Apotheke Kräutergarten

Wenn das erste Kratzen im Hals beginnt, besinnen sich viele wieder auf Omas alte Hausmittel. Warum dieses über viele Generationen übermittelte Wissengroßes Potential für die Arzneistoffentwicklung birgt, erklärt die Pharmazeutin Judith Rollinger.
Alte Hausmittel sind vor allem in der Erkältungszeit hoch im Kurs.
Alte Hausmittel sind vor allem in der Erkältungszeit hoch im Kurs. (Foto: Fotolia.com)

Dass Naturstoffe wirken, ist für Judith Rollinger vom Institut für Pharmazie/Pharmakognosie der Uni Innsbruck unbestritten. „70 bis 80 Prozent der am Markt befindlichen Antibiotika basieren auf Naturstoffen und rund 50 Prozent aller Arzneistoffe insgesamt sind Naturstoffe oder leiten sich davon ab“, weiß die Pharmazeutin. „Pflanzen, aber auch Algen, Flechten und Pilze, biosynthetisieren zielgerichtet chemische Verbindungen, sogenannte Naturstoffe, um Fraßfeinde und Mikroorganismen abzuwehren oder um Signalwirkungen abzugeben. Dieses chemische Laboratorium der Natur ist evolutionär getrimmt und stellt eine unerschöpfliche Quelle an bioaktiven Substanzen dar. Die Natur stellt uns somit ein Repertoire an biosynthetisierten Verbindungen zur Verfügung, das für uns in der Suche nach neuen Leitstrukturen für die Arzneimittelentwicklung von unschätzbarem Wert ist.“

In ihrem vom Fonds für Wissenschaftliche Forschung geförderten Projekt will sie gemeinsam mit ihrem Team auf Basis der einheimischen, mediterranen und traditionellen chinesischen Volksmedizin antivirale Leitstrukturen identifizieren, die für die künftige Arzneistoffentwicklung gegen Grippe-Viren in Frage kommen. „Jedes Jahr müssen wir mit neuen Influenza-Virenstämmen rechnen, die sich pandemisch ausbreiten. Auch wenn die Grippeimpfung die erste Wahl im Kampf gegen die Viren ist, brauchen wir daneben antivirale Medikamente – zum einen, weil die Durchimpfungsrate zu gering ist und zum anderen, weil die Impfstoffe auch immer den aktuellen Virenstämmen etwas hinterher hinken. Die derzeit am Markt verfügbaren Medikamente gegen das Virus sind definitiv nicht ausreichend“, beschreibt sie die Ausgangsmotivation für ihr Forschungsprojekt.

Quelle Volksmedizin

Um passende Leitstrukturen gegen das Virus zu finden, durchforstete die Wissenschaftlerin historische Quellen der Volksmedizin. „Die schon 2000 Jahre alte Schrift De materia medica des Griechen Pedanios Dioscurides liefert beispielsweise eine Fülle von Informationen zu damals verwendeten Medizinalpflanzen und stellt damit eine ertragreiche Quelle für unsere Arbeit dar“, so Rollinger. Die Pharmazeutin betont aber, dass das volksmedizinische Wissen auch kritisch betrachtet werden muss. „Volksmedizinische Überlieferungen sind oft mythisch hinterlegt und es ist häufig unklar, welche Pflanzenart und welches Krankheitsbild genau gemeint sind. Vor 2000 Jahren gab es weder eine binäre Nomenklatur noch die heute üblichen diagnostischen Möglichkeiten.“

Dennoch weiß die Wissenschaftlerin die historischen Quellen zu schätzen: „Auch wenn vieles mit großer Vorsicht betrachtet werden muss, profitieren wir in unserer Forschungsarbeit von dieser jahrhundertelangen Empirie, die zugleich Hinweise auf Bioverfügbarkeit, Nutzen- und Risikoabwägung bietet. Vergiften wollten sich die Menschen mit diesen Heilpflanzen ganz gewiss nicht“, hält Rollinger fest.

