Bruchstücke aus Südtirols Römervergangenheit

In Mals siedelten vor knapp 2000 Jahren Menschen mit römischen Lebensgewohnheiten.Sie profitierten von der nahegelegen Alpenstraße Via Claudia Augusta und besaßen gutes Geschirr aus südfranzösischen Töpferwerkstätten. Ein Forschungsteam der Uni Innsbruck unter der Leitung von Stephan Leitner vom Institut für Archäologien untersucht ihre Lebensbedingungen.
Terra Sigillata rekonstruiert
Wie die Bruchstücke der Terra Sigilata fügen Archäologen derzeit auch alle anderen Informationen, die eineGrabungskampagne in Mals zu Tage geführt hat, zusammen.

Wer in den ersten beiden Jahrhunderten nach Christus von Süden kommend in die römische Provinzhauptstadt Augusta Vindelicum (heute Augsburg) reiste, nahm die Via Claudia Augusta. In Nordtirol und Süddeutschland zeugen seit vielen Jahren Ausgrabungsstätten von einem lebendigen Treiben entlang dieser antiken Nord-Süd-Route. In Südtirol hingegen entdeckte man erst vor relativ kurzer Zeit Spuren aus der Römerzeit. 2009 stieß man im Zuge der Errichtung einer Bewässerungsanlage beim Paulihof in Mals auf jene Überreste antiker Gebäude, die ein Archäologen-Team unter der Leitung von Mag. Stephan Leitner vom Institut für Archäologien der Universität Innsbruck im heurigen Sommer genauer unter die Lupe nahm. „Wir haben Wohn- und Wirtschaftsgebäude freigelegt, die aus dem 1. Jahrhundert nach Christus stammen und vermutlich im 3. Jahrhundert wieder aufgelassen wurden“, berichtet Stephan Leitner.
Die Häuser, die ursprünglich ausschließlich aus Holz gebaut und in einer späteren Bauphase auf Steinfundamenten wieder errichtet wurden, liegen weniger als einen Kilometer von der Via Claudia Augusta entfernt. Dass ihre Bewohnerinnen und Bewohner romanisiert waren, Kontakt zu den Reisenden hatten und wahrscheinlich mit ihnen handelten, zeigt sich in ihren Gebrauchsgegenständen: Neben Specksteingefäßen bargen die Archäologen gut erhaltene Fibeln, einige Münzen und auffällig viele Bruchstücke römischen Tafelgeschirrs. Diese unter Experten als „Terra Sigillata“ bezeichneten Töpfereiwaren stammen großteils aus Werkstätten aus dem heutigen Südfrankreich und sind nach unserem Begriff mit edlem Porzellan vergleichbar.
„In der Frühzeit wurden im Tiroler und Südtiroler Alpenraum nur Gegenden romanisiert, die an Transitstraßen lagen. Die Einheimischen, die etwas abseits davon wohnten, waren für die Römer nicht von Interesse“, sagt Assoz.-Prof. Gerald Grabherr, Experte für provinzialrömische Archäologie und Leiter eines dreijährigen, von der autonomen Provinz Bozen-Südtirol geförderten Forschungsprojekts, das sich der Römerzeit im Oberen Vinschgau widmet. „Nach der Eroberung war es zunächst nur wichtig, die Pässe zu kontrollieren und durch den Straßenausbau die Anbindung der Provinz an den Rest des Reiches zu gewährleisten“, führt er weiter aus.

Reisende als Einnahmequelle?

Was die genaue Nutzungsweise der Wohn- und Wirtschaftsgebäude betrifft, geben sich die Archäologen noch vorsichtig: „Es gibt Indizien dafür, dass das in den Gebäuden Gäste untergebracht wurden“, berichtet Leitner. Sein Grabungsteam fand im Wirtschaftgebäude zwei nebeneinander liegende Backöfen. „Wenn diese zur gleichen Zeit bestanden, ist es wahrscheinlich, dass mehr Leute verköstigt wurden als nur die Hausbewohner“, verdeutlicht er. Ob man Gästen ihre Mahlzeiten in der roten „Terra Sigillata“ servierte oder doch selbst aus dem guten Geschirr aß, wollen die Archäologen aber noch nicht fix sagen. Eine weitere Grabungskampagne auf der benachbarten Wiese und die detaillierten Auswertungsergebnisse des Fundmaterials sollen im kommenden Jahr mehr Sicherheit in Hinblick auf die Wirtschaftsgrundlage der Siedlung bringen.
Die Wahl des Siedlungsplatzes spricht jedenfalls dafür, dass die Bewohner von der Via Claudia Augusta profitierten. „Die Nähe zur Straße brachte nicht nur Vor- sondern auch Nachteile. Es trieb sich natürlich jede Menge Gesindel dort herum. Nahe an der Straße zu leben, war auch damals nur sinnvoll, wenn man einen entscheidenden wirtschaftlichen Vorteil davon hatte. Außerdem gibt es rein topografisch gesehen in der Gegend weitaus günstigere Siedlungsplätze“, erläutert Gerald Grabherr. Er und Leitner glauben allerdings nicht, dass es sich bei den Gebäuden um die staatliche Straßenstation handelt. „Knapp zwei Kilometer weiter oberhalb gibt es eine weitere Siedlung, die nicht zuletzt aus topografischen Überlegungen heraus, mit größerer Wahrscheinlichkeit als staatliche Raststätte diente“, sagt Leitner.

Gräber aus dem Mittelalter

Im Zuge der Grabungskampagnen machte Stephan Leitners Grabungsteam eine weitere Entdeckung, die jedoch nicht aus der Römerzeit stammt: „Wir haben entlang der südlichen Grabungsgrenze vier Körpergräber entdeckt. Die Leichen wurden ohne Beigaben in relativ kurzen Abständen in West-Ost-Orientierung bestattet, das heißt sie stammen aus christlichen Zeiten“, erklärt er. Die exakte Datierung soll in Kürze helfen, den Gräberfund zu interpretieren: Die Gräber könnten zur nahe gelegenen Benediktkirche gehören, deren Errichtung in die Mitte des 8. Jahrhunderts datiert. Sind sie jedoch älter könnte es sich um einen Bestattungsplatz der Romanen handeln, die als Nachfahren der Römer in höheren Lagen siedelten, jedoch zum Bestatten ins Tal, in die Ruinen der Ahnen zurückkehrten. – Eine Phänomen, das im Alpenraum mehrfach belegt werden konnte. „Auch hier erwarten wir uns von den Grabungen im kommenden Sommer zusätzliche Erkenntnisse“, so Grabherr.

Via Claudia Augusta

Im Jahr 15 vor Christus unterwarfen zwei Stiefsöhne von Kaiser Augustus die noch nicht eroberten Gebieten in den Alpen und im nördlichen Alpenvorland. Zu ihrer Erschließung sollte eine Straße errichtet werden, die als Via Claudia Augusta erst unter Kaiser Claudius nach den Meilensteininschriften begradigt, ausgebaut und für Fuhrwerke befahrbar werden sollte. In den ersten beiden Jahrhunderten nach Christus war sie eine der wichtigsten Römerstraßen in der Provinz Raetien und verband Adria und Poebene mit dem Alpenvorland.

Dieser Artikel ist in der Dezember-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version steht unter folgendem Link zur Verfügung: wissenswert 5/2011