich nicht. Das, was ich beobachte, ist, dass es momentan beides gibt, einerseits eine Entfesselung des menschlichen Begehrens im Kontext des Marktgeschehens und andererseits ein Erkennen der Grenzen, an die der liberale Kapitalismus gestoßen ist. Es geht darum die entfesselten Kräfte, nicht nur des Marktes, sondern vielmehr des Begehrens zu bändigen. Der eigentliche Motor dahinter ist nämlich nicht die Ökonomie, sondern das menschliche Begehren, das letzten Endes unbegrenzt ist. Als Theologe spreche ich von einem tiefen und keine Grenzen kennenden Verlangen. Die Rolle der Religion war u. a. die Kultivierung dieses Begehrens. Ich erinnere an die Ethik – das letzte der zehn Gebote heißt: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut. Die Logik der Werbung ist die Umkehrung dessen, aber es ist ein Trugschluss, dass dies glücklich macht. Ich kann ein aufregendes Leben führen, solange ich konsumiere. Wenn der Konsum nicht mehr möglich ist, weil keine Ressourcen da sind oder ich nicht mehr konsumieren kann, ist die Existenz sinnlos. Auf die Frage des Scheiterns hat die Konsumreligion keine Antwort.

Anlassgegeben sprechen wir über Weihnachten. Ist der eigentliche Sinn des Festes im Hinblick auf den religiösen Inhalt für Sie aus theologischer Sich noch im kollektiven Bewusstsein verankert?

Niewiadomski: Auf den ersten Blick geht der Sinn immer mehr verloren, weil der Markt immer „brutaler“ wird. Als Theologe und als gläubiger Christ würde ich sagen, dass der tiefste Inhalt von Weihnachten nicht so pervertiert werden kann, dass er völlig verschwindet. Das Christentum hat eine religionsgeschichtliche Entwicklung auf den Punkt gebracht: Gott und Mensch – zwei Wirklichkeiten, die aufeinander bezogen, aber getrennt sind, finden zu Weihnachten zusammen, indem Gott Demut übt, zum Menschen wird und auf die Augenhöhe des Menschen herabsteigt. Weihnachten heißt für mich, auch nach einem Taumel an Weihnachtsmärkten, auf die Augenhöhe herabzusteigen, das heißt die Konsumindividuen betrachten sich auf Augenhöhe und entdecken, dass sie Menschen sind. Auf die Augenhöhe eines anderen Menschen steigen – das ist das Geheimnis von Weihnachten.

(Nina Hausmeister)