Anhand dieser Quellenstudien konnten die WissenschaftlerInnen rund 50 Pflanzenarten auswählen, die bei Grippesymptomen volksmedizinisch verwendet wurden bzw. immer noch werden. Im Labor werden diese Naturstoffmaterialien analytisch und phytochemisch, sowie virologisch untersucht, um schließlich die potentiell antiviralen Inhaltsstoffe aus diesen Vielstoffgemischen zu isolieren. Dabei konzentriert sich das Team auf zwei arzneistoffrelevante Proteine des Virus - das Nukleoprotein und die Neuraminidase. „Während das Nukleoprotein für die Replikation und somit für die Virusvermehrung bedeutend ist, ist die Neuraminidase ein Oberflächenprotein des Grippevirus und verantwortlich dafür, dass die in der Wirtszelle neu gebildeten Viren freigesetzt werden und sich weiter verbreiten können“, erklärt die Pharmazeutin. Die Neuraminidase funktioniert - vereinfacht gesagt - wie eine Schere, die, wenn sie von einem passenden Arzneistoff blockiert wird, die Viren nicht mehr von der Wirtszelle abtrennen kann und somit die Ausbreitung im Körper des Infizierten unterbindet. Der im Zuge der vergangenen Grippewellen bekannt gewordene Wirkstoff Oseltamivir (Tamiflu®) funktioniert auf diese Weise. „Dieser Neuraminidase-Hemmstoff wirkt aufgrund von Resistenzentwicklung jedoch nur mehr eingeschränkt, weshalb ein dringender Bedarf an besseren, innovativen Grippemitteln besteht“, so Rollinger. Um eine Resistenzentwicklung zu vermeiden, könnte eine Eigenschaft der Influenza-Neuraminidase hilfreich sein, die aber zugleich auch eine Herausforderung in der Wirkstoffsuche darstellt: die Proteinflexibilität.

Flexibilität nutzen

Pharmazeuten sprechen bei der Bindung eines Wirkstoffes in der Bindetasche des Zielproteins häufig von einem Schlüssel-Schloss-Prinzip. „Wie bei vielen anderen Zielproteinen entspricht dieses Prinzip auch bei der Neuraminidase überhaupt nicht der Realität, da das Schloss flexibel ist – das heißt, dass der ‚geschmiedete‘ Schlüssel nur bedingt passt“, beschreibt Judith Rollinger das Problem. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe um Prof. Klaus Liedl vom Institut für Theoretische Chemie der Uni Innsbruck wird diese Proteinbeweglichkeit am Computer simuliert, um passende Wirkstoffe (‚Schlüssel‘) zu finden. „Auch wenn die Flexibilität der Neuraminidase die Wirkstoffsuche erschwert, kann sie, wenn passende Strukturen gefunden wurden, auch den Vorteil haben, dass sie dahingehend optimiert werden, dass sich weniger resistente Viren bilden können “, so die Pharmazeutin.

Wissenswert_Ingwer

Reinsubstanzen aus dieser Ingwerart haben sich als gute Neuraminidase-Hemmstoffe erwiesen. (Foto: Ulrike Grienke)

 

Einen erfolgsversprechenden Naturstoff, dessen Struktur hervorragend in die flexible Bindetasche der Neuraminidase des Grippe-Virus bindet, fand das Team um Judith Rollinger bereits vor drei Jahren: „Wir konnten aus einer Ingwerart, die in der traditionellen chinesischen Medizin schon lange bei Grippe-Symptomen eingesetzt wird, eine Reinsubstanz isolieren, die bei den virologischen Untersuchungen sehr gut abgeschnitten hat“, erklärt Rollinger. Die Tests werden in Kooperation mit der Virologin PD Dr. Michaela Schmidkte an der Universität Jena durchgeführt.

Die Leitstruktur der Ingwerart half den WissenschaftlerInnen dabei, durch einen Strukturabgleich weitere hochaktive Naturstoffe gegen die Influenza-Neuraminidase zu finden, deren antivirales Profil sehr optimistisch stimmt. Auch wenn diese Forschungsergebnisse ein großer Erfolg sind, weist Judith Rollinger darauf hin, dass der Weg bis zum fertigen Medikament noch lang ist: „Wir suchen Leitverbindungen, die als Neuraminidase-Inhibitoren sowie als Hemmer des Nukleoproteins in Frage kommen und versuchen, die molekularen Hintergründe zu verstehen; das ist Grundlagenforschung. Bis zum fertigen Arzneistoff sind noch sehr viele Schritte der Prüfung und Optimierung notwendig.“

Dieser Artikel ist in der Oktober-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version steht hier zur Verfügung (PDF).